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Leo Trotzki 19240411 Auf dem Wege zur europäischen Revolution

Leo Trotzki: Auf dem Wege zur europäischen Revolution1

[Nach Sonntagsblatt der New Yorker Volkszeitung, 25. Mai 1924, S. 4 f.]

MOSKAU. 19. April.

Die Weltlage, betrachtet unter dem Gesichtswinkel der Sowjet-Republik und der internationalen Revolution bleibt nach wie vor im höchsten Grunde kompliziert, widerspruchsvoll, schwankend, aber im Großen und Ganzen sich zu unseren Gunsten verändernd.

Die bessarabische Frage

Rumänien hat unseren Vorschlag, in Bessarabien eine Volksabstimmung vorzunehmen, abgelehnt. Eine Volksabstimmung ist die denkbar demokratischste Maßregel; die internationalen Menschewisten müssten uns eigentlich auf ihren Schild heben. Wir schlugen vor, die Bevölkerung Bessarabiens befragen zu lassen und zu diesem Zwecke das rumänische Militär zurückzuziehen, um die demokratischsten Bedingungen für das Plebiszit zu sichern. Es muss gesagt werden – und wir versuchen vergeblich, dies in die Schädel der Vertreter der Zweiten Internationale einzuhämmern –, dass wir keineswegs die Demokratie schlichtweg unter allen Umständen ablehnen. – Im Vergleich mit dem Absolutismus, mit dem Zarismus war die Demokratie ein Fortschritt, und es wäre selbstverständlich ein Schritt vorwärts, wenn es gelungen wäre, ein demokratisches Regime herzustellen, und sei es auch nur vorübergehend, zwecks Befragung der Bevölkerung darüber, welchem Lande sie angehören möchte. Aber das wurde abgelehnt. Bedeutet das Krieg? Es versteht sich, dass wir keine Garantie übernehmen können, dass es zwischen uns und Rumänien überhaupt und unter keinen Umständen jemals zum Kriege kommen wird. Rumänien hat eine Armee, und wir haben auch eine. Rumänien unterhält seine Armee für bestimmte Zwecke, und auch wir halben für irgendwelche Zwecke unsere Armee. Was bedeutet der Abbruch der Verhandlungen? Es gibt ein französisches Sprichwort: „Die Türen können zu- oder offengelassen werden." Im gegebenen Fall würde die Schließung der Tür bedeuten, die „Anerkennung de jure", d. h. die Annexion Bessarabiens durch Rumänien gesetzlich zu machen. Was würde bedeuten: die Türe aufmachen? Unter den gegebenen Bedingungen würde es bedeuten, sie gewaltsam aufbrechen; für eine derartige Aufbrechung gibt es im internationalen Maßstab Infanterie, Artillerie und Kavallerie. Was werden wir nun tun? Keins von beiden. Wir lassen die Türe halb offen. Was bedeutet das? Wir erkennen die bessarabische Annexion nicht an und sagen das offen den Arbeitern aller Länder und vor allem den Arbeitenden Bessarabiens und Rumäniens. Das ist eins, und dann warten wir ab. Die Lage ist unveränderlich. Viele Länder, die früher unter den Bojaren oder den Menschewiken standen, sind inzwischen gute Sowjetländer geworden. Dieses Schicksal kann und wird auch Bessarabien ereilen und auch Rumänien. Unsere Politik gegenüber Rumänien ist somit eine, ich möchte sagen, abwartende, nicht ganz neutrale und ebenfalls keine sehr „wohlwollende".

Die Politik Frankreichs

Aber die Politik Rumänien« ist keine selbständige Politik. Hinter Rumänien steht Frankreich. Frankreich steht auch hinter Polen, hinter China und versucht, sich auch hinter die Türkei zu «teilen, Gerade jetzt,' wo scheinbar der Augenblick einer Verständigung mit Frankreich näher rückt – wenigstens werden die angesehensten Publizisten in den führenden Organen der französischen Bourgeoisie nicht müde. das zu behaupten, und selbst Poincaré macht in höflichem Tone allerhand Zurufe an Tschitscherin –, dieses Frankreich hat den feindseligen Charakter seiner Politik gegenüber uns verzehnfacht. Die Franzosen haben in ihrem Parlament die Angliederung Bessarabiens an Rumänien „ratifiziert" – für Raub, Diebstahl und gewaltsame Aneignung gibt es bekanntlich sehr komplizierte Worte, wie Annexion, de jure Ratifizierung u. a. Gleichzeitig begann Frankreich eine Kampagne gegen uns in Polen. Ein so feindseliger Ton gegen uns war in der polnischen Presse seit langem nicht mehr zu verzeichnen. Und schließlich haben wir ernste Nachrichten darüber, dass Frankreich alle Anstrengungen macht, um uns mit der Türkei zu entzweien. Einige Organe der türkischen Presse, die bisher eine ziemlich freundschaftliche Stellung Sowjetrussland gegenüber eingenommen hatten. beginnen eine ganz andere Sprache zu fuhren. Wenn auch der französische Franken stark gesunken ist. so scheint er doch für das Ohr gewisser Journalisten der türkischen Presse einen angenehmen Klang zu haben. Frankreich unterstützt auch die kleine Entente, gewährt ihr Hunderte von Millionen für Rüstungszwecke und hetzt sie gegen uns. Zu gleicher Zeit aber erklärt das regierende Frankreich im Parlament und in der Presse, dass es keine Interessengegensätze mit Sowjetrussland gäbe, und dass eine Verständigung durchaus möglich sei.

Welcher ist der Sinn dieser Politik? Es ist der krasse und vollendete Ausdruck einer Erpresserpolitik der Börsenwölfe. Poincaré will uns zu Gemüte führen, dass wir ohne Frankreich allerorts auf Schwierigkeiten stoßen würden: die kleine Entente gegen uns, Rumänien gegen uns, in Polen angeblich eine Entrüstungswelle gegen uns, und selbst in der Türkei scheinbar eine Wendung gegen uns. Und Frankreich sagt uns: Bezahlt uns unsere Rechnung, dann werden die kleinen Ansprüche der kleinen Mächte verschwinden. Es ist selbst verständlich, dass Frankreich sowohl Polen als auch Rumänien als auch die Türkei verraten wird, sobald wir uns einverstanden erklären, die Zinsen für die Schulden zu bezahlen und überhaupt uns vor Poincaré beugen werden. Und inzwischen Erpressung, Nadelstichpolitik. Neben dem Wolfsrachen der Fuchsschwanz, die Versicherung der führender französischen Organe, dass es keine Gegensätze zwischen Frankreich und uns gebe. Es ist klar, Poincaré wird sich hierbei verrechnen. Sein Vorgänger auf diesem Wege war Clemenceau, ein Mann von etwas größerem und stärkerem Format. Clemenceau umgab uns mit einem Stacheldrahtverhau, er würgte uns durch die Blockade. Wir haben diesen Stacheldrahtverhau durchbrochen und wir sagen heute: Wenn Clemenceau es nicht vermochte, mit seinem Stacheldrahtverhau uns zugrunde zu richten, so wird auch Poincaré uns mit seiner Nadelstichpolitik nicht ins Bockshorn jagen.

Frankreich gehört bekanntlich zu den Ländern, die Sowjetrussland nicht anerkannt haben, und diese Nichtanerkennung bildet eines jener Mittel der Erpressung, die es uns gegenüber anwendet. Die ganze französische Politik von heute ist überhaupt auf Erpressung aufgebaut: einer platonischen, hoffnungslosen Erpressung in Bezug auf uns und einer realen, materiellen Erpressung in Bezug auf Deutschland.

Hierin besteht der grundlegende Unterschied in der Lage der Sowjet-Republik und der bürgerlichen deutschen Republik. In Deutschland herrschte einige Jahre lang die menschewistische Sozialdemokratie in der ultrademokratischen Republik, und das Ergebnis? In internationaler Hinsicht erwies sich die Demokratie als Lappen, an dem sich die Generale Poincarés ihre Stiefel abwischen. Die von der Diktatur des Proletariats gekrönte Republik dagegen erwies sich international als der granitene Felsen, an dem sich die Imperialisten der ganzen Welt die Zähne ausbissen. Das ist eine glänzende Lehre für die Arbeiterklasse und für diejenigen Menschewisten, die überhaupt noch fähig sind, etwas zu lernen.

Das Ergebnis der bevorstehenden Kammerwahlen in Frankreich wird möglicherweise ein Sieg des „linken Blocks" sein. Die Außenpolitik dieses Blocks wird sich von der Politik Poincarés kaum mehr unterscheiden, als die Politik MacDonalds von der Politik Baldwins. Unterdessen bereitet sich dank den bilanziellen Schwierigkeiten Frankreichs die revolutionäre Lösung des Knotens vor.

Die „Arbeiter“-Regierung in England

Ich las dieser Tage eine Rede, die MacDonald in einem evangelischen Verein gehalten hat. Er sprach voll Empörung vom Klassenkampf, predigte darüber, dass die Gesellschaft nur durch christliche Moral gerettet werden könne. Ist es da verwunderlich, wenn er mit Entrüstung von der Sowjetrepublik spricht? Und was nun? Dieser Puritaner, Pazifist. Prediger der christlichen Moral, hat, kaum dass er die Regierung übernahm, den Bau von fünf neues Kreuzern bestätigt. Ein Kollege von ihm erklärte, dass auf dem Gebiet des Militärflugwesens das Programm der früheren konservativen Regierung unverändert bleibt, und schließlich wird der Bau von leichten Tanks nach der Übernahme der Macht durch die „Arbeiter"-Regierung in England mit Volldampf fortgesetzt. So sieht der christliche Pazifismus in Wirklichkeit aus! Kein Wunder, erklärt doch derselbe MacDonald, dass in der Politik Stetigkeit Not tue, d. h. was die Konservativen gemacht haben, das machen auch wir.

In seinem Briefe an Poincaré schreibt MacDonald, das Bündnis zwischen England und Frankreich bilde die Grundlage des europäischen Friedens und der Ordnung. Weshalb? Woher diese Schlussfolgerung? Das heutige Frankreich ist doch der Hort der Reaktion und des Militarismus. Weshalb muss diese Arbeiterregierung Englands im Bündnis stehen mit der gemeinen französischen Plutokratie? Weshalb könnte nicht eine englische Arbeiterregierung, eine echte Arbeiterregierung, ein Bündnis mit uns schließen? Wäre das etwa ein schlechtes Bündnis ein Bündnis der englischen Arbeiterklasse mit der Arbeiterklasse der Sowjetrepubliken? Zwischen dem zaristischen Russland und dem kapitalistischen England wurde ein langwieriger Kampf geführt. Das zaristische Russland suchte England in den Kolonien, vor allem in Indien, in die Klemme zu bringen, und England sperrte Russland den Ausgang durch die türkischen Meerengen. Bismarck nannte diesen Kampf Russlands gegen England eine Rauferei des Elefanten mit dem Walfisch. Aber jetzt, bei einem neuen, großen geschichtlichen Wendepunkt, weshalb sollte der englische Walfisch nicht ein Bündnis schließen mit dem Sowjetelefanten? Die englische Industrie, das englische Volk braucht unsere Felder, unsere Wälder, unser Getreide, unsere Rohstoffe, und wir brauchen ihr Kapital, ihre Technik. Ein Bündnis der Arbeiterregierung Englands mit uns wäre das stärkste Mittel, um das bürgerliche Fränkisch im Zaume au halten, damit es nicht mehr wage, in Europa Unfug zu treiben und es zu ruinieren. Gemeinsam mit den Arbeitern Englands hätten wir Europa helfen können, die Last der Rüstungen zu verringern. Wir würden der Schaffung der Vereinigten Arbeiter- und Bauernstaaten Europas näherkommen, ohne die Europa der unvermeidliche wirtschaftliche und politische Zerfall droht. Was tut aber MacDonald? Dieser fromme Pazifist wendet sich an Poincaré, diesen bösartigsten Vertreter der französischen Börsenmänner, dass er ausgerechnet mit ihm das Bündnis aufrecht erhalten will – folglich ein Bündnis gegen uns und die arbeitenden Massen Europas. Hier haben wir den echten Menschewismus vor uns, wie er leibt und lebt, und zwar nicht den Menschewismus im Westentaschenformat, sondern den Menschewismus im Weltmaßstab, der in einem Lande ans Ruder gelangt ist. welches Hunderte von Millionen kolonialer Sklaven einschließt.

In wenigen Wochen seiner Herrschaft hat der englische Menschewismus es verstanden, sich in den Kolonien, sowohl in Indien wie in Ägypten, wo die revolutionär-nationalen Strömungen unter der Losung der völligen Lostrennung von England gesiegt haben, sich verhasst zu machen. Die Menschewisten könnten einwenden, die englische Industrie könne ohne die indische und ägyptische Baumwolle nicht auskommen. Als ob es darum ginge! Wenn MacDonald versuchen wollte, sich mit den Indern und Ägyptern auf dem Boden der vollständigen Anerkennung ihrer Unabhängigkeit zu verständigen, dann hätte England seine Baumwolle im Austausch gegen Maschinen, es hätte seine wirtschaftlichen Verbindungen, und diese Verbindungen hätten sich fortentwickelt. Aber MacDonald tritt auch hier als menschewistischer Kommis der englischen Imperialisten auf.

Und schließlich noch eine Tatsache, die in der Geschichte geradezu von symbolischer Bedeutung ist. Es handelt sich um das Kalifat. Die Türkei hat bekanntlich das Kalifat abgeschafft. Das ist ein Schritt in der Richtung des liberal-bürgerlichen Fortschritts. Die nationale Türkei wirft von sich die feudalen, sultanischen, kalifatischen Messgewänder ab und wird ein mehr oder weniger demokratisch-bürgerliches Land. Das ist ein riesiger. Fortschritt. Was tut da die Regierung MacDonald, die menschewistische „Arbeiter"-Regierung? Sie lässt einen neuen Kalifen in Hedschas, den sogenannten Scheich von Mekka und Medina, krönen, um in seiner Person ein Werkzeug der kolonialen Versklavung zu besitzen. MacDonald subsidiert diesen neu gebackenen Kalifen von Hedschas. Eine Einzelheit. Zum Staat des Kalifen gehört auch ein großer Harem. Bei der in England bestehenden Arbeitslosigkeit und den Schwierigkeiten des englischen Haushalts, wird MacDonald wahrscheinlich die Arbeitslosen-Unterstützungen etwas beschneiden müssen, um die Ausgaben für den Harem des Kalifen decken zu können. Das alles scheint eine Anekdote, ist aber eine Tatsache, die aus der Geschichte nicht ausgemerzt werden kann. Man denke nur! Dieses „zivilisierte" und „humane“ England, das einst durch den Mund Gladstones Donner und Blitz gegen die Türkei schleuderte wegen ihrer Rückständigkeit und ihres Barbarentums. Und jetzt, wo die Türkei sich erhoben und den Sultan fortgejagt hat, stellt das parlamentarische England, gekrönt durch die menschewistische Regierung MacDonald. unter seinem Protektorat, das Kalifat wieder her. Daran mag ermessen werden, wie tief die bürgerliche Demokratie gesunken ist.

MacDonald bereitet selbst durch seine Politik den Fall seines Kabinetts vor. Nicht nur, dass die liberale Partei jeden Augenblick das Ministerium MacDonald stürzen kann, sie untergräbt auch die politische Autorität, welche die Arbeiterpartei unter der Arbeiterschaft noch besitzt. Ein Teil der Arbeiter, der aristokratischere, der bessergestellte Teil, der bei den letzten Wahlen für die Arbeiterpartei stimmte, wird bei den nächsten Wahlen wahrscheinlich für die Liberalen stimmen. Die breite Arbeitermasse wird einen Ruck nach links machen. In welchem Tempo – das lässt sich nicht voraussagen, aber unzweifelhaft wird das Ergebnis der menschewistischen Regierungsherrlichkeit eine bedeutende Erstarkung des revolutionären Flügels in der englischen Arbeiterklasse sein. MacDonald arbeitet für die Kommunisten. Jawohl, im Sinne der internationalen Revolution arbeitet er letzten Endes für uns. natürlich unbewusst. Selbst von den Liberalen und Konservativen gedrängt, die ihn absichtlich zu kompromittieren suchen, indem sie vor aller Welt beweisen, dass er ein Spielzeug in ihren Händen bildet, drängt MacDonald die englischen Arbeiter auf die revolutionäre Bahn. Das wird das Endergebnis dieses historischen Experiments sein – der Übernahme der Regierungsmacht durch die englische Labour Party.

Die Perspektive für Deutschland.

Das letzte Jahr stand im Zeichen der nahenden Revolution in Deutschland. Indessen hat die Revolution entgegen unseren Erwartungen in Deutschland nicht gesiegt. Es entsteht die Frage: Sind die objektiven Voraussetzungen für die Revolution heute noch dieselben wie im vergangenen Jahr? Diese Frage ist sehr wichtig für die Beurteilung sowohl der internationalen Lage überhaupt, wie der Lage Deutschlands im Besonderen. Während der letzten Monate hat sich die Lage in Deutschland stark verändert. Eine gewisse Stabilisierung der Mark ist erreicht worden, das rasche Springen der Preise nach oben hat aufgehört, die Industrie entwickelt sich, das Wirtschaftsleben ist besser als im Vorjahre, die Arbeitslosigkeit hat abgenommen, die Lage der Arbeiterklasse hat sich etwas gebessert. Das sind unbestreitbare Tatsachen. Die Zuspitzung der Lage hat somit eine gewisse Milderung erfahren.

Was nun?

Diese Frage kann nur ganz allgemein beantwortet werden. Aber die Antwort dürfte doch genügen, um die Perspektiven, die wir vor uns haben, zu beurteilen. Die europäische Entwicklung kann in nächster Zeit auf zweierlei Weise vor sich gehen, je nachdem ob die Entente Deutschland eine Atempause gewährt oder nicht. Nach der Erfahrung des vergangenen Jahren, nachdem das rote Gespenst des Kommunismus in Deutschland beinahe Wirklichkeit geworden wäre, könnte die Bourgeoisie Frankreichs, Englands und der Vereinigten Staaten möglicherweise versuchen, die Lage Deutschlands zu erleichtern, ihm einigen Kredit und einen Zahlungsaufschub zu gewähren, wodurch das Wirtschaftsleben Deutschlands aufrecht erhalten werden könnte. Das wird unvermeidlich einen gewissen Aufschwung der deutschen Industrie und im Zusammenhang damit ein Anwachsen der deutschen Ausfuhr zur Folge haben. Die deutsche Industrie produziert jetzt ungefähr 50 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit; sobald die wirtschaftliche und finanzielle Lage Deutschlands sich etwas gebessert hat, wird die deutsche Ausfuhr rasch steigen. Andererseits ist die Aufnahmefähigkeit des europäischen Marktes eng begrenzt, und als Ergebnis des Anwachsens der deutschen Ausfuhr wird sich nach einem Jahr oder gar schon früher eine katastrophale Krise der englischen und französischen Industrie einstellen. Die geringste Erleichterung für Deutschland wird unvermeidlich die Krise in England verschärfen, wo immer noch rund eine Million Arbeitslose zu verzeichnen ist. Es ist vollkommen klar, dass dies dem englischen Proletariat einen mächtigen Anstoß zum Kampf geben wird. MacDonald, der jetzige englische Ministerpräsident begreift natürlich sehr wohl, dass unter den heurigen Bedingungen eine Hilfe für die deutsche Industrie einen Schlag für die englische Industrie bedeutet. Weil er das begreift, wird er seine Hände in Unschuld waschen. Auf eine Revision des Versailler Vertrages hat er bereits verzichtet, (gesetzt den Fall, dass auch die Vereinigen Staaten Deutschland nicht zu Hilfe kommen werden, und dass Poincaré seine Erdrosselungspolitik gegenüber Deutschland fortsetzen wird: in diesem Falle wird die deutsche Mark in einigen Wochen beginnen noch rasender zu fallen, die Preise werden nicht weniger rasend steigen, die Industrie verfallen, die Arbeitslosigkeit wieder wachsen, und die Revolution wird in einem noch schnellerem Tempo sich entwickeln, als es im vergangenen Jahre der Fall war. Aber die deutsche Kommunistische Partei wird nicht mehr die Partei sein, die sie im vergangenen Jahre war. Sie wird dastehen erfahrener, durch neue Prüfungen gestählter, und das wird im gigantischem Ausmaße die Aussichten des Sieges vergrößern. Wir haben somit vor uns zwei Perspektiven: Entweder eine vorübergehende Milderung der revolutionären Lage in Deutschland um den Preis einer unvermeidlichen Verschärfung der revolutionären Verhältnisse in ganz Europa, oder eine Hinausschiebung der Krise in England und Frankreich um den Preis einer ungeheuren Verschärfung der Klassengegensätze in Deutschland. In dem einen wie in dem anderen Falle wird Europa durch grandiose revolutionäre Erschütterungen hindurch müssen. So stellt sich meines Erachtens die allgemeine Lage im Zusammenhang mit der Entwicklung in Deutschland

Die Vereinigten Staaten und der kommende Krieg

Die Vereinigten Staaten fahren fort, in ihrem ungeheuren Wirtschaftsmagen jene Reichtümer zu verdauen, die sie während und nach dem imperialistischen Kriege in Europa zusammengerafft haben. Die Vereinigten Staaten haben sich durch die Ausräuberung, die Ohnmacht und den Aderlass Europas in einen kolossalen babylonischen Turm der bürgerlichen Macht verwandelt. Mit der Verdauung des Geraubten beschäftigt, halten sie sich abseits von den europäischen Angelegenheiten. Aber gleichzeitig bereiten sie sich gründlich auf den kommenden Krieg vor. Im Vordergrund stellen das Flugwesen und die Gase. Das alles wird vorbereitet nicht allein zur Schwächung Japans, sondern auch für Europa. In den Zeitungen kann man ab und zu ungefähr folgendes lesen: Die aufgeklärten Amerikaner halten die alten Kriegsmethoden für zu barbarisch, zu veraltet, zu mittelalterlich, und dass sie deshalb dafür sind, neue Methoden anzuwenden, feinere, chemische, „humane", die nicht töten, sondern nur einschläfern und sogar süße Träume hervorrufen lassen. Wir wissen, welche Bedeutung das sogenannte „Heiterkeit erregende" Gas bei gewissen Operationen hat.

Soviel ich weiß, bedienen sich manche Dentisten beim Zähneziehen eines solchen Gases. Wenn aber das amerikanische Kapital „belustigende“ Gase vorbereitet, um bei Gelegenheit Europa die revolutionären Zähne auszuziehen, so müssen wir sehr auf der Hut sein. Vorläufig werden im aufgeklärten Amerika diese Gase an den Sträflingen ausprobiert, die man heute nicht mehr „elektrifiziert" – ein rückständiges Mittel! sondern der Wirkung der „belustigenden" Gase aussetzt. Das ist das letzte Wort der Technik und der quäkerlichen „Humanität"!

Die Amerikaner versprechen, ganze Städte. Landstriche, Gebiete der Wirkung ihrer Gase auszusetzen. Man stelle sich diese Perspektive vor! Das reiche und satte Amerika hetzt auf das hungrige und revolutionäre Europa eine Luftflotte und schleudert auf unsere Häupter seine „belustigenden" Gase. Das ist kein phantastischer Roman. Schon im verflossenen imperialistischen Kriege wurden in ausgedehntem Maße Giftgase in Anwendung gebracht. Die alten Vernichtungsmethoden erwiesen sich als unzureichend. Die Kriegschemie wird heute in zwei Teile geteilt: Sprengstoffe und vergiftende. Ich mag nicht entscheiden, welcher von beiden „humaner" ist. In Leningrad haben wir ein militärisch-chemisches Museum, eine notwendige militärische Einrichtung: aber gestern las ich, dass in diesem Museum ein Plakat angebracht sein soll des Inhalts, dass der Feind nicht vernichtet zu werden brauchte, man müsse ihn durch Gase lahmlegen Hier, scheint's. beginnen wir den bürgerlichen Heuchlern nachzuahmen. – Diese Nachahmung steht uns nicht! Es ist unwahr, dass die Gase „humaner" seien. Wenn morgen irgendein Land ein Gas entdeckt, das imstande ist ganze Armeen zu töten, dann wird es diese Gas ohne Bedenken gegen die Feinde in Anwendung bringen. Der Krieg an und für sich ist schmachvolles und widerliches Barbarentum, das wissen wir sehr wohl. Aber mit faden Redensarten über „humane" Methoden der Kriegführung wollen wir uns nicht befassen. Das überlassen wir den Puritanern und Quäkern, uns stehen solche Redensarten durchaus nicht zu Gesicht. Wir nehmen die Tatsachen in ihrer natürlichen Gestalt, so wie sie sind, ohne andere oder uns selbst zu betrügen. Nicht humanisieren muss man den Krieg, sondern vernichten. Wie? Indem wir die kapitalistische Gesellschaft vernichten. Einen anderen Weg gibt es nicht. Deswegen waren und bleiben wir die Todfeinde der bürgerlichen Ordnung. Wir steuern unseren Kurs nach wie vor und in noch festerer Überzeugung als jemals in der Richtung der sozialen Revolution.

Die Revolution unvermeidlich

Aber Ihr werdet Euch verrechnen!“ schreiben die Reformisten – „habt Ihr nicht auch gehofft, dass der Krieg unmittelbar in die Revolution ausmünden wird?" Jawohl, das hofften wir, und in der Tat drohten am Ausgang des letzten Krieges der europäischen Bourgeoisie die Todesgefahr. Aber nur bei uns ist die Revolution vollendet worden. In Deutschland und Österreich-Ungarn blieb sie auf halbem Wege stehen. Frankreich war tief erschüttert, in England entfalteten sich mächtige Streikbewegungen, zu einer Revolution ist es jedoch nicht gekommen. Wir aber rechneten in den Jahren 1918-19 in der Tat mit einer raschen, siegreichen Entwicklung der europäischen Revolution. Wir haben uns im Tempo geirrt. Worin bestand das Wesen unseres Irrtums? Darin, dass wir trotz unserer ganzen Erfahrung die Bedeutung einer revolutionären Partei unterschätzt haben. Die revolutionäre Lage war gegeben. Europa war bis auf den Grund zerrüttet. Zähneknirschend verließen die Arbeiter und Bauern die Schützengraben. Was fehlte in Europa? Es fehlte eine bolschewistische Partei. 1918-1919 waren alle Voraussetzungen für eine proletarische Revolution gegeben. Es gab nur keine proletarische Partei. Und nichtsdestoweniger erlebte das kapitalistische Europa in dieser ersten Nachkriegsstunde seinen ersten Schlaganfall. Es widerstand, erholte sich und versucht jetzt so zu tun, als ob es ganz gesund sei. Aber wir wissen, dass es nichts weiter ist als ein historischer Aufschub – zwischen dem ersten und dem zweiten Schlaganfall Dieser zweite Schlaganfall wird tödlich sein, er wird der europäischen Bourgeoisie das Ende bereiten. Wie lange die Zwischenzeit andauert, wiesen wir nicht. Der kapitalistisch Organismus, der selbst im Todeskampf, in seinen Todeskrämpfen noch imstande ist, harte Schläge zu versetzen.

Aber wenn morgen oder übermorgen Europa von neuen revolutionären Krämpfen ergriffen werden sollte und das Proletariat Deutschlands und Frankreichs nach unserer Seite hinüber schauen sollte, Unterstützung und Hilfe bei der Sowjetrepublik suchend, dann wird es in uns dieselben eisernen, stahlharten Bolschewiki finden. Schüler und Erben des Werkes von Lenin, die durch strenge Disziplin zusammengeschweißt und bereit sind, bis ans Ende zu kämpfen, wo die Revolution es verlangt.

1Der nachfolgende Artikel stellt einen Auszug aus der Rede dar, die Genosse Trotzki in Tiflis am 11. April gehalten hat.

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