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Leo Trotzki 19231200 Tradition und revolutionäre Politik

Leo Trotzki: Tradition und revolutionäre Politik

[Nach Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-28. Band I, Westberlin 1976, S 381-391.]

Die Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis zwischen der Parteitradition und der lebendigen Parteipolitik ist besonders in unserer Epoche nicht einfach zu beantworten. Wir mussten in letzter Zeit häufig vor der ungeheuren Bedeutung sprechen, die die theoretische und praktische Tradition unserer Partei besitzt, und wir sagten, dass wir auf keinen Fall einen Riss in der ideologischen Kontinuität zulassen können. Man muss sich aber darüber völlig im Klaren sein, was wir unter Parteitradition verstehen. Man muss deshalb mit historischen Beispielen anfangen – Beispielen dafür, wie es nicht sein soll – um daraus dann Schlussfolgerungen ziehen zu können.

Nehmen wir die „klassische" Partei der Zweiten Internationale, die deutsche Sozialdemokratie. Ihre „traditionelle" Politik beruhte ein halbes Jahrhundert lang auf der Anpassung an den Parlamentarismus und dem ununterbrochenen Anwachsen der Organisation, ihrer Presse und ihrer Kasse. Hier hatte die Tradition, die uns vollkommen fremd ist, einen halbautomatischen Charakter: der heutige Tag ergab sich „natürlich" aus dem gestrigen und dieser wiederum bereitete auf ganz „natürliche" Weise den nächsten vor. Die Organisation wuchs, die Presse entwickelte sich und die Kassen füllten sich. In diesem Automatismus wurde die ganze auf Bebel folgende Generation erzogen – eine Generation von Bürokraten, Philistern und Schwachköpfen, deren politischer Geisteszustand in den ersten Stunden des imperialistischen Krieges klar zu Tage trat. Auf jedem Kongress der deutschen Sozialdemokratie wurde unvermeidlich von der alten, durch Tradition geheiligten Taktik dieser Partei gesprochen, und diese Tradition war tatsächlich mächtig. Es handelte sich um eine automatische, unkritische, konservative Tradition, die letzten Endes den revolutionären Willen der Partei erstickte.

Infolge des Krieges wurde das politische Leben Deutschlands für immer aus dem gewohnten „traditionellen" Gleichgewicht gebracht. Die junge kommunistische Partei trat seit den ersten Tagen ihrer offiziellen Existenz in eine stürmische Epoche sich schnell ablösender Krisen und Umwälzungen ein. Dennoch kann man in der relativ kurzen Geschichte der deutschen kommunistischen Partei nicht nur die schöpferische, sondern auch die konservative Rolle der Tradition sehen, die in jeder neuen Etappe und bei jedem Umschwung mit den objektiven Bedürfnissen der Bewegung und dem kritischen Bewusstsein der Partei zusammenstößt. Gleich von Anfang an wurde der unmittelbare Kampf um die Macht eine heroische Tradition des deutschen Kommunismus. Die schrecklichen Ereignisse vom März 1921 zeigten deutlich, dass der Partei die Kräfte hierzu noch fehlten. Eine scharfe Wendung wurde notwendig – man musste den Kampf um die Massen aufnehmen, bevor man sich von neuem direkt dem Kampf um die Macht widmen konnte. Diese Wendung war schwierig, da sie sich gegen die bereits gefestigte Tradition richtete. Bei uns erinnert man sich heute an alle, auch die geringfügigsten Meinungsverschiedenheiten, die in den letzten Jahren in der Partei oder ihrem Zentralkomitee auftauchten. Es würde aber auch nichts schaden, sich an die fundamentalen Meinungsverschiedenheiten zu erinnern, die auf dem III. Kongress der Komintern ausbrachen. Heute ist es vollkommen klar, dass die Wendung, die damals unter der Führung des Genossen Lenin vollzogen wurde, (und zwar gegen den hartnäckigen Widerstand eines bedeutenden Teils, zu Anfang sogar der Mehrheit des Kongresses,) die Internationale buchstäblich vor der Zerstörung und Spaltung gerettet hat, die ihr durch das automatische und unkritische Linksabweichlertum drohte, das bereits in kurzer Zeit zu einer festgefahrenen Tradition geworden war. Nach dem III. Kongress nimmt die deutsche Kommunistische Partei auf recht schmerzvolle Weise die notwendige Wendung vor. Es beginnt die Epoche des Kampfes um die Massen unter der Losung der Einheitsfront, mit langen Debatten und anderen pädagogischen Maßnahmen. Diese Taktik dauert zwei Jahre und erzielt ausgezeichnete Ergebnisse. Aber zugleich verwandeln sich diese langwierigen Propagandamethoden in ... eine halbautomatische Tradition, die eine sehr ernstzunehmende Rolle in den Ereignisse vom Herbst 1923 gespielt hat.

Heute ist es ganz unbestreitbar, dass die Periode von Mai – Beginn des Ruhraufstandes – oder Juli – Niederschlagung dieses Aufstands – bis zum November, als General Seeckt an die Macht kam, im Leben Deutschlands eine Periode darstellt, die durch eine nie dagewesene Krise gekennzeichnet wird. Der Widerstand, den das halb-erwürgte, republikanische Deutschland eines Ebert und Cuno dem französischen Militarismus entgegen zu stellen versuchte, misslang und riss das erbärmlich schwache politische und soziale Gleichgewicht des Landes mit sich. Die Ruhrkatastrophe spielte für das „demokratische" Deutschland in gewisser Weise dieselbe Rolle, die die Niederlage der deutschen Truppen fünf Jahre zuvor für die Herrschaft der Hohenzollern gespielt hatte. Eine unglaubliche Entwertung der Mark, wirtschaftliches Chaos, allgemeine Unruhe, allgemeine Unsicherheit, Zerfall der Sozialdemokratie, mächtiger Zustrom von Arbeitern zu den Kommunisten, allgemeine Erwartung eines Umsturzes. Hätte die Kommunistische Partei das Tempo ihrer Arbeit krass verändert, und die fünf bis sechs Monate, die ihr von der Geschichte zur Verfügung gestellt wurden, voll und ganz zur direkten politischen, organisatorischen und technischen Vorbereitung auf die Machtergreifung verwandt, so hätten die Ereignisse vielleicht ein anderes Ende genommen, als wir es im November erlebt haben. Tatsächlich verhielt es sich aber so, dass die Kommunistische Partei in die neue kurze Periode einer Krise, wie die Weltgeschichte sie noch nicht kannte, mit den Methoden eintrat, die sie in den letzten zwei Jahren entwickelt hatte, in der Periode des Kampfes um Einfluss auf die Massen. Damals war eine Neuorientierung notwendig, eine neue Agitationsweise, ein neuer Zugang zu den Massen, eine neue Interpretation und Anwendung der Einheitsfront, neue Methoden in Organisation und technischer Vorbereitung, – kurz eine jähe taktische Wendung. Das Proletariat musste eine revolutionäre Partei in Aktion sehen, die zur direkten Machtergreifung marschiert. Statt dessen setzte die Partei im Wesentlichen ihre frühere Propagandapolitik fort, nur in größerem Umfang. Erst im Oktober schlägt sie einen neuen Kurs ein. Aber ihr bleibt zu wenig Zeit, um ihre Schlagkraft zu entwickeln. Die Vorbereitungen der Partei nehmen ein fieberhaftes Tempo an, die Massen können nicht folgen, Unsicherheit breitet sich auf beiden Seiten aus, und im entscheidenden Augenblick zieht sich die Partei kampflos zurück. Die wichtigste Ursache dafür, dass die deutsche Kommunistische Partei ganz außergewöhnliche historische Positionen widerstandslos aufgab, besteht darin, dass die Partei nicht im Stande war, in dem neuen Abschnitt (Mai – Juli 1923) den Automatismus ihrer früheren Politik, die auf Jahre berechnet war, abzustreifen und – in der Agitation, Aktion, Organisation und Technik – mit aller Entschiedenheit die Frage der Machtergreifung zu stellen. Die Zeit ist ein wichtiges Element in der Politik, vor allem in einer revolutionären Epoche. Um verlorene Monate einzuholen braucht man manchmal Jahre und Jahrzehnte. So wäre es auch bei uns gewesen, wenn unsere Partei nicht seit April 1917 die notwendige Schlagkraft entwickelt und im Oktober die Macht ergriffen hätte. Wir haben allen Grund anzunehmen, dass das deutsche Proletariat für sein Versäumnis nicht allzu teuer wird zahlen müssen, da die Stabilität des augenblicklichen Regimes in Deutschland – besonders angesichts der internationalen Lage – mehr als zweifelhaft erscheint. Es ist ohne weiteres klar, dass die Tradition als konservatives Element, als automatischer Druck der Vergangenheit auf die Gegenwart eine außerordentlich bedeutende Kraft im Dienst konservativer Parteien darstellt und revolutionären Parteien gegenüber tief feindlich eingestellt ist. Denn deren Kraft beruht ja gerade darauf, dass sie frei von konservativem Traditionalismus sind. Bedeutet das, dass sie überhaupt keine Traditionen haben? Keineswegs. Aber die Tradition einer revolutionären Partei ist von ganz anderer Art. Wenn wir nun unsere Partei mit ihrer Vergangenheit vor und seit der Revolution betrachten, so erkennt man, dass ihre bedeutendste und wertvollste taktische Eigenschaft in ihrer unübertroffenen Fähigkeit besteht, sich schnell zu orientieren und ihre Taktik scharf zu ändern, umzurüsten, neue Methoden anzuwenden, mit einem Wort, plötzliche Wendungen in der Politik vorzunehmen. Die stürmische geschichtliche Lage machte eine derartige Taktik notwendig. Das Genie Lenins gab ihr die Gestalt höchster Meisterschaft. Das bedeutet natürlich nicht, dass unsere Partei vollkommen von konservativen Traditionen frei gewesen sei. Eine derartig ideale Freiheit kann eine Massenpartei nicht besitzen. Aber die Stärke und Kraft der Partei zeigte sich darin, dass die Trägheit, der Traditionalismus und die Routine durch eine weitblickende, tief revolutionäre taktische Initiative, die zugleich kühn und realistisch war, auf ein Minimum beschränkt wurde. Gerade darin besteht die wirkliche Tradition der Partei, und darin muss sie auch bestehen. Der Leninismus ist ohne theoretische Kenntnisse und ohne eine kritische Analyse der materiellen Grundlagen des politischen Prozesses überhaupt undenkbar. Die Waffe der marxistischen Untersuchung muss ständig geschliffen und benutzt werden. Darin gerade besteht die Tradition und nicht darin, dass man die Analyse durch formale Auskünfte und zufällige Zitate ersetzt. Mit ideologischer Oberflächlichkeit und theoretischer Unsauberkeit lässt sich der Leninismus nicht vereinen.

Man kann Lenin nicht mit der Schere in Zitate zerschneiden, die auf alle Lebenssituationen passen, denn für Lenin steht eine Formel niemals über der Wirklichkeit, sondern sie bleibt stets ein Werkzeug, ein Instrument, mit dem die Wirklichkeit beherrscht und verändert werden kann. Sicherlich könnte man ohne Schwierigkeiten Dutzende und Hunderte von Zitaten bei Lenin finden, die sich rein formal gesehen zu widersprechen scheinen. Aber das Wesentlich ist nicht die formale Beziehung eines Zitats zum anderen, sondern die tatsächliche Beziehung zwischen jedem Zitat und der konkreten Wirklichkeit, in die diese Formel wie ein Hebel hineingeschoben wurde. Die Leninsche Wahrheit ist immer konkret. Der Leninismus als System revolutionärer Aktion verlangt ein durch Nachdenken und Erfahrung geschärftes Einfühlungsvermögen, das auf gesellschaftlichem Gebiet dasselbe ist, wie die Anpassung der Muskeln an körperliche Arbeit. Man darf aber revolutionäres Einfühlungsvermögen nicht mit demagogischen Spürsinn verwechseln. Dieser kann zwar vorübergehende und sogar recht wirksame Erfolge erzielen, aber er ist ein politischer Instinkt niederster Art. Er wird stets den Weg des geringsten Widerstands einschlagen. Während der Leninismus sich bemüht, die fundamentalen revolutionären Aufgaben zu stellen und zu lösen und die Hauptschwierigkeiten zu überwinden, besteht seine demagogische Fälschung in der Bemühung, die Aufgaben zu umgehen, eine verlogene Beruhigung herbeizuführen und das kritische Denken künstlich einzuschläfern.

Der Leninismus ist vor allem Realismus, höchstes qualitatives und quantitatives Registrieren der Wirklichkeit aus dem Blickwinkel der revolutionären Aktion. Und eben aus diesem Grund ist der Leninismus nicht mit der Flucht aus der Wirklichkeit vereinbar, die durch hohle Agitation bemäntelt wird, und auch nicht mit der hochmütigen Rechtfertigung früherer Fehler unter dem Vorwand, dass man so die Parteitradition rette.

Leninismus bedeutet eine wirkliche Unabhängigkeit von formalen Vorurteilen, von moralisierenden Dogmatismus, und überhaupt von jederlei geistigem Konservativismus, der den Willen zur revolutionären Aktion einengen will. Es wäre aber ein verhängnisvoller Fehler anzunehmen, Leninismus bedeute: ,,Alles ist erlaubt". Der Leninismus besitzt zwar keine formale Moral, dafür aber die wirkliche, revolutionäre Moral der Massenaktion und der Massenpartei. Nichts ist dem Leninismus so fremd, wie Funktionärshochmut und bürokratischer Zynismus. Eine Massenpartei hat ihre eigene Moral, die in der Verbindung der Kämpfer in der Aktion und für die Aktion besteht. Die Demagogie ist mit dem Geist einer proletarischen Partei schon deshalb unvereinbar, weil sie verlogen ist: Indem sie in diesem oder jenem Fall eine simplifizierte Lösung der augenblicklichen Schwierigkeiten anbietet, untergräbt sie unvermeidlich die Zukunft und schwächt das Selbstvertrauen der Partei. Die Demagogie ist leichtsinnig und wird angesichts ernster Gefahren zur Panikmacherei. Panikmacherei und Leninismus – das sind zwei Dinge, die sich auf dem Papier nur schwer neben einander stellen lassen. Der Leninismus ist kriegerisch von Kopf bis Fuß. Nun ist Krieg aber ohne List, Seitenwege und Täuschung des Feinds undenkbar. Die siegreiche Kriegslist ist ein wesentliches Element der leninistischen Politik. Gleichzeitig ist der Leninismus aber die höchste Ehrlichkeit gegenüber Parteimitgliedern und der Klasse. Da gibt es keine Fiktionen, keine Luftschlösser und keine eingebildete Größe! Der Leninismus ist orthodox, hartnäckig und unbeugsam, aber er weist keine Spur von Formalismus, Kanon und Bürokratismus auf. Im Kampf packt er den Stier bei den Hörnern. Wenn man nun aus der Tradition des Leninismus eine super-theoretische Garantie für die Unanfechtbarkeit und Unabänderlichkeit aller Gedanken und Reden derer machen will, die die Tradition auslegen, so verhöhnt man die wirklich revolutionäre Tradition und verwandelt sie in eine Schablone. Es ist ein lächerlicher und erbärmlicher Versuch, eine große revolutionäre Partei dadurch hypnotisieren zu wollen, dass man ein und dieselben Beschwörungen wiederholt, kraft derer man die richtige Linie nicht im Wesen jeder Frage und nicht in den Methoden suchen muss, mit denen man diese Fragen stellt und löst, sondern in ... biographischen Einzelheiten.

Was mich selbst betrifft, so will ich nur kurz sagen: Ich halte den Weg, auf dem ich zum Leninismus gelangte, für genauso zuverlässig und sicher, wie andere Wege. Ich kam nach harten Auseinandersetzungen zu Lenin, aber dafür voll und ganz. Außer meinen Handlungen im Dienste der Partei kann ich niemanden weitere Garantien geben. Und wenn man die Frage schon auf dem Gebiet der biographischen Untersuchungen stellt, soll man sie ordentlich stellen. Dann müsste man schwierige Fragen beantworten: Hat sich jeder, der dem Lehrer in kleinen Dingen treu blieb, auch in großen als treu erwiesen? Können alle, die sich in Gegenwart des Lehrers gehorsam gezeigt haben, garantieren, sein Werk in seiner Abwesenheit fortzusetzen? Erschöpft sich der Leninismus im Gehorsam? Ich habe keineswegs die Absicht, diese Fragen am Beispiel einzelner Genossen genauer zu untersuchen, mit denen ich, was mich betrifft, auch weiterhin Hand in Hand zu arbeiten gedenke.

Welches auch immer die künftigen Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten sein werden, sie können nur durch die kollektive Gedankenarbeit der Partei besiegt werden, die sich dadurch jedes Mal von Neuem bestätigt und damit eine kontinuierliche Entwicklung gewährleistet. Mit diesem Charakter der revolutionären Tradition hängt der besondere Charakter der revolutionären Disziplin zusammen. Eine mehr oder weniger starke Bürokratisierung des Parteiapparates begleitet unvermeidlich die Entwicklung des konservativen Traditionalismus mit all seinen Folgen. Diese Gefahr sollte man besser übertreiben, als geringschätzen. Die unbestreitbare Tatsache, dass die konservativsten Elemente des Apparats dazu neigen, ihre ganzen Ansichten, Beschlüsse, Methoden und Fehler mit dem „alten Bolschewismus" zu identifizieren, und dass sie versuchen, die Kritik an der bürokratischen Engstirnigkeit des Apparats mit der Vernichtung der Tradition gleichzusetzen, – diese Tatsache ist schon an sich der Ausdruck einer bestimmten ideologischen Verknöcherung.

Der Marxismus ist eine Methode der historischen Analyse, der politischen Orientierung, und nicht die Gesamtheit von Beschlüssen, die auf Vorrat hergestellt wurden. Der Leninismus ist die Anwendung dieser Methode unter den Voraussetzungen einer speziellen historischen Epoche. Gerade durch diese Vereinigung der Methode mit den Besonderheiten einer Epoche zeichnet sich die mutige, reife, auf sich selbst vertrauende Politik scharfer Wendungen aus, von der Lenin uns das vollkommenste Bild gab und die er häufig theoretisch geklärt und verallgemeinert hat. Marx sagte, dass die fortschrittlichen Länder den zurückgebliebenen in gewissem Grade das Bild ihrer eigenen Zukunft zeigen. Aus dieser bedingten Behauptung hat man versucht, ein absolutes Gesetz zu machen, das dann im Wesentlichen der „Philosophie" des russischen Menschewismus zu Grunde gelegt wurde. Aus dem selben Grunde setzte man dem Proletariat Grenzen, die sich nicht aus dem Gang des revolutionären Kampfes ergaben, sondern aus einem mechanischen Schema, und der menschewistische „Marxismus" war und bleibt der an eine zu spät gekommene „Demokratie" angepasste Ausdruck für die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft. Tatsächlich war es so, dass Russland, das in seiner Wirtschaft und Politik krass entgegengesetzte Erscheinungen vereinigte, als erstes Land den Weg der proletarischen Revolution betrat. Weder der Oktober, noch Brest-Litowsk, noch die Pflicht der Getreideablieferung, noch die Errichtung einer regulären Arbeiter- und Bauernarmee, noch die NEP, noch GOSPLAN wurden vom Marxismus oder dem vorrevolutionären Bolschewismus vorhergesehen und im Voraus beschlossen und konnten das auch gar nicht werden. All diese Tatsachen und Wendungen erwuchsen aus einer selbständigen, aktiven und kritischen Anwendung der Methoden des Bolschewismus auf eine jeweils neue Situation. Stets wurden diese Beschlüsse nicht sofort, sondern erst nach einem Kampf angenommen. Die bloße Berufung auf die Tradition entschied nichts und gab nichts. Denn bei jeder neuen Aufgabe, bei jeder neuen Wendung geht es überhaupt nicht darum, in der Tradition eine Antwort zu suchen und zu finden, obgleich es dort keine gibt, sondern darum, auf Grund der gesamten Parteierfahrung eine selbständige, der Situation angemessene Lösung zu finden, und gerade dadurch auch die Tradition zu bereichern. Man kann sogar sagen, dass der Leninismus darin besteht, dass er völlig unabhängig von konservativen Rückblicken ist, und nicht durch Präzedenzfälle, formale Vergleiche und Zitate gebunden wird. Vor nicht allzu langer Zeit hat Lenin diesen Gedanken selbst mit den Worten Napoleons ausgedrückt: on s'engage et puis on voit, d.h. befindet man sich im Kampf, wild man sich nicht nach Regeln und Präzedenzfällen richten, sondern sich in die Wirklichkeit stürzen, wie sie ist, und dort die Kräfte und Wege suchen, die zum Sieg führen. Eben wegen dieser Linie wurde Lenin nicht nur einmal, sondern Dutzende von Malen innerhalb der eigenen Partei beschuldigt, die Tradition zu verletzen und den „alten Bolschewismus" abzulehnen. Erinnern wir uns daran, dass die Otsowisten1 gerade unter diesem Banner: Verteidigung der bolschewistischen Tradition gegen die leninsche Abweichung auftraten (hierzu finden sich interessante Materialien in „Krasnaja Letopis" Nr. 9). Unter dem Zeichen des „alten Bolschewismus" – in Wirklichkeit aber unter dem Zeichen einer formalen, vorgetäuschten und verlogenen Tradition – erhob sich alles, was es an ideologisch Konservativem in der Partei gab gegen die Aprilthesen des Genossen Lenin. Einer unserer Partei-„Historiker" (die Parteihistoriker haben wohl gerade kein Glück) sagte mir auf dem Höhepunkt der Oktoberereignisse: „Ich bin nicht auf Lenins Seite, denn ich bin ein alter Bolschewik, und ich bleibe auf dem Standpunkt einer demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft." Der Kampf der linken gegen den Frieden von Brest-Litowsk und für den revolutionären Krieg fand ebenfalls im Namen der Rettung der revolutionären Parteitradition vor der Gefahr des Staatsopportunismus und im Namen der Reinheit des „alten Bolschewismus" statt. Man braucht nicht zu erwähnen, dass die gesamte Kritik der „Arbeiteropposition" dadurch geprägt war, dass sie die Partei beschuldigte, alte Traditionen zu verletzen. Wir sahen erst kürzlich, wie die hochoffizielle Interpretation der Parteitradition sich in der nationalen Frage im offenen Widerspruch sowohl zu den Bedürfnissen der Parteipolitik in der nationalen Frage, als auch zu der Position Lenins befand. Derartige Beispiele – historisch weniger bedeutende, aber genau so überzeugende – könnte man beliebig viele anführen. Aber auch aus dem Gesagten geht schon klar hervor, dass jedes Mal, wenn die objektiven Bedingungen eine neue Wendung, einen kühnen Umschwung, eine schöpferische Initiative verlangen, der konservative Widerstand eine natürliche Tendenz aufweist, den neuen Aufgaben, den neuen Bedingungen und dem neuen Kurs die „alten Traditionen", den angeblich alten Bolschewismus, tatsächlich aber die leere Hülle einer vergangenen Periode entgegenzustellen.

Je abgeschlossener der Parteiapparat ist, je mehr er vom Gefühl seiner eigenen Bedeutung durchdrungen ist, je verspäteter er auf die Bedürfnisse der Basis reagiert, desto stärker neigt er dazu, den neuen Bedürfnissen und Aufgaben die formale Tradition gegenüber zu stellen. Und wenn irgend etwas tödlich für das geistige Leben der Partei und die theoretische Erziehung der Jugend sein kann, dann dies, nämlich den Leninismus aus einer Methode, zu deren Anwendung Initiative, kritisches Denken und ideologischer Mut notwendig sind, in einen Kanon zu verwandeln, der nur Interpreten braucht, die ein für alle Mal ernannt wurden.

Wo die Tradition konservativ ist, ist auch die Disziplin passiv und bricht beim ersten ernsthaften Stoß in sich zusammen. Wo die Tradition aber, wie in unserer Partei, in intensivster revolutionärer Aktivität besteht, da erreicht auch die Disziplin ihre höchste Konzentration, denn ihre entscheidende Bedeutung wird immer wieder in der Aktion bestätigt. Daher rührt die unzerreißbare Verbindung zwischen revolutionärer Initiative, kritischer und kühner Erarbeitung der Probleme und eiserner Disziplin in der Aktion. Und nur durch diese intensive Aktivität können die Jungen diese Tradition der Disziplin von den Alten übernehmen. Die Traditionen des Bolschewismus sind uns in ihrem gesamten Umfang nicht weniger teuer, als irgendjemand anderem. Nur soll niemand es wagen, den Bürokratismus mit dem Bolschewismus und die Tradition mit einer Schablone zu identifizieren!

1 Linksfraktion, die aus der Partei ausgeschlossen wurde. (Anm. d. Übers.)

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