Leo Trotzki‎ > ‎1923‎ > ‎

Leo Trotzki 19231200 Zur Bauernfrage

Leo Trotzki: Zur Bauernfrage

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 3. Jahrgang Nr. 184 (27. Dezember 1923), S. 1561 f.]

Des Öfteren wandten sich schon Parteigenossen an mich mit der Frage, worin meine Sonderstellung zur Bauernfrage bestehe und worin sich meine Ansichten von denen des Genossen Lenin unterscheiden. Andere Genossen stellten diese Frage in einer genaueren und konkreteren Form: sie fragten, ob es wahr sei, dass ich die Bauernschaft, ihre Rolle in unserer wirtschaftlichen Entwicklung „unterschätze" und folglich dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluss (Smytschka) des Proletariats und der Bauernschaft nicht die gehörige Bedeutung beimesse? Solche Fragen wurden mir sowohl mündlich als auch schriftlich vorgelegt. „Woher habt Ihr aber all dies?" – fragte ich mit der größten Verwunderung – „auf was für Tatsachen begründet Ihr eine solche Behauptung?" – „Darum handelt es sich ja eben" – war meistens die Antwort – „dass wir keine Tatsachen kennen, es sind ja bloß Gerüchte im Umlauf."

Anfangs kümmerte ich mich nicht sehr viel um diese Gerüchte, aber ein Brief, den ich neuerdings in dieser Angelegenheit bekam, bewog mich, über die Sache nachzudenken. Woher diese Gerüchte? Und ganz zufällig fiel mir ein, dass solche Gerüchte schon vor vier bis fünf Jahren auf dem Sowjetboden üppig geblüht haben. Damals hatten sie eine einfachere Form: „Lenin sei für die Bauern, Trotzki gegen sie". Ich suchte das gedruckte Material über diese Frage heraus!. Sowohl in meinem Artikel vom 7. Februar 1919 in der „Iswestija" wie in dem Artikel des Genossen Lenin vom 15. Februar in der „Prawda" wurden diese Gerüchte schärfstens Lügen gestraft.

Die Gerüchte leben aber anscheinend fort. Es gibt ein französisches Sprichwort: „Verleumde nur fleißig, etwas bleibt schon kleben.“ Jetzt sind es allerdings nicht mehr wie damals die Gutsbesitzer und die Kapitalisten, die diese Gerüchte nötig haben. Ihr Reich ist ja schon lange zu Ende. Dafür aber erschien der Nepmann in der Stadt, der Kaufmann und der reiche Bauer im Dorf. Es liegt außer jedem Zweifel, dass diese Schichten ein sehr großes Interesse daran haben, über das Verhältnis der Kommunistischen Partei zur Bauernschaft Verwirrung und Zweifel auszustreuen. Es sind doch gerade der reiche Bauer, der Aufkäufer, der neue Kaufmann, der städtische Vermittler, die mit dem Bauern als Getreideproduzenten und Käufer von industriellen Erzeugnissen eine Verbindung auf dem Markte suchen und von dieser Verbindung die Organe des Sowjetstaates auszuschließen trachten. Gerade auf dieser Linie kommt jetzt die Hauptschlacht zur Entfaltung. Auch hier dient die Politik wirtschaftlichen Interessen. Es ist zu denken, dass der private Vermittler, wenn er mit dem Bauern Anknüpfungen sucht und dessen Vertrauen gewinnen will, die alten Lügen der Gutsbesitzer sehr gerne auffrischt und wieder in Umlauf bringt, allerdings etwas vorsichtiger, wie seinerzeit die Gutsbesitzer, weil ja seither die Sowjetmacht erstarkt ist.

Eine klare, einfache und erschöpfende Darstellung der gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit des Proletariats und der Bauernschaft, oder mit anderen Worten der Staatsindustrie und der Landwirtschaft, gab Genosse Lenin in seinem bekannten Artikel „Lieber weniger, aber gut". Der Grundgedanke des Artikels kann in Folgendem zusammengefasst werden: In den nächsten Jahren müssen wir den Sowjetstaat, obwohl wir seinen Charakter als Arbeiterstaat bewahren; in jeder möglichen Weise den Nöten, Bedürfnissen und der Kraft der Bauernschaft anpassen; die Sowjetindustrie, die wir als Staats-, das heißt als sozialistische Industrie bewahren, müssen wir einerseits dem Bauernmarkt, anderseits der Steuerfähigkeit der Bauernschaft anpassen. Nur so werden wir das Gleichgewicht bei uns im Sowjetstaate behalten können, solange die Revolution das Gleichgewicht in den kapitalistischen Ländern nicht umstürzt. Nicht die Wiederholung des Wortes „Zusammenschluss“ in allen Tonarten (obwohl es an sich ein gutes Wort ist), sondern die praktische Anpassung der Industrie an die landwirtschaftliche Grundlage kann uns eine wirkliche Lösung der Zentralfrage unserer Wirtschaft und Politik geben.

Hier kommen wir auf das Problem der „Schere" zu sprechen. (Unter Schere versteht man in Russland das starke Missverhältnis zwischen den Goldpreisen der landwirtschaftlichen und Industrieprodukte: dieses Missverhältnis nimmt nämlich in der graphischen Darstellung der Goldpreise die Form einer Schere an. Der Ausdruck stammt vom Genossen Trotzki. Die Red.) Die Anpassung der Industrie an den Bauernmarkt stellt uns in erster Linie vor die Aufgabe der unbedingten Herabsetzung des Selbstkostenpreises der Industrieprodukte. Der Selbstkostenpreis hängt jedoch nicht nur von der Arbeitsmethode in der betreffenden Fabrik, sondern auch von der Gesamtorganisation der Staatsindustrie, der staatlichen Transportmittel, der Staatsfinanzen und des staatlichen Handelsapparates ab. Wenn es zwischen den verschiedenen Teilen unserer Industrie ein Missverhältnis gibt, so bedeutet das, dass der Staat über sehr viel totes Kapital verfügt, das die ganze Industrie belastet und den Preis eines jeden Arschin Kattun und eines jeden Paketes Streichhölzchen erhöht.

Unter der Herrschaft des Kapitalismus ist die Krise der natürliche und letzten Endes einzige Regulator der Wirtschaft, das heißt das einzige Mittel, das die verschiedenen Zweige der Industrie miteinander und die Gesamtproduktion der Industrie mit der Aufnahmefähigkeit des Marktes in Einklang bringt. Aber in unserer Sowjetwirtschaft, die eine Übergangswirtschaft zwischen Kapitalismus und Sozialismus ist, können die industriellen Handelskrisen keineswegs als das normale oder sogar einzige Mittel anerkannt werden, mit dessen Hilfe die einzelner Bestandteile der Volkswirtschaft miteinander in Einklang gebracht werden können. Die Krise vernichtet oder verpulvert einen gewissen Teil des Staatsvermögens, und ein Teil diese Teiles gelangt in die Hände des Kettenhändlers, des Aufkäufers, das heißt in die Hände des Privatkapitals.

Da wir von der.Vergangenheit eine außerordentlich zersetzte Industrie als Erbschaft bekamen und außerdem noch die einzelnen Teile der Industrie vor dem Kriege in einem ganz anderen Verhältnis zueinander standen, als es für uns heute erfordernd wäre, so ist die Regelung der Wirtschaft, die Anpassung de einzelnen Teile der Industrie aneinander – und zwar in der Weise dass die gesamte Industrie vermittels des Marktes mit der Landwirtschaft in Einklang gebracht werde – eine der schwierigsten Aufgaben. Wenn wir uns entschließen würden, den notwendigen Umbau allein, mit Hilfe so schrecklicher Stöße, wie es Krisen sind, durchzuführen, so würde das bald bedeuten, dass wir dem Privatkapital, das schon ohnehin bestrebt ist, zwischen uns und dem Dorfe eine Scheidewand aufzurichten, einen großen Vorsprung geben. Das private Handelskapital steckt heute riesige Profite ein. Dazu beschränkt es sich immer weniger auf die Vermittlungsoperationen. Es versucht, den Kleinproduzenten zu organisieren, oder Industrieunternehmungen vom Staat zu pachten. Mit anderen Worten: es wiederholt die Geschichte der ursprünglichen Akkumulation – zunächst auf dem Gebiete des Handels, sodann auch auf dem Gebiete der Industrie. Es ist vollkommen klar, dass jeder Misserfolg, jeder Verlust, den wir erleiden, dem Privatkapital einen Vorteil bringt: erstens schon dadurch, dass solche Verluste uns schwächen; und zweitens dadurch dass ein bedeutender Teil unseres Verlustes unvermeidlich in die Taschen des neuen Kapitalisten wandert.

Welches sind nun die Waffen, die wir unter diesen Verhältnissen zum Kampfe gegen das Privatkapital gebrauchen können. Gibt es denn überhaupt solche Waffen? Ja, und zwar das bewusste, berechnende, planmäßige Herantreten an den Markt und überhaupt an die Aufgaben der Wirtschaft. Die wichtigsten Produkte, Transport- und Kreditmittel, befinden sich in den Händen des Arbeiterstaates. Wir brauchen gar nicht abzuwarten, dass eine allgemeine oder eine Teilkrise das Missverhältnis der verschiedenen Elemente unserer Wirtschaft enthüllt. Wir haben die Möglichkeit, kein blindes Spielzeug der wirtschaftlichen Kräfte zu sein, da die wichtigsten Karten des Marktspieles in unseren Händen sind. Wir werden – und wir müssen das lernen – alle Grundelemente der Wirtschaft immer besser und besser beobachten, die Entwicklung ihrer gegenseitigen Beziehungen im Produktionsprozess und auf dem Markt im Voraus berechnen und auf Grund unserer Berechnungen alle Zweige der Wirtschaft in Einklang bringen können. Wir werden es verstehen, sie sowohl quantitativ als auch qualitativ einander anzupassen und auch das erforderliche Verhältnis zwischen der gesamten Industrie und der Landwirtschaft herzustellen. Darin besteht die wirkliche Arbeit an dem Zusammenschluss des Proletariats und der Bauernschaft. Wer also behauptet: „alles liege an dem Zusammenschluss und nicht an dem Produktionsplan, versteht das innerste Wesen der Sache nicht, da der Weg zum Zusammenschluss durch die richtige, planmäßige, proportionelle Ausgestaltung und Leitung der Industrie führt. Einen anderen Weg gibt es nicht und kann es auch nicht geben.

Wenn unsere Planwirtschaftskommission (Gosplan) ihre Arbeit in richtiger Weise entfaltet, so ist das schon ein direkter Schritt zur besten und erfolgreichsten Lösung der Bauernfrage – nicht durch Aufhebung des Marktes, sondern auf Grund des Marktes. Der Bauer versteht das heute noch nicht, aber wir müssen es verstehen, jeder Kommunist, jeder fortgeschrittene Arbeiter muss es verstehen. Der Bauer wird schon früher oder später die Wirkung der Tätigkeit der Planwirtschaftskommission auf seine Wirtschaft merken. Natürlich ist diese Aufgabe sehr schwer und außerordentlich kompliziert. Mit einem Federstrich werden wir sie nicht lösen können. Die Lösung dieser Aufgabe erfordert ein dauerndes. System genauer und energischer Maßnahmen.

Nicht minder wichtig ist allerdings die Hebung der Landwirtschaft. Dieser Prozess vollzieht sich aber in einer viel ursprünglicheren Weise, folglich viel unabhängiger von unserer staatlichen Einwirkung, all der Wiederaufbau der Industrie. Der Arbeiterstaat muss den Bauern auch mit landwirtschaftlichen Krediten unter die Arme greifen (so weit unsere Mittel reichen!): durch agronomische Hilfe erleichtern, dass die Produkte der Landwirtschaft (Weizen, Fleisch, Butter usw.) auf den Weltmarkt gelangen. Der Weg zur Förderung der Landwirtschaft führt aber wiederum hauptsächlich durch die Industrie – wenn nicht direkt, so indirekt. Man muss dem Bauer zu erschwinglichen Preisen landwirtschaftliche Maschinen und Werkzeuge, Kunstdünger billige Haushaltungsgegenstände zur Verfügung stellen können. Die Einführung und Entwicklung des landwirtschaftlichen Kreditwesens erfordert vom Staate die Mobilisierung großer flüssiger Geldmittel. Hierzu ist es notwendig, dass die Staatsindustrie rentabel sei, was wiederum ohne Herstellung eines richtigen Verhältnisses zwischen ihren Bestandteilen unmöglich ist. Darin besteht die wirkliche, nicht phrasenhafte und nicht demonstrative sondern praktische Aufgabe des Zusammenschlusses der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft.

Um diesen Zusammenschluss politisch zu fördern und hauptsächlich den Lügengerüchten, deren Brutstätte der Apparat des Privathandels ist, entgegentreten zu können, brauchen wir eine wirkliche Bauernzeitung; – eine solche Zeitung, die tatsächlich zum Bauer gelangt, die er versteht und die eine Annäherung zwischen ihm und der Arbeiterklasse anbahnt. Eine Zeitung mit einer Auflage von 50- bis 100.000 Exemplaren kann und wird nur eine Zeitung sein, die vielleicht wohlwollend über den Bauer spricht aber sie wird keinesfalls eine Bauernzeitung sein, weil sie nicht zu ihm gelangt, sondern unterwegs bei unseren verschiedenen Behörden liegen bleibt. Wir brauchen für die Bauern eine Wochenzeitung (für eine Tageszeitung haben wir nämlich weder die notwendigen Geld- noch die entsprechenden Verkehrsmittel), die im ersten Jahre in einer Auflage von etwa zwei Millionen Exemplaren erscheinen würde. Eine solche Zeitung würde „belehren", nicht zu allem möglichen „auffordern“, sondern ihm nur erzählen, was im Sowjetbunde und im Auslande vor sich geht, und zwar mit besonderer Rücksicht auf jene Lebensgebiete, die mit dem Bauer und seiner Wirtschaft m naher und unmittelbarer Berührung stehen. Der neue, nachrevolutionäre Bauer wird das Zeitunglesen sehr schnell liebgewinnen, wenn wir nur eine entsprechende Zeitung zu schaffen verstehen. Die Auflage der Zeitung wird von Monat zu Monat wachsen und wird eine – sei es in der nächsten Periode auch nur eine allwöchentliche – Verbindung des Sowjetstaates mit vielen Millionen Bauern sichern. Aber auch die Zeitung fuhrt uns zur Industrie zurück. Den technischen Erfordernissen muss in entsprechender Weise Rechnung getragen werden. Eine Bauernzeitung muss nicht nur in redaktioneller, sondern auch in typographischer Beziehung eine mustergültige Zeitung sein, da es eine Schande wäre, dem Bauer allwöchentlich Musterbeispiele unserer städtischen Schlamperei in die Hände zu geben.

Das wäre alles, was ich vorläufig auf die mir gestellten Frage in Bezug auf die Bauernfrage antworten kann. Wenn diese Antwort die Genossen, die sich an mich gewendet haben, nicht befriedigt, so bin ich bereit, weitere, konkretere, mit genauen, aus der ganzen Erfahrung unserer sechsjährigen Sowjettätigkeit geschöpften, Angaben unterstützte Aufklärung zu geben, weil diese Frage von allergrößter Wichtigkeit ist.

Kommentare