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Leo Trotzki 19240421 Die Aussichten und die Aufgaben der Kommunisten im Osten

Leo Trotzki: Die Aussichten und die Aufgaben der Kommunisten im Osten

Rede bei der Feier des dreijährigen Bestandes der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens am 21. April 1924.

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 4. Jahrgang Nr. 59 (27. Mai 1924), S. 704-708]

Vom Büro Eurer Zelle, Genossen, habe ich Materialien erhalten, die die Arbeit Eurer Universität im Verlaufe der drei Jahre kennzeichnen, wobei auf meine Bitte die Genossen mit Rotstift alles Wesentliche unterstrichen, und mir dadurch beträchtlich das Bekanntwerden mit den Materialien erleichtert haben; denn – ich weiß nicht, soll ich es sagen, zu meiner Schande oder zu meinem Schmerze – ich hatte nicht die Möglichkeit, aufmerksam, nicht nur von Tag zu Tag, sondern auch von Monat zu Monat, die Arbeit Eurer Universität zu verfolgen, die eine außerordentliche und, was ich durchaus nicht so gerade nur mit der bei Jubiläen üblichen Übertreibung sage, weltgeschichtliche Bedeutung hat.

Genossen, obgleich es vielleicht bei Jubiläumsversammlungen nicht vorgesehen ist, sich der Theorie hinzugeben, gestattet mir doch, einige Betrachtungen allgemeiner Natur vorzubringen, die meine Erklärung rechtfertigen sollen, dass Eure Universität nicht irgendeine gewöhnliche Lehranstalt ist, wenn auch eine revolutionäre, sondern ein Hebel von weltgeschichtlicher Bedeutung …

Die ganze gegenwärtige politische und kulturelle Bewegung stützt sich auf den Kapitalismus, wächst aus ihm hervor, ist aus ihm erwachsen und ist über ihn hinausgewachsen. Aber der Kapitalismus hat, schematisch genommen, zwei verschiedene Gesichter, den Kapitalismus der Mutterländer und den Kapitalismus der Kolonien. Das klassische Beispiel eines Mutterlandes ist England. Gegenwärtig ist es mit der sogenannten „Arbeiter"-Regierung MacDonald beglückt. Bei den Kolonien macht es mir Mühe, zu sagen, welche von ihnen die typischste als Kolonie ist: soll dies Indien sein, das es im formalen Sinne ist, oder China, das das Ansehen der Selbständigkeit bewahrt, aber nach seiner Weltstellung und dem Gange seiner Entwicklung dem kolonialen Typus angehört? Der klassische Kapitalismus ist in England. Marx schrieb sein „Kapital" in England, indem er unmittelbar die Entwicklung des größten führenden Landes beobachtete, dies wisst Ihr – ich kann mich nicht erinnern, in welchem Kurse Ihr dies durchnehmt In den Kolonien entwickelt sich der Kapitalismus nicht aus sich selbst heraus, sondern durch das Eindringen ausländischen Kapitals. Dies ist es, was zwei verschiedene Typen schafft. Warum ist MacDonald wenn er in nicht sehr wissenschaftlichen, aber dennoch völlig deutlichen Ausdrücken spricht, so konservativ, so beschränkt, so stumpf? Weil England das klassische Land des Kapitalismus ist, weil dort der Kapitalismus sich organisch vom Handwerk durch die Manufaktur zur modernen Industrie entwickelt hat, Schritt für Schritt, auf „evolutionärem" Wege, und die Vorurteile von gestern und vorgestern und die Vorurteile des vorigen und vorvorigen Jahrhunderts könnt Ihr unter dem Schädel MacDonalds entdecken. (Beifall.)

Hier zeigt sich auf den ersten Blick ein geschichtlicher Widerspruch: warum ist Marx im zurückgebliebenen Deutschland aufgetaucht, im zurückgebliebensten der großen Länder in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – natürlich von Russland abgesehen –, warum ist Marx in Deutschland aufgekommen, und warum ist Lenin in Russland aufgetaucht an der Grenze des 19. und 20. Jahrhunderts? Ein offensichtlicher Widerspruch! Aber was für einer? Ein solcher, der durch die sogenannte Dialektik der geschichtlichen Entwicklung erklärt wird. In der Gestalt der englischen Maschinen, in der Gestalt des englischen Baumwollgewebes hat die Geschichte den revolutionärsten Faktor der Entwicklung geschaffen. Aber diese Maschinen und dieses Baumwollgewebe in England arbeiteten sich heraus und wurden geschaffen auf dem Wege eines lang andauernden und langsamen Überganges von Stufe zu Stufe, und das menschliche Bewusstsein ist im allgemeinen schrecklich konservativ. Wenn die wirtschaftliche Entwicklung langsam und planmäßig vor sich geht, so ist es ihr schwer, die menschlichen Schädel zu durchdringen. Die Subjektivisten und überhaupt die Idealisten sagen, dass das menschliche Bewusstsein, das kritische Denken usw. usw. die Geschichte vorwärts ziehen, wie ein Schlepper hinter sich eine Barke herzieht. Das ist falsch. Wir alle sind Marxisten und wissen, dass der treibende Faktor in der Geschichte die Produktivkräfte sind, die sich bisher auf den Nacken des Menschen gelegt haben und denen es sehr schwer ist, den konservativen Schädel des Menschen zu durchbohren, um dort den Funken neuer politischer Gedanken hervorzurufen, besonders, wiederhole ich, wenn die Entwicklung langsam, organisch, unmerklich vor sich geht.

Aber wenn die Produktivkräfte des Mutterlandes, des klassischen Landes des Kapitalismus, wie England, in rückständigere Länder eindringen, wie dies mit Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Fall war, mit uns an der Grenze des 19. und 20. Jahrhunderts und gegenwärtig mit Asien, wenn die wirtschaftlichen Faktoren revolutionär und die alte Ordnung zerbrechend, eindringen, wenn die Entwicklung nicht allmählich, nicht „organisch", sondern mittels schrecklicher Erschütterungen, scharfer Verschiebungen der gesellschaftlichen Lagerungen vor sich geht, dann findet das kritische Denken unvergleichlich leichter und schneller seinen revolutionären Ausdruck, selbstverständlich, falls sich im Lande die dafür notwendigen theoretischen Voraussetzungen finden. Darum ist Marx in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland emporgekommen, darum hat sich Lenin bei uns eingestellt, darum beobachten wir auf den ersten Blick jene paradoxe Tatsache, dass im Lande des höchst entwickelten, ältesten und bewährtesten europäischen Kapitalismus, in England, wir die konservativste „Arbeiter"-Partei haben. Und auf der anderen Seite in unserer Sowjetunion, in einem wirtschaftlich und kulturell äußerst rückständigen Lande, haben wir (sagen wir dies ungescheut, denn, dies ist Tatsache), die beste Kommunistische Partei der Welt. (Beifall.)

Man muss sagen, dass Russland gemäß seiner wirtschaftlichen Entwicklung in der Mitte steht zwischen dem klassischen Mutterlande, wie es England ist, und Kolonialländern, wie Indien oder China. Und das, was unsere Sowjetunion von England in Bezug auf die Wege und Formen der Entwicklung unterscheidet, zeigt sich noch krasser bei der Entwicklung der Länder des Ostens. Dort dringt der Kapitalismus in der Gestalt des ausländischen Finanzkapitals ein. Er wirft dorthin fertige Maschinen, erschüttert und untergräbt dort die alte wirtschaftliche Grundlage und errichtet auf deren Trümmern die babylonischen Türme der kapitalistischen Wirtschaft. Die Tätigkeit des Kapitalismus in den Ländern des Ostens ist nicht eine allmähliche und langsame, nicht eine „evolutionäre"1, sondern eine jähe, katastrophale, in vielen Fällen viel katastrophaler als bei uns, als im früheren Zarenrussland.

Von diesem grundlegenden Gesichtspunkt aus, Genossen, muss das Schicksal des Ostens in den nächsten Jahren und in den nächsten Jahrzehnten angesehen werden. Wenn Ihr solche prosaische Bücher nehmt, wie die Rechenschaftsberichte der englischen und amerikanischen Banken für die Jahre 1921, 1922 und 1923, so werdet Ihr in den Zahlen der Bankbilanzen von London und New York das morgige revolutionäre Schicksal des Ostens lesen. England hat von Neuem seine Rolle als Wucherer der ganzen Welt wieder angetreten. Die Vereinigten Staaten haben eine unglaubliche Menge Goldes angehäuft: In den Kellern der Zentralbank wird Gold um 3 Milliarden Dollars aufbewahrt, das sind 6 Milliarden Goldrubel. Dies ersäuft die Wirtschaft der Vereinigten Staaten. Wenn Ihr fragt: Wem geben England und die Vereinigten Staaten Anleihen? so ist zu sagen: Uns, der Sowjetunion, wie Ihr wahrscheinlich gehört habt, geben sie noch nichts, Deutschland geben sie sie nicht, Frankreich gaben sie kärgliche Brocken zur Rettung des Franken, wem also geben sie? Sie geben in der Hauptsache den Kolonialländern, sie finanzieren die industrielle Entwicklung Asiens, Südamerikas, Südafrikas. Ich werde Euch nicht Zahlen anführen – ich habe sie bei mir, aber dies würde mein Referat zu sehr hinausziehen – es genügt zu sagen, dass bis zum letzten imperialistischen Kriege die kolonialen und halbkolonialen Länder von den Vereinigten Staaten und England wahrscheinlich zweimal weniger Kredite als die Länder des entwickelten Kapitalismus erhielten, und jetzt übersteigen die finanziellen Anlagen in den Kolonialländern schon sehr beträchtlich die Anlagen in den alten kapitalistischen Ländern.

Warum dies? Es gibt der Gründe viele, aber zwei Hauptgründe: Misstrauen zum alten Europa, das zerrissen und entkräftet ist, mit seinem rasenden französischen Militarismus in der Mitte, der mit immer neuen Erschütterungen droht; und von der anderen Seite benötigt man die Kolonialländer als Rohstofflieferanten und Verbraucher von Maschinen und Fabrikaten Englands und der Vereinigten Staaten. Wir haben während des Krieges beobachtet, und beobachten auch jetzt eine rasend schnelle Industrialisierung der kolonialen, der halbkolonialen, überhaupt der spät entwickelten Länder: Japans, Indiens, Südamerikas, Südafrikas. Es besteht kein Zweifel darüber, dass, wenn es der chinesischen Partei Guomindang gelingt, China unter einem national-demokratischen Regime zu vereinigen, dass dann die kapitalistische Entwicklung Chinas mit Siebenmeilenschritten vor sich gehen wird. Aber dies alles bereitet die Mobilisierung ungezählter proletarischer Massen vor, die sofort dem vorgeschichtlichen halb barbarischen Zustande entrissen und in das Getriebe der Fabrikindustrie geschleudert werden. Es wird daher keine Zeit für die Aufbewahrung und Anhäufung des Kehrichts von Jahrhunderten im Bewusstsein der Werktätigen übrigbleiben; nein, in ihrem Bewusstsein wird gewissermaßen eine Guillotine wirken, die das Vergangene vom Künftigen abtrennen und sie zwingen wird, neue Gedanken, neue Formen, neue Wege des Lebens und des Kampfes zu suchen. Und hier müssen in einigen Ländern überhaupt zum ersten Male auf den Schauplatz treten, in anderen sich weit und kühn entfalten die marxistisch-leninschen Parteien des Ostens: die japanischen Kommunisten, die chinesischen Kommunisten, die türkischen, indischen usw.

Genossen, Werktätige der Länder des Ostens! Im Jahre 1883 wurde in der Schweiz die russische Gruppe der Befreiung der Arbeit geschaffen. Ist dies lange her? Von 1883 bis 1900 sind es 17 Jahre, und von 1900 bis 1917 gleichfalls 17 Jahre, zusammen aber 34 Jahre, das Drittel eines Jahrhunderts, ein Lebensalter: von der Organisierung des ersten theoretisch-propagandistischen Zirkels für die Gedanken des Marxismus während der Herrschaft Alexander III. bis zur Eroberung des Zarenrussland durch das Proletariat ist alles in allem das Drittel eines Jahrhunderts vergangen! Wer dies mit durchlebt hat, dem erscheint dies als eine große und schwere Periode. Aber vom Gesichtspunkt des Maßstabes der Geschichte ist dies ein noch nicht dagewesenes rasendes, tolles Tempo. In den Ländern des Ostens aber wird das Tempo der Entwicklung nach allem, was vorliegt, ein noch schnelleres sein. Was ist denn Eure kommunistische Universität der Werktätigen des Ostens im Lichte der vorgezeichneten Perspektive, was ist sie? Sie ist die Baumschule der Gruppe der Befreiung der Arbeit für die Länder des Ostens. (Stürmischer Beifall.)

Es ist wahr – und man soll davor nicht die Augen verschließen –, dass die vor den jungen Marxisten des Ostens liegenden Gefahren groß sind. Wir wissen und Ihr wisst dies, dass in einem nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich schwerem Kampfe sich die bolschewistische Partei herausgebildet hat. Ihr wisst, dass der kastrierte und verfälschte Marxismus bei uns in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts eine Schule allgemeiner politischer Belehrung für die bürgerliche Intelligenz, der Anhänger von Peter Struwe usw. gewesen ist, die dann politische Kommis der Bourgeoisie, Kadetten geworden, und von denen viele nachher zu den Oktobristen und noch weiter nach rechts gegangen sind. Das wirtschaftlich rückständige Russland war auch im politischen Sinne ein nicht differenziertes, ein noch nicht herausgebildetes Land; der Marxismus sprach von der Notwendigkeit des Kapitalismus, und jene bürgerlich-fortschrittlichen Elemente, die den Kapitalismus nicht um des Sozialismus willen wollten, sondern um des Kapitalismus willen, nahmen den „Marxismus" an, wobei sie seinen revolutionären Stachel entfernten.

Das gleiche geschah auch in Rumänien. Die Mehrheit der heute regierenden Schergen Rumäniens ist seinerzeit durch die Schule des verfälschten Marxismus hindurchgegangen; der eine oder andere von ihnen hat in Frankreich sich dem Guesdismus angeschlossen. In Serbien hat eine ganze Reihe der jetzigen konservativen und reaktionären Politiker in seiner Jugend die Schule des Marxismus oder des Bakunismus durchgemacht. In Bulgarien hat sich dies weniger bemerkbar gemacht. Aber im allgemeinen kennzeichnet diese zeitweise Ausbeutung des Marxismus für die Zwecke der bürgerlich-fortschrittlichen Politik die Länder des balkanischen Südostens wie auch unser eigenes Land.

Droht eine derartige Gefahr auch dem Marxismus des Ostens? Teilweise ja. Warum? Weil die nationale Bewegung im Osten ein fortschrittlicher Faktor der Geschichte ist. Der Kampf um die Unabhängigkeit Indiens ist eine durch und durch fortschrittliche Bewegung; aber wir alle wissen zugleich, dass dieser Kampf sich auf national-bürgerliche Aufgaben beschränkt. Der Kampf um die Befreiung Chinas, die Ideologie von Sun Yat-sen, ist ein demokratischer Kampf, eine fortschrittliche, aber bürgerliche Ideologie. Wir treten dafür ein, dass die Kommunisten die Partei Guomindang in China unterstützen und sie vorwärtstreiben. Dies ist notwendig, aber hierin liegt auch die Gefahr einer national-demokratischen Entartung. Und so ist dies auch in allen Ländern des Ostens der Fall, die als der Platz des nationalen Kampfes um die Befreiung von Kolonialsklaverei erscheinen. Auf diese fortschrittliche Bewegung muss sich das junge Proletariat des Ostens stützen; es ist aber völlig klar, dass in der nächsten Periode für die jungen Marxisten des Ostens die Gefahr besteht, aus „Gruppen zur Befreiung der Arbeit" losgerissen zu werden und in der nationalen Ideologie aufzugehen.

Worin jedoch besteht Euer Vorzug? Euer Vorzug vor den alten Generationen der russischen, rumänischen und anderer Marxisten besteht darin, dass Ihr lebt, leben und arbeiten werdet nicht nur in der Epoche nach Marx, sondern auch in der Epoche nach Lenin. Euer Vorzug besteht darin, dass Ihr unmittelbar einer Periode entwachst, die in die Geschichte eingehen wird als die Epoche Lenins. Ich habe in Eurer Zeitung, die mir das Büro Eurer Zelle so liebenswürdig mit Anmerkungen geschickt hat, über Marx und über Lenin gelesen. Ihr polemisiert untereinander sehr streng; dies sage ich Euch übrigens nicht als Vorwurf. Dort wurde die Frage so gestellt, als ob, nach der Meinung der Einen, Marx bloß Theoretiker gewesen wäre; so stellte die Gegenseite diese Stellungnahme dar – und antwortet: nein, Marx war revolutionärer Politiker wie Lenin, und bei Marx wie bei Lenin gingen Theorie und Praxis Hand in Hand.

In dieser allgemeinen abgeleiteten Formulierung ist dies unbedingt wahr und unbestreitbar; aber es besteht doch ein Unterschied zwischen diesen beiden geschichtlichen Figuren, ein tiefgehender Unterschied, der nicht nur aus der Verschiedenheit der Individualitäten, sondern aus der Verschiedenheit der Epochen hervorgeht. Der Marxismus ist selbstverständlich keine akademische Lehre, sondern der Hebel revolutionärer Tätigkeit. Marx hat doch nicht umsonst gesagt: „Die Philosophen haben die Welt ausgedeutet, man muss sie aber umgestalten." Gab es aber zu Lebzeiten von Marx, in der Epoche der I. Internationale, und nachher in der Zeit der II. Internationale die Möglichkeit, den Marxismus durch die Arbeiterbewegung gänzlich und bis zum Ende auszuwerten? Hat damals der Marxismus eine echte Verkörperung in der Aktion erfahren? Nein, er hat dies nicht erfahren. Hatte Marx die Möglichkeit und das Glück, die Anwendung seiner revolutionären Theorie in einer entscheidenden geschichtlichen Aktion zu leiten: der Eroberung der Macht durch das Proletariat? Nein, er hatte dies nicht.

Seine Lehre hat Marx natürlich nicht rein akademisch geschaffen; ist er doch selbst völlig hervorgegangen aus der Revolution, aus der Einschätzung und der Kritik des Zusammenbruches der bürgerlichen Demokratie, er hat sein „Manifest" im Jahre 1847 geschrieben, er hat auf dem linken Flügel der Demokratie die Revolution von 1848 mit durchgeführt, wobei er in marxistischer Weise alle deren Ereignisse einschätzte; er schrieb in London sein „Kapital"; er war gleichzeitig der Schöpfer der I. Internationale, der Anreger der Politik der vorgeschrittenen Gruppen der Arbeiterklasse aller Länder; aber er stand nicht an der Spitze einer Partei, die die Geschicke der Welt oder zumindest eines Landes entschieden hätte. Wenn wir kurz auf die Frage antworten wollen: Was ist Marx?, so sagen wir: „Marx ist der Verfasser des .Kapital'." Und wenn wir uns fragen, was ist Lenin, so werden wir sagen: „Lenin ist der Verfasser des Oktoberumsturzes".

Lenin hat mehr, als dies irgendein Anderer tat, betont, dass er die Lehre von Marx nicht zu revidieren, umzuarbeiten, abzuändern gedenke; Lenin kam, um mit den alten Worten des Evangeliums zu sprechen, nicht einher, um das Gesetz Marx' zu ändern, sondern um es zu erfüllen. Er hat dies noch mehr betont als irgend ein Anderer, aber gleichzeitig hatte er Marx aus den Überkrustungen jener Generationen zu befreien, die zwischen Marx und Lenin waren; aus den Verkrustungen des Kautskyanismus, des Macdonaldismus, des Konservatismus der Arbeiteraristokratie, der reformistischen und nationalistischen Bürokratie, und das Rüstzeug des echten Marxismus, gereinigt von den Verkrustungen, Beimischungen und Fälschungen, in der größten geschichtlichen Aktion ganz und als Ganzes anzuwenden.

Und nun besteht Euer, der jungen Generation, größter Vorzug darin, dass ihr an dieser Arbeit unmittelbar oder mittelbar teilgenommen habt, dass Ihr sie beobachtet habt, dass Ihr in der politischen und ideologischen Umgebung des Leninismus lebt, dass Ihr diese mit der Praxis zusammenfallende Theorie in der Universität der Werktätigen des Ostens in Euch aufnehmt. Dies ist Euer ungeheurer und unschätzbarer Vorzug, und Ihr müsst dies verstehen. Wenn Marx selbst in seiner Theorie den Entwicklungsgang von Jahrzehnten und Jahrhunderten überblicken konnte, so hat sich seine Lehre nachher im Tageskampfe in einzelne Elemente eingewechselt, die teilweise auch entstellt aufgenommen wurden. Lenin kam, setzte den Marxismus auch unter den neuen Verhältnissen wieder zusammen und zeigte diese Lehre in einer Aktion von riesengroßem geschichtlichen Maßstabe. Ihr habt diese Aktion gesehen, Ihr habt Euch ihr angeschlossen, und dies verpflichtet, und auf dieser Verpflichtung bauen wir die Universität der Werktätigen des Ostens auf.

Darum, Genossen, glaube ich, dass die Gefahr einer nationaldemokratischen Entartung – die natürlich besteht und den einen oder anderen erfassen und entführen wird, anders kann es ja auch nicht sein –, dass diese Gefahr durch die Tatsache des Bestehens der Sowjetunion und der Dritten Internationale außerordentlich verringert wird. Es bestehen Grundlagen zu hoffen, dass der Grundkern, der aus der kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens hervorgehen wird, den ihm zukommenden Platz einnehmen wird als die treibende Kraft des Klassenbewusstseins, des Marxismus, des Leninismus in der Bewegung des Proletariats der Länder des Ostens. Die Nachfrage nach Euch, Genossen, wird ungeheuer werden, sie wird, wie ich schon sagte, nicht allmählich, sondern auf einmal zutage treten, ja sogar in ihrer Art „katastrophal".

Lest einen der letzten Artikel Lenins: „Lieber weniger, aber besser!" Er ist scheinbar einer besonderen Organisationsfrage gewidmet, aber er erfasst zugleich die Aussichten der Entwicklung der Länder des Ostens im Zusammenhange mit der Entwicklung Europas. Was ist der Hauptgedanke des Artikels? Der Hauptgedanke ist der, dass die Entwicklung der Revolution im Westen aufgehalten werden kann. Wodurch kann sie aufgehalten werden? Durch die MacDonald-Gruppe, denn die konservativste Kraft in Europa ist die MacDonald-Gruppe. Wir sehen, wie die Türkei das Kalifat abschafft, aber MacDonald es wieder herstellt. Ist dies nicht etwa ein schlagendes Beispiel, das tatsächlich den konterrevolutionären Menschewismus des Westens dem fortschrittlichen national-bürgerlichen Demokratismus des Ostens scharf gegenüberstellt? In Afghanistan spielen sich jetzt wahrhaft dramatische Ereignisse ab: Das England des MacDonald bringt den linken national-bürgerlichen Flügel, der das unabhängige Afghanistan europäisch gestalten will, zum Sturz und bemüht sich, dort die dunkelsten und reaktionärsten Elemente wieder zur Macht zu bringen, die von den ärgsten Vorurteilen des Panislamismus, Kalifats usw. durchdrungen sind und dergleichen. Nehmt diese beiden Kräfte bei ihrem lebhaften Zusammenstoße, und es wird sofort klar, warum der Osten immer mehr sich zu uns, zur Sowjetunion und zur Dritten Internationale, hingezogen fühlen wird.

Wir sehen, wie Europa, das durch seine frühere Entwicklung den ungeheuerlichen Konservativismus der Oberschichten der Arbeiterklasse gesichert hat, immer mehr dem wirtschaftlichen Zerfall und der Zersetzung verfällt. Es hat keinen Ausweg mehr. Und dies kommt zum Teil darin zum Ausdruck, dass Amerika ihm keine Anleihe gewährt, da es mit Recht seiner wirtschaftlichen Lebensfähigkeit nicht traut. Andererseits sehen wir, wie dieses selbe Amerika, dieses selbe England genötigt sind, die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonialländer zu finanzieren, wobei sie sie in rasendem Tempo auf den Weg der Revolution treiben. Und wenn Europa im jetzigen Verwesungszustande zurückgehalten wird durch diese stumpfsinnige, engzünftlerische, aristokratische, privilegierte MacDonald-Gruppe, der Oberschicht der Arbeiterklasse, so wird der Schwergewichtspunkt der revolutionären Bewegung völlig auf den Osten übertragen werden. Und dann wird sich erweisen, dass, wenn eine Reihe von Jahrzehnten für die kapitalistische Entwicklung Englands nötig war, um mit Hilfe dieses revolutionären Faktors unserem alten Russland und dem alten Osten auf die Beine zu helfen, es nachher der Revolution des Ostens zufallen wird, nach England zurückkehren und einige Dickschädel zu durchschlagen oder zu zerschlagen, wenn dies nötig ist, und der Revolution des europäischen Proletariats einen Stoß nach vorne zu geben. (Beifall.) So sieht eine der geschichtlichen Möglichkeiten aus. Man muss sie vor seinem geistigen Auge haben.

Ich las in den mir gelieferten Materialien darüber, welchen ungeheuren Eindruck eine Hörerin Eurer Universität, eine Türkin, in Kasan hervorrief, wo sich um sie herum Frauen versammelten, darunter auch alte und des Lesens und Schreibens unkundige. Es ist eine kleine Episode, aber sie ist bezeichnend und hat doch eine tiefe geschichtliche Bedeutung. Der Sinn, die Stärke und das Wesen des Bolschewismus bestehen darin, dass er sich nicht an die Oberschichten der Arbeiterklasse wendet, sondern an ihre breitesten Massen, an die unteren Schichten, an die Millionen, an die Unterdrücktesten der Unterdrückten. Darum ist er nicht durch seinen theoretischen Inhalt, der noch lange nicht angeeignet und durchdacht ist, sondern durch seinen befreienden Windhauch die bevorzugte Lehre der Länder des Ostens geworden. Wir lesen in Eurer Zeitung immer neue Bestätigungen dessen, dass der Name Lenins bekannt ist nicht nur in den Schluchten des Kaukasus, sondern auch in den Tiefen Indiens. Wir wissen, dass in China Werktätige, die wahrscheinlich in ihrem Leben keinen einzigen Artikel Lenins gelesen haben, sich leidenschaftlich dem Bolschewismus anschließen, denn wie mächtig ist der Windhauch der Geschichte! Sie haben erfasst, dass dies die Lehre ist, die sich an die Parias, an die Unterdrückten, an die Unterjochten, an die Millionen, an die Hunderte von Millionen wendet, für die es keinen anderen Ausweg, für die es keine andere Rettung gibt.

Und wenn der Leninismus leidenschaftlichen Widerhall in den Herzen der werktätigen Frauen findet, so darum, weil es keine Gesellschaftsschicht auf der Welt gibt, die mehr unterdrückt ist als die werktätigen Frauen! Als ich las, wie die Hörerin Eurer Universität in Kasan auftrat, und wie sich um sie herum des Lesens und Schreibens unkundige Tatarenfrauen und -mädchen versammelten, erinnerte mich dies an meinen kürzlichen Aufenthalt in Baku, wo ich zum ersten Male eine türkische Kommunistin sah und hörte, wo ich im Saale mehrere Dutzend, vielleicht einhundert türkischer Kommunistinnen erblickte, ihre Begeisterung sah und hörte, diese Leidenschaft der versklavtesten aller Sklavinnen von gestern, die das neue Wort der Befreiung hörten und zu neuem Leben erwacht waren, und wo ich zum ersten Male mit voller Klarheit durchdachte und mir sagte, dass in der Bewegung der Völker des Ostens die Frau eine größere Rolle spielen wird, als in Europa und bei uns. (Beifall.) Warum? Ja, eben deshalb, weil die Frau des Ostens noch unvergleichlich mehr als der Mann geknechtet, unterdrückt, von Vorurteilen geplagt ist und die neuen wirtschaftlichen Verhältnisse und der neue Windhauch der Geschichte sie mit noch größerer Kraft, mit noch größerer Schärfe aus den alten, bewegungslosen Verhältnissen herausreißen werden, als den Mann.

Wir beobachten auch jetzt noch im Osten der Herrschaft des Islam, der alten Vorurteile, Glaubenslehren, Gewohnheiten, aber dies alles verwandelt sich immer mehr in Schutt und Staub. Gleichwie ein vermodertes Gewebe, von der Entfernung gesehen, vollständig zu sein scheint, das ganze Muster zu sehen ist, alle Geflechte erhalten sind, aber eine Handbewegung genügt, ein frischer Windhauch, und das ganze Gewebe zerfällt in Staub: so sind im Osten die alten Glaubenslehren, die so tief verwurzelt zu sein scheinen, nur noch ein Schatten der Vergangenheit; man hat in der Türkei das Kalifat abgeschafft, und kein einziges Haar ist denen gekrümmt worden, die den Anschlag auf das Kalifat verübt haben; dies bedeutet, dass die alten Glaubensformen des Ostens verfault sind, und dass bei der nächsten geschichtlichen Bewegung der revolutionären werktätigen Massen die alten Glaubensformen nicht mehr ein ernstes Hindernis darbieten werden. Dies bedeutet aber zugleich, dass die in der Lebensführung, in den Sitten und Gebräuchen, in der Betätigung am meisten fest gekettete orientalische Frau, die versklavteste der Sklavinnen, wenn sie – gemäß den Forderungen der neuen wirtschaftlichen Verhältnisse – den Schleier abgelegt haben wird, sich sofort einer gewissen geistigen Stütze beraubt fühlen wird; sie wird leidenschaftliches Dürsten danach empfinden, neue Gedanken, ein neues Bewusstsein zu erhalten, die ihr erlauben, ihre neue Lage in der Gesellschaft geistig zu beleben. Und es wird keinen besseren Genossen im Osten geben, keinen besseren Kämpfer für die Gedanken der Revolution, für die Gedanken des Kommunismus, als die erwachte arbeitende Frau. (Beifall.)

Genossen, darum ist es, dass Eure Universität weltgeschichtliche Bedeutung hat. Unter Ausnützung der ideologischen und politischen Erfahrung des Westens bereitet sie den großen revolutionären Sauerteig für den Osten vor. Eure Stunde wird bald schlagen. Das Finanzkapital Englands und Amerikas zerstört die wirtschaftlichen Grundlagen des Ostens, wirft Schicht nach Schicht um, vernichtet das Alte und schafft das Bedürfnis nach Neuem. Ihr erscheint als die Säemänner mit dem Samen der Gedanken des Kommunismus, und die revolutionäre Produktivität Eurer Arbeit wird unermesslich höher sein als die produktiven Arbeiten der alten marxistischen Generation Europas.

Aber Genossen, ich möchte nicht, dass aus dem von mir Gesagten Schlüsse im Geiste irgend eines östlichen Hochmutes gezogen werden. (Heiterkeit.) Ich sehe, dass mich niemand von Euch so aufgefasst hat … Denn wenn irgendjemand von derartigem messianischem Hochmute und Verachtung des Westens erfüllt wäre, so wäre dies schon der kürzeste und schnellste Übergang zum Aufgehen in der national-demokratischen Ideologie. Nein, die kommunistischen Revolutionäre des Ostens in Eurer Universität müssen lernen, die Weltbewegung in ihrem Ganzen zu betrachten, indem sie die Kräfte des Ostens und des Westens unter dem Gesichtswinkel des einheitlichen großen Zieles vergleichen und verbinden. Man muss es verstehen, den Aufstand der indischen Bauern, den Streik der Lastträger in den Häfen Indiens, die politische Propaganda der bürgerlichen Demokraten der Guomindang-Partei, den Kampf der Koreaner um Unabhängigkeit, die bürgerlich-demokratische Wiedergeburt der Türkei, die wirtschaftliche und kulturell-erzieherische Arbeit in den Sowjetrepubliken des Transkaukasus richtig einzuschätzen, man muss all dies ideologisch und praktisch mit der Arbeit und mit dem Kampfe der Kommunistischen Internationale in Europa und im besonderen in England zu verbinden wissen, wo langsam, langsamer als viele von uns es möchten, aber sicher der Maulwurf des britischen Kommunismus die konservativen Festungen MacDonalds unterminiert. (Beifall.)

Euer dreijähriges Jubiläum ist natürlich an und für sich ein sehr bescheidenes Jubiläum. Viele von Euch befinden sich erst an der Schwelle des Marxismus. Aber Euer Vorzug vor der alten Generation, wiederhole ich, besteht darin, dass Ihr das ABC des Marxismus nicht in vom Leben abgeschnittenen Emigrantenzirkeln, in den Ländern des herrschenden Kapitalismus erlernt, wie es uns bestimmt war, sondern auf einem Boden, der vom Leninismus erobert worden ist, auf einem Boden, der mit Leninismus durchtränkt ist, auf einem Boden, der von der ideologischen Atmosphäre des Leninismus umhüllt ist. Ihr erlernt den Marxismus nicht bloß aus Büchlein, sondern habt die Möglichkeit, ihn in der politischen Atmosphäre dieses Landes einzuatmen. Dies trifft nicht nur auf jene zu, die hierher aus den zur Sowjetunion gehörenden östlichen Republiken gereist sind, dies trifft auch auf jene zu – und deren Bedeutung ist natürlich durchaus nicht geringer! –, die aus den unterdrückten Kolonialländern hierhergekommen sind.

Ob das letzte Kapitel des revolutionären Kampfes mit dem Imperialismus in einem Jahre, in zwei, drei oder fünf Jahren umgeblättert werden wird, wissen wir nicht; aber dafür wissen wir, dass jedes Jahr eine neue Anzahl Absolventen der kommunistischen Universität des Ostens bringen wird. Jedes Jahr wird eine neue Zelle von Kommunisten bringen, die das ABC des Leninismus kennen und die gesehen haben, wie dieses ABC bei der Arbeit angewendet wird. Wenn bis zu den entscheidenden Ereignissen ein Jahr vergehen wird, so werden wir einen Jahrgang haben; wenn zwei Jahre, so zwei Jahrgänge, wenn drei, so drei. Und im Augenblicke der entscheidenden Ereignisse werden die Studenten der kommunistischen Universität des Ostens sagen: „Hier sind wir. Wir haben etwas gelernt. Wir können nicht bloß die Gedanken des Leninismus in die Sprache Chinas, Indiens, der Türkei. Koreas übersetzen; wir haben auch gelernt, die Leiden, Leidenschaften, Forderungen und Hoffnungen der werktätigen Massen des Ostens in die Sprache des Marxismus zu übersetzen. – „Wer hat Euch dies gelehrt?", wird man fragen. „Dies hat uns die Kommunistische Universität der Werktätigen des Ostens gelehrt." Und dann wird man das sagen, was ich jetzt am Tage Eures dreijährigen Jubiläums sage: „Ein dreifaches Hoch der Kommunistischen Universität des Ostens. (Stürmische Ovationen und Gesang der „Internationale".)

1Im Text stand irrtümlich „revolutionäre“, der englische und französische Text schreiben „evolutionär“

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