Vorwort

Vorwort

[Nach Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-28. Band I, Westberlin 1976, S 346-349]

Die vorliegende Broschüre erscheint mit beträchtlicher Verspätung: Ich wurde durch eine Krankheit verhindert, sie früher zu veröffentlichen. Aber letzten Endes wurden die Fragen in der bisherigen Diskussion erst gestellt. Um diese innerparteilichen und wirtschaftlichen Fragen haben sich in der Diskussion Staubwolken erhoben, die oft einen fast undurchdringlichen Schleier bilden und die Sicht behindern. Aber das vergeht. Der Staub wird sich setzen. Die wirklichen Umrisse der Fragen werden wieder zum Vorschein kommen. Das kollektive Denken der Partei wird allmählich das aus den Debatten herausziehen, was es braucht, und wird so reifer und selbstsicherer werden. Und dadurch wird die Basis der Partei breiter und ihre Führung sicherer. Und darin besteht der objektive Sinn der Resolution des Zentralkomitees über den neuen innerparteilichen Kurs, unabhängig davon, welcher „im Nachhinein veränderten" Interpretation sie unterworfen wird. Die gesamte frühere Arbeit zur Säuberung der Partei, zur Hebung ihrer politischen Kenntnisse und ihres theoretischen Niveaus, und endlich die Festsetzung einer Probezeit für Parteifunktionäre,kann nur in der Verbreiterung und Vertiefung der Selbständigkeit des gesamten Parteikollektivs ihre Vollendung erfahren, denn diese Selbständigkeit ist die einzige ernsthafte Garantie gegen alle Gefahren, die mit der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) und mit der langsamen Entwicklung der europäischen Revolution zusammenhängen.

Zweifellos kann aber der neue Kurs der Partei nur Mittel und nicht Selbstzweck sein. Für die nächste Periode kann man sagen, dass das Gewicht und der Wert des neuen Kurs dadurch bestimmt werden, in welchem Maße er uns die Lösung der zentralen wirtschaftlichen Aufgabe erleichtern wird. Die Verwaltung unserer Staatswirtschaft ist notwendigerweise zentralisiert. Das führte in der ersten Zeit dazu, dass die Fragen und verschiedenen Ansichten in Bezug auf die zentrale Wirtschaftsführung sich auf einen äußerst engen Personenkreis beschränkten. Die gesamte Partei hat sich bisher noch nicht hinreichend mit den grundlegenden Fragen und Schwierigkeiten der geplanten Wirtschaftsführung beschäftigt. Auch auf dem XII. Kongress wurden die Fragen der geplanten Wirtschaftsführung nur formal behandelt. Das erklärt im Wesentlichen, warum die Wege und Methoden, die in der Resolution des XII. Kongresses festgesetzt wurden, bis in die jüngste Zeit kaum angewendet wurden und warum das Zentralkomitee in diesen Tagen von neuem das Problem aufwarf, dass es notwendig ist, die ökonomischen Beschlüsse des XII Kongresses, vor allem die in Bezug auf Gosplan (staatliche Planungskommission), in die Praxis umzusetzen.

Aber auch diesmal wurde der Beschluss des Zentralkomitees von verschiedenen Seiten skeptisch aufgenommen, was Gosplan und die geplante Leitung überhaupt betrifft. Hinter dieser Skepsis steckt kein schöpferischer Gedanke, kein theoretischer Grund und überhaupt nichts Ernsthaftes. Und wenn dieser billige Skeptizismus überhaupt in der Partei geduldet wird, so bedeutet das eben, dass die gesamte Partei sich noch nicht hinreichend mit den Fragen der zentralisierten, geplanten Wirtschaftsführung beschäftigt hat. Dabei hängt das Schicksal der Revolution vollkommen von der erfolgreichen Wirtschaftsführung ab.

Diese Broschüre beschäftigt sich nur im letzten Kapitel mit der Frage der geplanten Leitung, und zwar anhand eines besonderen Beispiels, das wir nicht willkürlich gewählt haben, sondern das uns durch die Diskussion in der Partei aufgezwungen wurde. Es ist zu hoffen, dass die Partei sich mit all diesen Fragen weit konkreter auseinandersetzen wird, als das jetzt der Fall ist. Wenn man die augenblickliche ökonomische Diskussion von außen betrachtet – in dieser Situation befinde ich mich gegenwärtig – scheint es, als ob die Partei um ein Jahr zurückgegangen sei, um die Beschlüsse des XII. Kongresses von neuem, kritischer auszuarbeiten. Das bedeutet aber, dass die Fragen, die praktisch das Monopol eines engen Kreises von Personen bildeten, nun langsam in den Blickpunkt der gesamten Partei rücken. Ich kann meinerseits den Genossen, die sich mit Wirtschaftsfragen beschäftigen, nur raten, die Diskussion auf dem XII. Kongress über die Wirtschaft aufmerksam zu studieren und von ihr die notwendigen Verbindungen zur augenblicklichen Diskussion herzustellen. Ich hoffe schon in nächster Zeit auf diese Fragen zurückzukommen. Man muss zugeben, dass im Laufe sowohl der mündlichen wie auch der schriftlichen Diskussion in der Partei eine ungeheure Menge von „Tatsachen" und Nachrichten in Umlauf gebracht worden sind, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben und die – sanft gesprochen – das Ergebnis flüchtiger Eingebungen sind. Beweise hierfür werden sich in unserer Broschüre finden. Wenn man zu dermaßen groben Mitteln greifen muss, so zeigt das im Grunde genommen Geringschätzung gegenüber der Partei. Und ich meine, dass die Partei auf derartige Methoden mit einer sorgfältigen Überprüfung der Zitate, Zahlen und Tatsachen antworten muss, die in Umlauf gebracht wurden. Das ist eines der wichtigsten Mittel zur Selbsterziehung und zur Erziehung der Partei. Unsere Partei ist reif genug, um nicht zwischen „absoluter Windstille" und haltloser Wut in der Diskussion schwanken zu müssen. Ein stabileres Regime der innerparteilichen Demokratie wird der Diskussion in der Partei den ihr gebührenden Charakter sichern und dazu erziehen, der Partei nur überprüfte Angaben zu unterbreiten. In dieser Beziehung muss sich die öffentliche Meinung der Partei zu unerbittlicher Kritik erziehen. Die Betriebszellen müssen sowohl die Voraussetzung als auch die Ergebnisse der Diskussion an ihrer täglichen Erfahrung überprüfen. Es wäre auch äußerst nützlich, wenn die Schuljugend ihren historischen, ökonomischen und statistischen Arbeiten eine sorgfältige Überprüfung der Angaben zugrunde legen würde, von denen die aktuelle Parteidiskussion ausgeht und auf die die Partei morgen oder übermorgen ihre Beschlüsse gründen wird.

Ich wiederhole nochmals: Die wichtigste Errungenschaft, die die Partei gemacht hat und die sie festhalten muss, besteht in der Tatsache, dass die grundlegenden ökonomischen Fragen, die in ein paar Institutionen entschieden wurden, jetzt in den Blickpunkt der gesamten Parteimassen gerückt sind. Und eben dadurch treten wir in eine neue Periode ein. Der polemische Staub wird sich setzen, die falschen Angaben werden vom Denken der Partei zurückgewiesen werden, und die grundlegenden Fragen des Wirtschaftsaufbaus werden nicht mehr aus dem Blickfeld der Partei verschwinden. Die Revolution wird daran gewinnen.

L. Trotzki

P.S. In diese Broschüre wurden zusammen mit den Kapiteln, die in der „Prawda" erschienen sind, einige neue Kapitel aufgenommen, und zwar folgende: „Bürokratismus und revolutionäre Politik", „Unterschätzung der Bauernschaft", „Planwirtschaft". Was die früher erschienenen Artikel betrifft, so habe ich kein einziges Wort in ihnen geändert: Das wird die Leser leichter beurteilen lassen, wie ungeheuerlich der Sinn dieser Artikel verdreht wurde und manchmal im Laufe der Diskussion verdreht wird.

L. T.

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