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Leo Trotzki 19230923 Kann man eine Konterrevolution oder eine Revolution auf einen bestimmten Zeitpunkt ansetzen?

Leo Trotzki: Kann man eine Konterrevolution oder eine Revolution auf einen bestimmten Zeitpunkt ansetzen?

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 3. Jahrgang Nr. 152 (26. September 1923), S. 1309 f.]

Natürlich kann man's nicht. Nur Züge gehen zu bestimmten Zeitpunkten ab, und auch nicht immer…“

Genauigkeit im Denken ist überall notwendig, um so mehr in Fragen der revolutionären Strategie. Da aber Revolutionen nicht besonders oft geschehen, so verfetten einstweilen die revolutionären Begriffe und Gedankengänge, die Umrisse werden verschwommen, die Fragen werden irgendwie aufgeworfen und irgendwie gelöst.

Mussolini hat seine „Revolution" (das heißt: Konterrevolution) an einem bestimmten Termin gemacht, der vorher öffentlich bekanntgegeben wurde. Dies gelang ihm deshalb, weil der Sozialismus die Revolution nicht vollbracht hatte, als die Zeit gekommen war. Die bulgarischen Faschisten haben ihre „Revolution" durch eine Militärverschwörung vollzogen, wobei das Datum genau angegeben und die Rollen verteilt waren. Ebenso der spanische Offiziersstreich. Konterrevolutionäre Umstürze werden fast immer nach diesem Vorbild vollzogen. Sie werden gewöhnlich auf einen Moment angesetzt, da die Enttäuschung der Massen an der Revolution oder Demokratie die Form von Gleichgültigkeit annimmt, und auf diese Weise das günstige politische Milieu für ein organisatorisch und technisch vorbereitetes und von vornherein für ein bestimmtes Datum festgesetztes Ausholen schafft. Es ist klar: eine für einen reaktionären Umschwung günstige politische Situation läßt sich nicht künstlich schaffen oder gar auf einen bestimmten Zeitpunkt festlegen. Wenn aber diese Situation mit ihren Grundelementen vorhanden ist, dann wählt die leitende Partei, wie wir sehen, von vornherein den günstigen Augenblick, passt dementsprechend die politischen, organisatorischen und technischen Kräfte an und – wenn man sich dabei nicht verrechnet hat – holt zum letzten siegreichen Schlage aus.

Die Bourgeoisie hat nicht immer Konterrevolutionen gemacht. In der Vergangenheit hat sie auch Revolutionen gemacht. Hat sie für diese Revolutionen ein Datum festgesetzt? Es wäre interessant und in mancherlei Hinsicht lehrreich, unter diesem Gesichtspunkt die Entwicklung sowohl der klassischen als auch der epigonenhaften bürgerlichen Revolutionen zu untersuchen (ein Thema für unsere jungen marxistischen Gelehrten!) aber auch ohne eine derartige detaillierte Analyse kann man folgende Grundelemente der Frage feststellen. Die besitzende und gebildete Bourgeoisie, d. h. nämlich jener Teil des „Volkes", der die Macht eroberte, hat die Revolution nicht gemacht, sondern hat gewartet, dass sie gemacht werde. Wenn die Bewegung der unteren Schichten den Kelch zum Überlaufen brachte und die alte Gesellschaftsordnung oder das alte politische Regime umstürzte, dann bekam die liberale Bourgeoisie fast automatisch die Macht in ihre Hände. Eine solche Revolution bezeichneten die liberalen Gelehrten als „natürliche", unvermeidliche Revolution; sie brachten unter dem Namen der historischen Gesetze große Gemeinplätze zustande: Revolution und Konterrevolution (seligen Angedenkens des Herren Karejew – Aktion und Reaktion) seien natürliche Produkte der historischen Entwicklung und können infolgedessen nicht kalendermäßig angesetzt werden, und dergl. mehr. Diese Gesetze haben noch niemals gehindert, gut vorbereitete konterrevolutionäre Umstürze zu vollziehen. Dafür aber dringt die Formlosigkeit des bürgerlichen liberalen Denkens mitunter auch in die Köpfe von Revolutionären ein, richtet dort große Verheerungen an und fügt praktischen Schaden zu …

Aber selbst bürgerliche Revolutionen haben sich lange nicht in allen ihren Etappen nach den „natürlichen" Gesetzen der liberalen Professuren entwickelt: als die kleinbürgerliche, plebejische Demokratie den Liberalismus stürzte, tat sie es durch Verschwörungen und durch vorbereitete Aufstände, die von vornherein für einen bestimmten Zeitpunkt festgesetzt waren. Das taten die Jakobiner – der extrem-linke Flügel der französischen Revolution. Dies ist durchaus begreiflich. Die liberale Bourgeoisie (die französische im Jahre 1789, die russische im Februar 1917) begnügt sich damit, dass sie eine mächtige elementar vor sich gehende Bewegung abwartet, um im letzten Moment ihren Reichtum, ihre Bildung und ihre Verbindungen mit dem Staatsapparat in die Waagschale zu werfen und sich auf diese Weise des Ruders zu bemächtigen. Die kleinbürgerliche Demokratie muss, unter sonst ähnlichen Bedingungen, anders vorgehen: sie verfügt weder über Reichtum, noch über gesellschaftlichen Einfluss oder Verbindungen. Sie sieht sich gezwungen, an deren Stelle einen genau durchdachten und sorgfältig vorbereiteten Plan des revolutionären Umsturzes zu setzen. Ein Plan setzt aber eini bestimmte Zeitorganisierung und folglich auch Terminsetzun voraus.

Dies bezieht sich um so mehr auf die proletarische Revolution. Die Kommunistische Partei kann nicht gegenüber der wachsenden revolutionären Bewegung des Proletariats eine abwartende Haltung einnehmen. Das ist eigentlich die Stellungnahme des Menschewismus: Die Revolution hemmen, solange sie sich entwickelt, ihre Erfolge ausnutzen, wenn sie halbwegs siegreich ist, und alles anwenden, um sie aufzuhalten. Die Kommunistische Partei kann die Macht ergreifen nicht, indem sie die revolutionäre Bewegung abseits stehend ausnutzt, sondern infolge einer direkten und unmittelbaren politischen, organisatorischen und militärisch-technischen Führung der revolutionären Massen, sowohl in der Periode der langwierigen Vorbereitung, als auch im Moment des entscheidenden Umsturzes selbst. Eben deshalb kann die Kommunistische Partei absolut nichts anfangen mit einem liberalen Gesetz, wonach die Revolutionen geschehen, nicht aber gemacht werden und folglich auch nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt festgesetzt werden können. Vom Standpunkt des Beobachters ist dies richtig; vom Standpunkt des Leiters aber – ein Gemeinplatz und eine Banalität.

Stellen wir uns ein Land vor, in dem die politischen Bedingungen der proletarischen Revolution entweder endgültig reif geworden sind oder offenkundig, deutlich mit jedem Tage heranreifen. Wie wird sich unter solchen Umständen die Kommunistische Partei zu der Frage des Aufstandes und dessen kalendermäßigen Festsetzung verhalten?

Wenn das Land eine außerordentlich tiefe soziale Krise durchmacht, die Gegensätze bis zum Äußersten zugespitzt sind, die werktätigen Massen sich im Zustand eines ununterbrochenen Brodelns befinden, wenn hinter der Partei eine offenkundige und sichere Majorität der Werktätigen und somit alle aktivsten, klassenbewussten und selbstlosen Elemente des Proletariats stehen, so hat die Partei die Aufgabe und kann keine andere Aufgabe haben, als einen möglichst nahen Zeitpunkt festzusetzen, d h. einen Zeitpunkt, bis zu dem die günstige revolutionäre Situation sich nicht krass gegen uns wenden könnte, dann die Hauptkräfte auf die Vorbereitung des letzten Kampfes konzentrieren und die gesamte laufende Politik und Organisation in den Dienst des militärischen Zieles stellen, um durch eine Konzentration der Kräfte den Schlag zu wagen.

Damit wir es nicht mit einem abstrakten Lande zu tun haben, wenden wir uns unserer russischen Oktoberrevolution zu. Das Land befand sich im Zustand der größten Krise, sowohl national, wie international. Der Staatsapparat war lahmgelegt. Die Werktätigen strömten immer mehr unserer Partei zu, Seit dem Moment, da sich im Petrograder und darauf auch im Moskauer Sowjet eine bolschewistische Majorität gebildet hatte, stand die Partei vor der Frage – nicht das Kampfes um die Macht im Allgemeinen, sondern der Vorbereitung der Machtergreifung nach einem bestimmten Plan zu einer bestimmten Frist. Das festgelegte Datum war bekanntlich der Tag, an dem der Allrussische Sowjetkongress stattfinden sollte. Ein Teil der Mitglieder des ZK meinte, man müsste den Moment des Aufmarsches auf den politischen Moment des Sowjetkongresses stellen. Andere Mitglieder des ZK fürchteten, die Bourgeoisie würde bis dahin sich vorbereiten und den Kongress auseinanderjagen können; sie forderten die Verlegung des Kongresses auf einen früheren Termin. Der Beschluss des Zentralkomitees setzte den bewaffneten Aufstand spätestens auf den 15. Oktober fest. Dieser Beschluss wurde mit einer gewissen Verspätung um zehn Tage erfüllt, da der Gang der agitatorischen und organisatorischen Vorbereitung bestätigte, dass man durch einen Aufstand, unabhängig vom Sowjetkongress, unter bedeutenden Schichten der Arbeiterklasse ein Missverständnis gesät hätte, weil diese den Gedanken der Machtergreifung an die Sowjets und nicht an die Partei und ihre Geheimorganisationen knüpfte. Andererseits war es vollkommen klar geworden, dass die Bourgeoisie schon zu sehr demoralisiert war, um in zwei, drei Wochen einen ernsthaften Widerstand vorbereiten zu können.

Die militärische Frage erhob sich also vor uns in ihrer nackten kalendermäßigen Gestalt, nachdem die Partei in den leitenden Sowjets die Majorität erobert und sich dadurch die politischen Grundvorbedingungen zur Machtergreifung gesichert hatte. Bevor diese Majorität da war, konnte der organisatorisch-technische Plan natürlich nicht anders als mehr oder weniger bedingt und elastisch sein. Die Gradmesser unseres revolutionären Einflusses waren für uns die Sowjets, die zu Beginn der Revolution von den Menschewiki und den Sozialrevolutionären ins Leben gerufen waren. Die Sowjets gaben den politischen Deckmantel für unsere verschwörerische, konspirative Arbeit ab, sie waren dann auch Organe der Regierung nach der faktischen Machtergreifung.

Wie wäre unsere Strategie gewesen, wenn es keine Sowjets gegeben hätte? Offenbar hätten wir uns dann vor allem anderen Gradmessern unseres revolutionären Einflusses zuwenden müssen: den Gewerkschaften, Streiks, Straßendemonstrationen, allerhand demokratischen Wahlen usw. Obwohl die Sowjets in einer revolutionären Epoche den sichersten Gradmesser der tatsächlichsten Aktivität der Massen darstellen, so hätten wir auch ohne Vorhandensein von Sowjets vollauf die Möglichkeit gehabt, uns zu überzeugen, in welchem Moment hinter uns die faktische Majorität der Arbeiterklasse und der Werktätigen überhaupt steht. Natürlich hätten wir an diesem Moment die Parole der Bildung von Sowjets in die Massen werfen müssen. Aber dadurch hätten wir die ganze Frage bereits auf die Ebene des militärischen Zusammenstoßes übertragen; folglich hätten wir, wenn wir die Parole der Schaffung von Sowjets ausgaben, bereits einen genau durchdachten Plan des bewaffneten Aufstandes an einem bestimmten Termin haben müssen.

Wäre die Majorität der Werktätigen für uns, oder wenigstens in den entscheidenden Zentren und Gegenden, so wäre dadurch die Bildung von Sowjets auf unseren Appell hin gesichert. Die rückständigeren Städte und Provinzen wären mit mehr oder weniger Verspätung den leitenden Zentren gefolgt. Wir hätten es dann mit der politischen Aufgabe zu tun, einen Sowjetkongress festzusetzen und diesem Kongress die Übernahme der Macht militärisch zu sichern. Es ist klar, dass dies nur zwei Seiten einer und derselben Aufgabe sind.

Stellen wir uns nun vor, dass unser Zentralkomitee in der obengenannten Situation, d. h. bei Nichtvorhandensein von Sowjets, zu einer entscheidenden Sitzung zusammengetreten wäre in der Periode, da die Massen bereits elementar in Bewegung geraten sind, uns aber noch eine deutliche und überwiegende Mehrheit noch nicht gesichert hatten. Wie hätten wir dann unseren weiteren Aktionsplan aufgebaut? Hätten wir einen Termin für den Aufstand festgesetzt?

Die Antwort ergibt sich aus allem Vorhergesagten. Wir hätten uns gesagt: Momentan haben wir noch keine ausgeprägte und bedingungslose Mehrheit. Der Umschwung in den Massen ist aber so groß, dass die für uns notwendige entschiedene und kampffähige Majorität bloß eine Sache der kommenden Wochen ist. Angenommen, für die Eroberung der Majorität der Arbeiter in Petrograd, in Moskau, in den Donezbecken brauchen wir etwa einen Monat; stellen wir uns diese Aufgabe und konzentrieren wir in diesen Zentren die notwendigen Kräfte. Sobald die Majorität erobert sein wird – dies würden wir nach einem Monat überprüfen – werden wir die Werktätigen zur Bildung von Sowjets aufrufen. Das wird für Petrograd, Moskau, das Donezbecken höchstens ein, zwei Wochen in Anspruch nehmen; man kann mit Bestimmtheit darauf rechnen, dass die übrigen Städte und Provinzen in den nächsten zwei, drei Wochen dem Beispiel der Zentrale folgen werden. Auf diese Weise muss man für den Ausbau eines Netzes von Sowjets ungefähr einen Monat verwenden. Nachdem in den Hauptgebieten Sowjets bestehen werden, in dem wir natürlich die Majorität haben werden, rufen wir sie zu einem Allrussischen Sowjetkongress auf. Um den Kongress zustande zu bringen, braucht man noch 14 Tage, so haben wir bis zum Kongress zweieinhalb Monate zur Verfügung. Im Laufe dieser Zeit muss die Machteroberung nicht nur vorbereitet, sondern auch verwirklicht sein.

Dementsprechend hätten wir unserer Militärorganisation ein Programm verliehen, dass auf zwei, höchstens zweieinhalb Monate zur Vorbereitung des Aufstandes in Petrograd, in Moskau, an den Eisenbahnlinien usw. berechnet ist. Ich spreche im Konditionalfalle (hätten gemacht, hätten bestimmt), denn in Wirklichkeit haben wir zwar nicht schlecht operiert, aber keineswegs mit einer solchen Planmäßigkeit, und zwar nicht, weil uns etwa die „historischen Gesetze" gestört hätten, sondern weil wir einen proletarischen Aufstand zum ersten Mal vollbrachten.

Aber kann man sich bei einer solchen Methode nicht dennoch verrechnen? Machteroberung bedeutet Krieg, und im Kriege können Siege und Niederlagen sein. Doch der Weg, den wir schematisch schildern, führt am richtigsten, am direktesten zum Ziel, d. h. steigert am höchsten die Aussichten des Sieges. In der Tat, wenn es sich einen Monat nach der von uns geschilderten Sitzung des ZK herausgestellt hätte, dass wir die Majorität der Werktätigen noch nicht haben, so hätten wir natürlich die Parole Bildung von Sowjets nicht ausgegeben, denn diese Parole würde dann in der Luft hängen (in unserem Beispiel wird vorausgesetzt, dass die Sozialrevolutionäre und! Menschewiki gegen die Sowjets sind). Umgekehrt, wenn eine entschiedene kampffähige Majorität schon nach 14 Tagen hinter uns gestanden wäre, so hätte es unseren Plan abgekürzt und den entscheidenden Moment des Aufstandes näher gerückt. Dasselbe bezieht sich auch auf die zweite und dritte Etappe des Planes: die Bildung der Sowjets und die Einberufung des Sowjetkongresses. Wir hätten die Parole des Sowjetkongresses nicht ausgegeben, bis wir, wie gesagt, eine tatsächliche Entstehung von Sowjets in den wichtigsten Punkten gesichert hätten. Auf diese Weise wird die Realität jeder Etappe in unserem Plan vorbereitet und gesichert durch die Realisierung der vorhergehenden Etappen des Planes. Die militärische Vorbereitungsarbeit geht parallel mit der strengsten kalendermäßigen Ausführung. Dabei, hält die Partei gebieterisch ihren Militärapparat in der Hand! Gewiss, in der Revolution gibt es stets viel Unerwartetes, Unvorhergesehenes, Elementares; natürlich müssen wir mit all diesen „Zufälligkeiten" rechnen und uns an sie anpassen, aber, wir werden dies mit um so größerem Erfolge und um so größerer Sicherheit tun, je sorgfältiger der Plan unserer Verschwörung ausgearbeitet sein wird.

Die Revolution besitzt eine mächtige Kraft der Improvisation, aber sie improvisiert nie etwas Gutes für Fatalisten, Schlafmützen und Dummköpfe. Zum Siege gehört eine richtige politische Einstellung, Organisation und der Wille zum entscheidenden Schlag.

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