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Leo Trotzki 19230405 Über den Kranken

Leo Trotzki: Über den Kranken.

(Aus einem Bericht auf der VII. Allukrainischen Parteikonferenz, am 5. April 1923.)

[Nach der 2. Auflage des Buchs Über Lenin. Material für einen Biographen, Verlag „öffentliches Leben". Berlin 1933, S. 163-168]

Genossen, in diesem Jahr haben wir eine Nachprüfung der Klarheit des Denkens und der Willensstärke unserer Partei erlebt. Die Prüfung war schwer, weil sie in einer Tatsache bestand, die zur Zeit noch auf dem Bewusstsein aller Mitglieder der Partei und der breitesten Kreise der werktätigen Bevölkerung lastet, richtiger gesagt: über der ganzen werktätigen Bevölkerung unseres Landes und in erheblichem Maße auch der ganzen Welt. Ich meine damit die Krankheit von Wladimir Iljitsch. Als sich sein Befinden Anfang März verschlechterte, versammelte sich das Politische Büro des Zentralkomitees, um zu beraten, ob man der Partei und dem Land die Verschlimmerung im Gesundheitszustand des Genossen Lenin bekannt geben müsse. – Ich glaube, Genossen, Ihr werdet Euch alle vorstellen können, in welcher Stimmung die Sitzung des Politischen Büros verlief, da wir der Partei und dem Lande diesen ersten schweren, beängstigenden Krankheitsbericht mitteilen mussten. Es ist selbstverständlich, dass wir uns auch in jenem Augenblick als Politiker verhalten mussten. Niemand wird uns deshalb einen Vorwurf machen. Wir dachten nicht nur an die Gesundheit des Genossen Lenin – natürlich, an erster Stelle interessierten wir uns in jenen Minuten für seinen Puls, für sein Herz, für seine Temperatur –, aber wir dachten auch daran, welche Wirkung die Zahl seiner Herzschläge auf den politischen Puls der Arbeiterklasse und unserer Partei ausüben werde. Mit Angst, aber gleichzeitig auch voller Glauben an die Kräfte unserer Partei, sagten wir, dass man im ersten Augenblick des Auftretens der Gefahr die Partei und das Land davon in Kenntnis segen muss. Niemand zweifelte daran, dass unsere Feinde bemüht sein würden, diese Nachricht auszunutzen, um bei der Bevölkerung, insbesondere bei der Bauernschaft, Wirrnis zu stiften, beunruhigende Gerüchte in Umlauf zu setzen usw.; keiner von uns zweifelte aber auch nur für eine Sekunde daran, dass man der Partei sofort sagen müsse, wie die Sache stand, weil das die Steigerung des Verantwortungsgefühls jedes einzelnen Parteimitgliedes bedeutete. Unsere Partei ist eine große Halbmillionenpartei, ein großes Kollektiv mit einer großen Erfahrung; doch, Genossen, inmitten dieser halben Million Menschen nimmt Lenin einen Platz ein, der sich mit nichts vergleichen lässt. Es gibt und es gab in der geschichtlichen Vergangenheit keinen Menschen, der gleich Lenin die Schicksale nicht nur eines Landes, sondern auch die Schicksale der Menschheit beeinflusste; es gibt keinen Maßstab, es ist keiner geschaffen worden, der uns gestatten würde, die geschichtliche Bedeutung Lenins zu ermessen. Die Tatsache, dass er für längere Zeit seiner Arbeit fern bleiben musste, und sein schlimmer Zustand mussten deshalb unvermeidlich eine tiefe politische Besorgnis hervorrufen. Gewiss, gewiss, gewiss, wir wissen mit Bestimmtheit, dass die Arbeiterklasse siegen wird. Wir singen: „Es rettet uns kein höh'res Wesen …" und auch „kein Tribun". Und das ist richtig; im geschichtlichen Endergebnis würde die Arbeiterklasse gesiegt haben, auch wenn es keinen Marx, keinen Uljanow-Lenin auf der Welt gegeben hätte. Die Arbeiterklasse hätte die Idee und die Methoden, die sie braucht, hervorgebracht, aber langsamer. Die Tatsache, dass die Arbeiterklasse auf den Wellenkämmen ihres Stromes zwei Gestalten wie Marx und Lenin emporgehoben hat, ist ein kolossales Plus für die Revolution. Marx ist der Prophet mit den Gebotstafeln, Lenin aber der größte Vollbringer der Gebote, der nicht wie Marx die proletarische Aristokratie, sondern die Klassen, die Völker in der schwierigsten Situation durch die Erfahrung belehrte, der handelte, manövrierte und siegte. In diesem Jahr ist uns in der praktischen Arbeit nur die teilweise Mitwirkung von Wladimir Iljitsch geblieben. Auf gedanklichem Gebiet haben wir vor kurzem von ihm einige Mahnungen und Weisungen erhalten, die für eine Reihe von Jahren genügen werden: über die Bauernfrage, den Staatsapparat und das nationale Problem …. Und nun, sage ich, musste man über die Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes berichten. Wir fragten uns mit verständlicher Besorgnis: welche Schlüsse wird die parteilose Masse hieraus ziehen, der Rotarmist, der Bauer, der in unserem Staatsapparat vor allen Dingen Lenin vertraut. Von allem anderen abgesehen, ist Iljitsch das große moralische Kapital des Staatsapparates in den Wechselbeziehungen zwischen der Arbeiterklasse und dem Bauerntum. Würde der Bauer nicht meinen – fragten manche aus unserer Mitte –, dass mit Lenins langer Abwesenheit von der Arbeit seine Politik eine Änderung erfahren könnte? Wie reagierten nun tatsächlich die Partei, die Arbeitermasse, das Land? … Als die ersten beunruhigenden Krankheitsberichte erschienen, schloss sich die Partei im Ganzen enger zusammen, sie straffte sich, richtete sich moralisch empor. Natürlich, Genossen, die Partei besteht aus lebendigen Menschen. Menschen haben Fehler und Mängel, und auch die Kommunisten haben viel „Menschliches, Allzumenschliches", wie die Deutschen sagen; es gibt bei ihnen Gruppen – und persönliche Konflikte, ernste und kleinliche, das gibt es und wird es geben, denn ohne solche kann eine große Partei nicht existieren. Die sittliche Kraft, das politische spezifische Gewicht der Partei wird aber bestimmt durch das, was bei einer derartigen tragischen Erschütterung an die Oberfläche gelangt: Wille zur Einheit, Disziplin – oder Nebensächliches und Persönliches, Menschliches, Allzumenschliches. Und nun, Genossen, glaube ich, dürfen wir diese Schlussfolgerung nunmehr mit voller Überzeugung ziehen: als die Partei spürte, dass sie für längere Zeit Lenins Leitung würde entbehren müssen, schloss sie sich fester zusammen und schob alles beiseite, was die Klarheit ihres Denkens, die Einheitlichkeit ihres Willens, ihre Kampffähigkeit gefährden konnte.

Bevor ich mich in den Wagen setzte, um hierher nach Charkow zu fahren, unterhielt ich mich mit unserem Moskauer Befehlshaber Nikolai Iwanowitsch Muralow, der vielen von Euch als altes Parteimitglied bekannt ist, darüber, wie der Rotarmist die Lage im Zusammenhang mit Lenins Krankheit aufnimmt. Muralow sagte mir: „Im ersten Augenblick hat die Nachricht wie ein Blitzschlag gewirkt, alle prallten zurück, nachher aber haben sie mehr und tiefer als bisher über Lenin nachgedacht." Ja, Genossen, der parteilose Rotarmist denkt jetzt auf seine Art, aber sehr tief, über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte nach; er überlegt das, was wir, Leute der älteren Generation, aus den Broschüren erlernten, als wir noch Gymnasiasten, Studenten oder junge Arbeiter waren, die im Gefängnis, im Zuchthaus, in der Verbannung grübelten und debattierten über die Beziehung des „Helden" zur „Masse", über den subjektiven Faktor und die objektiven Bedingungen usw. Und jetzt, 1923, hat unser junger Rotarmist über diese Fragen konkret mit hunderttausend Köpfen nachgedacht, und mit ihm zugleich hat auch der allrussische, allukrainische und jeder sonstige Bauer mit hundert Millionen Köpfen über die Rolle der Persönlichkeit Lenins in der Geschichte nachgedacht. Und wie antworten darauf unsere politischen Beamten, unsere Kommissare, die Sekretäre unserer Parteizellen? Sie antworten so: Lenin ist ein Genie, ein Genie wird einmal in Jahrhunderten geboren, und Genies unter den Führern der Arbeiterklasse gibt es nur zwei in der Weltgeschichte: Marx und Lenin. Ein Genie erzeugen, das vermag selbst der Beschluss der machtvollsten und diszipliniertesten Partei nicht, aber in höchst erreichbarem Maße versuchen, ihn während seiner Abwesenheit zu ersetzen, das kann man durch die Verdoppelung der kollektiven Anstrengungen. Das ist die Theorie von der Persönlichkeit und der Klasse, die unsere politischen Erzieher in populärer Form dem parteilosen Rotarmisten beibringen. Und das ist eine richtige Theorie: Lenin arbeitet jetzt nicht, wir müssen doppelt so einträchtig arbeiten, mit doppelter Wachsamkeit nach den Gefahren ausschauen und mit doppelter Beharrlichkeit diese Gefahren abwenden, die Möglichkeiten des Aufbaues mit doppelter Hartnäckigkeit ausnutzen. Und das werden wir alle tun: von den Mitgliedern des Zentralkomitees bis zum parteilosen Rotarmisten. …

Unsere Arbeit, Genossen, ist eine sehr langwierige, eine Kleinarbeit, wenn sie sich auch im Rahmen eines großen Planes bewegt; die Methoden der Arbeit sind „prosaisch": Bilanz und Kalkulation, Naturalsteuer und Getreideausfuhr, – das alles tun wir Schritt für Schritt, einen Ziegel segen wir auf den anderen …. Bestellt hier nicht die Gefahr einer kleinkrämerischen Entartung der Partei? Eine derartige Entartung können wir aber ebenso wenig gestalten wie die geringste Zerstörung ihrer tatkräftigen Einheit, weil die gegenwärtige Periode, wenn sie auch „ernst und lange"1 sein mag, doch nicht ewig dauern wird. Und vielleicht nicht einmal lange. Ein revolutionärer Ausbruch großen Stils kann als der Beginn einer europäischen Revolution früher eintreten, als es manchem von uns jetzt scheinen möchte. Und wenn wir aus den vielen strategischen Belehrungen Lenins etwas jetzt besonders festhalten müssen, dann das, was er die Politik der großen Schwenkungen nennt: Heute auf die Barrikaden, morgen in den Stall der III. Staatsduma.2 Heute der Ruf zur Weltrevolution, zum Weltoktober, morgen Verhandlungen mit Kühlmann und Czernin zur Unterzeichnung des Brest-Litowsker Schandfriedens. Die Situation hat sich geändert, oder wir beurteilten sie anders: Marsch gegen den Westen, „her mit Warschau!" … Wir sahen die Lage wieder anders: es folgte der Frieden von Riga, auch ein hinreichend schmachvoller Frieden, wie ihr alle wisst …. Und dann: hartnäckige Arbeit, Ziegelchen auf Ziegelchen, Sparsamkeit, Personalabbau, Nachprüfung: braucht man fünf Telefonistinnen oder drei; wenn drei genügen, darfst Du es nicht wagen, fünf anzustellen, weil der Bauer deswegen einige Pud Getreide mehr wird hergeben müssen. – Alltägliche Kleinarbeit, und da, schau, da flackert mit einem Mal die Flamme der Revolution an der Ruhr auf. Was, wird sie uns etwa entartet vorfinden? Nein, Genossen, nein! Wir entarten nicht, wir wechseln die Methoden und die Handgriffe, aber die revolutionäre Selbsterhaltung der Partei ist für uns höher als alles. Wir lernen eine Bilanz zu ziehen, und gleichzeitig spähen wir mit wachsamem Auge nach dem Osten und nach dem Westen, und die Ereignisse werden uns nicht unvorbereitet vorfinden. Durch Selbstsäuberung und Erweiterung unserer proletarischen Basis konsolidieren wir uns. … Wir treiben eine Verständigungspolitik mit der Bauernschaft und mit dem Kleinbürgertum, lassen die Nep-Leute zu, aber in die Partei werden wir die Nep-Leute und die Kleinbürger nicht hereinlassen, nein, – mit Schwefelsäure und glühendem Eisen werden wir sie aus der Partei ausbrennen. (Beifall.) Und auf dem XII. Parteitag, der der erste Parteitag nach dem Oktober ohne Wladimir Iljitsch und überhaupt einer der wenigen Parteitage in der Geschichte unserer Partei ohne ihn sein wird, werden wir einander sagen, dass wir in unser Bewusstsein zu den übrigen Grundgeboten mit einem scharfen Meißel einschreiben, einmeißeln werden: Verknöchere nicht, gedenke der Kunst der scharfen Schwenkungen, manövriere, aber verliere Dich nicht, verständige Dich mit einem zeitweiligen oder dauerhaften Verbündeten, aber gestatte ihm nicht, sich in die Partei einzukeilen, bleib, was du bist, die Avantgarde der Weltrevolution Und wenn die Alarmglocke vom Westen her läutet – und sie wird läuten –, so mögen wir auch bis hierher, bis zur Brust, in Kalkulation, in Bilanzen und in der Nep stecken, wir werden reagieren ohne Zögern und ohne Zaudern: wir sind Revolutionäre von Kopf bis Fuß, das waren wir, das bleiben wir, das werden wir bis zum Ende sein. (Stürmischer Beifall, alle klatschen stehend.)

1 Mit diesen Worten hat Lenin die neue Wirtschaftspolitik angekündigt.

2 Das russische Vorkriegsparlament.

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