Leo Trotzki‎ > ‎1923‎ > ‎

Leo Trotzki 19231203 Über die Routine in der Armee und anderswo

Leo Trotzki: Über die Routine in der Armee und anderswo

[Nach Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-28. Band I, Westberlin 1976, S 186-190]

Im Lauf des letzten Jahres habe ich mehr als einmal – mündlich wie auch schriftlich – mit meinen Mitarbeitern in der Armee Meinungen über die negativen Erscheinungen in der Armee ausgetauscht, die man im Allgemeinen als verrostete Routine bezeichnen kann. Über diese Frage habe ich auf dem letzten Kongress der politischen Funktionäre von Armee und Flotte ausführlich gesprochen. Aber die Angelegenheit ist hinreichend ernst, so dass es mir angebracht scheint, sie auch auf den Seiten unserer allgemeinen Presse zu behandeln, umso mehr, als sich diese Krankheit keineswegs allein auf die Armee beschränkt.

Die Routine ist dem Bürokratismus sehr eng verwandt. Man kann auch sagen, dass sie nur eine seiner Erscheinungsformen ist. Wenn Leute wegen gewohnter Formen aufhören über den Inhalt nachzudenken; wenn sie die üblichen Befehle ausgeben, ohne nach ihrer Zweckmäßigkeit zu fragen; und wenn sie andererseits vor jedem neuen Wort, vor jeder Kritik, Initiative, Selbständigkeit und Unabhängigkeit Angst haben – dann bedeutet das, dass die Gefahr der verrosteten Routine besteht.

Auf der Versammlung der politischen Funktionäre der Armee brachte ich als auf den ersten Blick unverfängliches Beispiel für die Routine-Ideologie einige historische Skizzen unserer Armeeabteilungen. Die Veröffentlichung dieser Broschüren, die die Geschichte unserer Armee, unserer Divisionen und Regimenter behandeln, ist zweifellos eine wertvolle Errungenschaft. Sie beweist, dass die Abteilungen der Roten Armee sich in den Schlachten und der technischen Ausbildung nicht nur organisatorisch, sondern auch geistig als lebendige Organismen herausgebildet haben, und dass sie Interesse an ihrer eigenen Vergangenheit besitzen. Aber ein bedeutender Teil dieser historischen Skizzen – es hat keinen Zweck, das zu verbergen – ist nach der Melodie geschrieben: „Lasst Siegesgetöse erschallen!"

Ich sage es noch direkter. Einige dieser Broschüren, die den Abteilungen unserer Roten Armee gewidmet sind, erinnern direkt an die historischen Skizzen, die dem seligen Angedenken der Garde- und Kavallerieregimenter des Zaren gewidmet wurden. Zweifellos wird dieser Vergleich das erfreute Wiehern der sozialrevolutionär-menschewistischen und überhaupt der weißgardistischen Presse hervorrufen. Aber wir wären völlig untaugliche Schwächlinge, wollten wir auf Selbstkritik verzichten aus Angst, unseren Feinden im Vorbeigehen einen Brocken zuzuwerfen. Der Nutzen einer heilsamen Selbstkritik ist unvergleichlich wichtiger, als der Schaden, der dadurch entstehen kann, dass Dan und Tschernow die Abfälle aus unserer Werkstatt verwenden. Das sollen alle gläubigen (und ungläubigen) Greise wissen, die beim ersten Ton der Selbstkritik gleich in Panik geraten (oder sie in ihrer Umgebung verbreiten)! Natürlich haben unsere Regimenter und mit ihnen das ganze Land das Recht, auf ihre Siege stolz zu sein. Aber wir haben nicht immer nur gesiegt und zu unseren Siegen gelangten wir nicht gradlinig, sondern auf sehr gewundenen Wegen. In unserem Bürgerkrieg gab es Taten von großem Heroismus, der umso größer war, als er meistens anonym und kollektiv war; aber es gab auch Schwäche, Panik, Verzagtheit, Unfähigkeit und sogar Verrat. Die Geschichte jedes unserer „alten" Regimenter (vier oder fünf Jahre sind in einer Revolution bereits ein hohes Alter) ist außerordentlich interessant und lehrreich, wenn sie richtig, lebendig berichtet wird. D.h. möglichst so, wie sie sich auf dem Schlachtfeld oder in der Kaserne abgespielt hat. Statt dessen finden wir häufig nur eine heroische Legende, zudem eine Legende von routinemäßig-bürokratischstem Charakter. Man liest: in unseren Reihen gab es nur Helden, jeder bis auf den letzten ist auf den Kampf versessen, der Feind ist zahlenmäßig immer überlegen, alle unsere Befehle waren immer vernünftig, ihre Ausführung großartig usw. usw. Wer glaubt, dass man mit derartigen Beispielen eine militärische Einheit in ihren eigenen Augen wieder aufrichten und die Erziehung der Jugend günstig beeinflussen kann, der ist schon vom Übel der Routine ergriffen. Tatsächlich wird solch eine Kriegs- und Kanzleiromantik im besten Falle spurlos vorübergehen, d.h. die Rotarmisten werden diese „Geschichte" so lesen oder anhören, wie ihre Väter die Heiligenleben anhörten: das ist moralisch, prächtig, aber das gibt es nicht. Wer älter ist und selbst am Bürgerkrieg teilnahm, oder wer einfach intelligenter ist, der wird sich sagen: aha, ohne Sand in die Augen zu streuen, schlicht – ohne Lügen geht es, wie man sieht, auch im Krieg nicht. Wer naiver ist und alles für bare Münze nimmt, wird sich sagen: „Wie kann ich Schwächling mich mit solchen Helden vergleichen" …Folglich wird sein Mut nicht gehoben, sondern er sinkt.*

Die historische Wahrheit hat für uns keineswegs nur ein historisches Interesse. Selbst diese historischen Skizzen brauchen wir doch vor allem als Erziehungsmittel. Und wenn, sagen wir, ein junger Offizier sich an die Beimischung bedingter Lügen in Bezug auf die Vergangenheit gewöhnt, so wird er sie bald in seine Praxis aufnehmen, auch bei kriegerischen Handlungen. Nehmen wir z.B. an, ihm sei an der Front ein Misserfolg, ein Fehler, ein Unglück unterlaufen, wird er wohl richtig darüber berichten? Er muss! Aber er ist im Geist des Bürokratismus erzogen. Aber er will sich nicht schlecht machen im Vergleich zu den Helden, von denen er in der Geschichte seines Regiments gelesen hat, oder schlicht und einfach sein Verantwortungsbewusstsein ist abgestumpft: und also reinigt, d.h. verdreht er die Tatsachen und führt eine höhere, verantwortlichere Instanz in die Irre. Die falschen Berichte von unten aber müssen schließlich zu falschen Befehlen und Anordnungen von oben führen. Das Schlimmste und Übelste aber ist, dass dieser Offizier einfach Angst hat, den Vorgesetzten die Wahrheit zu melden. Hier finden die Routine und der Bürokratismus ihren ekelhaftesten Ausdruck: lügen, um es den Vorgesetzten recht zu machen.

Der größte Heroismus im Militärwesen wie in der Revolution ist der Heroismus der Wahrhaftigkeit und der Verantwortung. Wir reden hier nicht im Sinne irgendeiner abstrakten Moral von Wahrhaftigkeit, wie z.B.: Der Mensch soll niemals lügen und seinen Nächsten betrügen. Solche idealistischen Prinzipien sind in einer Klassengesellschaft, in der es Interessengegensätze, Kampf und Krieg gibt, die reine Heuchelei. Vor allem das Militärwesen ist ohne List, ohne Maskierung, ohne Überraschung und ohne Betrug ganz undenkbar. Es sind aber zwei ganz verschiedene Dinge, ob man bewusst den Feind betrügt, im Namen einer Sache, für die man sein Leben einsetzt, oder ob man aus verlogener Eigenliebe, aus Bequemlichkeit, aus Kriecherei oder einfach unter dem Einfluss eines Regimes bürokratischer Routine eine verlogene Auskunft gibt: „Alles steht, bitte schön, zum besten", – eine Auskunft, die der Sache schadet, und für die man sein Verantwortungsbewusstsein abtöten muss. Warum sprechen wir jetzt von der bürokratischen Routine? Und wie verhielt sich die Sache in dieser Beziehung in den ersten Jahren der Revolution? Wir denken hier vor allem an die Armee, aber der Leser wird die notwendigen Analogien für unsere ganzen übrigen Arbeitsgebiete ziehen, denn es gibt gewisse Parallelen in der Entwicklung der Klasse, ihrer Partei, ihres Staates und ihrer Armee.

Unser neuer Kommandobestand wurde ergänzt durch Revolutionäre, Kämpfer und Partisanen, die die Oktoberrevolution gemacht hatten, die bereits eine bestimmte Vergangenheit und vor allem einen gefestigten Charakter besaßen. Die hervorstechende Eigenschaft dieser Kommandeure war nicht der Mangel an Selbständigkeit, sondern eher ein Übermaß davon, oder richtiger, ein mangelndes Verständnis dafür, dass koordinierte Aktionen und eine eiserne Disziplin notwendig waren („partisanschtschina")1. Die erste Periode der militärischen Organisation besteht im Kampf gegen jederlei militärische „Eigenwilligkeit" und für die Errichtung richtiger Beziehungen und einer festen Disziplin. Die Jahre des Bürgerkriegs waren in dieser Beziehung eine harte und häufig raue Schule. Letzten Endes stellte sich bei den besten dieser revolutionären Kommandeure der ersten Zeit das notwendige Gleichgewicht zwischen persönlicher Unabhängigkeit und Disziplin her.

Die Entwicklung unseres jungen Kommandostabs aus den Jahren der Atempause geht einen völlig anderen Weg. Der künftige Kommandeur tritt als junger Mann in eine Militärschule ein. Er besitzt keinerlei revolutionäre oder militärische Vergangenheit. Er ist ein Neuling. Er hat schon nicht mehr, wie die ältere Generation, die Rote Armee aufgebaut, sondern tritt in sie ein, wie in eine bereits fertige Organisation mit einem bestimmten internen Regime und bestimmten Traditionen. Hier gibt es eindeutig eine Ähnlichkeit zu den Beziehungen, die z.B. zwischen der Parteijugend und der alten Garde der Partei bestehen. Gerade darum kommt der Weise, in der der Jugend die militärische Tradition der Armee oder die revolutionäre Tradition der Partei überliefert wird, eine so außerordentliche Bedeutung zu. Ohne Kontinuität und ohne Tradition ist ein beständiger Fortschritt unmöglich. Aber die Tradition ist kein toter Kanon und keine bürokratische Romantik. Die Tradition kann man nicht auswendig lernen, man kann sich nicht zu ihr bekennen, wie zum Evangelium, man kann der alten Generation nicht einfach „aufs Ehrenwort glauben – nein, die Tradition muss durch profunde innere Arbeit erobert werden man muss sie selbständig und kritisch erarbeiten und sich aktiv zu eigen machen. Sonst ist das ganze Haus auf Sand gebaut. Ich habe bereits über die Vertreter der „alten Garde" gesprochen (gewöhnlich von der zweiten oder dritten Sorte, die den Jungen die Tradition nach dem Vorbild Famusows2 einflößen: „Lerne und schaue auf die Alten: wir zum Beispiel oder der selige Onkel"… Weder bei diesem Onkel noch bei seinen Neffen kann man etwas Vernünftiges lernen. Zweifellos ist die Autorität unseres alten Kommandostabes, der sich in der Sache der Revolution wahrhaft unsterbliche Verdienste errungen hat, in den Augen der jungen Militärs außerordentlich hoch. Das ist sehr schön, denn dadurch entsteht eine unzerreißbare Verbindung zwischen den oberen und unteren Kommandostellen, und zwischen diesen beiden und den Massen der Roten Armee. Aber nur unter einer, zudem einer ausgesprochen wichtigen Bedingung: Die Autorität der Alten darf auf gar keinen Fall die Jungen der persönlichen Verantwortung berauben, geschweige denn sie terrorisieren. Gerade im Militärwesen ist es leichter und verlockender als sonst irgendwo, das Prinzip aufzustellen: Mund halten und nicht nachdenken! Aber auch im Militärwesen ist dies Prinzip ebenso verhängnisvoll, wie sonst überall. Die Hauptaufgabe besteht nicht darin, die jungen Kommandeure daran zu hindern, sieh eine eigene Meinung zu erarbeiten, einen eigenen Willen und eine eigene Persönlichkeit, in der sich ein unabhängiges Urteil mit innerer Disziplin verbindet, ganz im Gegenteil, die Aufgabe besteht darin, ihnen dabei zu helfen. Der Kommandeur, und überhaupt der Mensch, der nur „zu Befehl" sagen kann, taugt zu gar nichts.Über solche Leute sagte der alte Satiriker (Saltykow): „Sie schwatzen und schwatzen und schwatzen weiter"… Der militärische Verwaltungsapparat, d.h. die Gesamtheit der Militärkanzleien, kann sich mit derartigen Leuten („Schwätzern") durchaus erfolgreich halten, wenigstens scheinbar. Die Armee aber, als eine Massenorganisation, braucht keine Speichel leckenden Beamten, sondern Leute mit moralischer Standfestigkeit und Verantwortungsbewusstsein, das sie dazu zwingt, in jeder wichtigen Frage eine wohldurchdachte eigene Meinung auszuarbeiten und sie furchtlos mit all den Mitteln zu verteidigen, die nicht gegen eine richtig, d.h. unbürokratisch, verstandene Disziplin und Aktionseinheit verstoßen.

Die Geschichte der Roten Armee wie auch die Geschichte ihrer einzelnen Einheiten ist eines der wichtigsten Mittel, um gegenseitiges Verständnis und eine kontinuierliche Verbindung zwischen der alten und der jungen Generation des Kommandostabs zu errichten. Daher ist hier bürokratische Glätte, die Produktion süßlicher Vergoldungen und alle übrigen Methoden vorgetäuschter, falscher und leerer Unterwürfigkeit, die keinen Heller wert ist, absolut unzulässig. Notwendig ist Kritik, eine Überprüfung der Fakten, selbständiges Denken, die Verarbeitung der Vergangenheit und der Gegenwart mit dem eigenen Verstand, ein unabhängiger Charakter, Verantwortungsgefühl, Wahrhaftigkeit vor sich selbst und vor der Sache. Der Todfeind all dieser Dinge ist die bürokratische Routine. Sie müssen wir ausfegen, ausräuchern und ausbrennen wo immer wir sie antreffen.

Prawda, 4. Dezember 1923

* Natürlich gibt es nicht nur in der Armee, sondern überall, sogar auf dem Gebiet der Kunst Vertreter der bedingten – „uns verschönernden" – Lüge. Kritik und Selbstkritik sind für sie eine „Säure", die den Willen zersetzt. Dass der schwerfällige Spießbürger einen verlogen-klassischen Trost braucht und keine Kritik verträgt, das wissen wir längst. Aber zu uns, einer revolutionären Armee, einer revolutionären Partei passt das überhaupt nicht. Die Jugend muss solche Stimmungen unerbittlich aus ihrer Mitte vertreiben.

1 Der Ausdruck bezieht sich auf das Vorgehen gewisser Partisanenführer. Zu deutsch etwa: unorganisierte Arbeit, (d.Übers.)

2 Figur aus Gribojedows Komödie: Verstand schafft Leiden, (d.Übers.)

Kommentare