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Leo Trotzki 19240621 Faschismus und Reformismus

Leo Trotzki: Faschismus und Reformismus

[Nach Schriften über Deutschland, Band II, S. 719-723]

Gehen wir nun von allgemeinen Erörterungen der historischen Gründe für die Stärke oder Schwäche kommunistischer Parteien zur weltpolitischen Situation im eigentlichen Sinne des Wortes über, wie sie sich zur Zeit des V. Kongresses der Kommunistischen Internationale darstellt. In den letzten Jahren hat unsere Presse oft gesagt, wir seien in die Epoche des Faschismus eingetreten. Einige Leute haben die Ansicht vertreten, der Faschismus werde direkt zur Revolution, zur Erhebung der europäischen Arbeiter führen. Kürzlich ist aber der Faschismus-Begriff völlig verdreht worden. Aus beliebigem Anlass wird manchmal gesagt, der Faschismus entwickele sich, er mache Fortschritte. Werden irgendwo einige streikende Arbeiter eingesperrt, so wird das als Zeichen für die Errichtung eines faschistischen Regimes genommen, obwohl die Bourgeoisie Streikende arretierte auch ehe es den Faschismus gab. Wir müssen die Frage zu Ende denken, Genossen: was ist Faschismus? Wodurch unterscheidet er sich von der „normalen" bürgerlichen Gewaltherrschaft? Die Erwartung, dass der immer stärker werdende Faschismus zum Aufstand des Proletariats führen werde, ist durch die Erfahrung nicht bestätigt worden, auch haben keineswegs alle von uns diese Erwartung geteilt. Wir können darauf hinweisen, dass wir schon 1922 sagten: Wenn die deutsche Revolution das Proletariat nicht direkt zum Siege führt, wird England in den folgenden Jahren eine Labour-Regierung haben und in Frankreich das Linkskartell triumphieren. Wir wiederholten das im Jahre 1922 vor dem IV. Komintern-Kongress. Ein entsprechender Zusatz wurde in die politische Resolution des Kongresses aufgenommen. Einige Genossen aus Österreich, Holland und anderen Ländern diskutierten damals sehr heftig über diese Frage. Wie kann das möglich sein: eine Labour-Regierung in England, ein Sieg des Linkskartells in Frankreich? Das wäre ja eine neue Epoche des Reformismus, das hieße, die Aussicht auf Revolution würde sich in nebliger Ferne verlieren usw. Einige gingen so weit, mich der Propaganda… für reformistische Illusionen zu bezichtigen. Diese Genossen glaubten, dass, wer etwas im Sinne einer objektiven Entwicklung – voraussieht, dadurch dafür verantwortlich wird, dass es sich tatsächlich so ereignet; darum wäre es viel besser und sicherer, gar nichts vorherzusehen und alle Probleme erst post festum zu diskutieren… (Beifall). Es muss dennoch gesagt werden, dass wir, als wir die Wahrscheinlichkeit einer Labour-Regierung in England und eines Sieges des Linkskartells in Frankreich betonten, nur an eine Entwicklungstendenz dachten. Das hieß nicht, dass wir hundertprozentig davon überzeugt waren, dass die Ereignisse sich so und nicht anders abspielen würden. Eine Entwicklungstendenz ist etwas anderes als ihre lebendige Verwirklichung. Der Geschichtsverlauf hängt von vielen Faktoren ab, die sich durchkreuzen und miteinander verflechten, von denen einige in dieser, andere in anderer Richtung wirken. Aber die Geschichte verlief so, dass die Voraussicht in diesem Falle gänzlich bestätigt würde: in England haben wir eine Labour-Regierung und in Frankreich einen Sieg des Linkskartells. Und das ist noch nicht alles. Wir sagten, dass – falls in England eine Labour-Regierung und in Frankreich das Linkskartell zum Zuge kämen, und falls die deutsche Revolution bis dahin nicht gesiegt hätte – in Deutschland unvermeidlich eine Stärkung der Sozialdemokratie eintreten werde. Diese kompromittierte Partei, die im vergangenen Jahr in feindliche Gruppierungen zersplitterte und sehr geschwächt wurde, wird infolge der „demokratischen" Wendung in Frankreich und England nochmals zum Leben erweckt. Sie sagt dem deutschen Volk: Jetzt ist es möglich, mit England, wo unsere Genossen MacDonald & Co. an der Macht sind, zu einer Verständigung zu kommen, ebenso mit Frankreich, wo jetzt die Radikalsozialisten regieren, praktisch unsere nächsten Verwandten. Wir deutschen Sozialisten bieten darum dem deutschen Volk unsere Mittlerdienste an, um eine Verständigung mit den westlichen Demokratien zu sichern. Mit anderen Worten: Falls die Revolution in Deutschland nicht binnen kurzem siegte, würde ein Regime zeitweiliger Versöhnung die europäische Politik bestimmen, „Versöhnung" freilich im Nachkriegsstil, mit gebleckten Zähnen und einem Messer im Ärmel.

Hat sich diese Voraussicht bestätigt? Voll und ganz. Was ist der „Experten-Plan" zur Lösung des Reparationsproblems? Es ist der Versuch, ein internationales Geschäft großen Stils unter amerikanischer und englischer Finanzhegemonie durchzuführen. Die Ruhrbesetzung wird „in der Zwischenzeit" andauern, aber durch ein Abkommen verdeckt und gemildert. Die MacDonald-Regierung ist eine Regierung des politischen Geschäfts, der Klassenversöhnung. Die Regierung des Linkskartells in Frankreich ist gleichfalls eine kleinbürgerliche Regierung der Klassenversöhnung – mit dem Menschewismus als Zugpferd. Das gleiche System besteht in einigen anderen Ländern. So ist die Situation in Europa. Und was ist aus dem Faschismus geworden? Nichts ist in der Politik einfacher als die Beherrschung eines Schlagworts, einer Phrase, und deren ständige Wiederholung. Das Bewusstsein ist ein höchst konservativer Faktor, und man braucht eine große Peitsche, um es zum Vorangehen zu bewegen. Was ist Faschismus? Kann ein faschistisches Regime unbegrenzt lange Zeit existieren? Faschismus ist die Kampforganisation der Bourgeoisie während, und im Falle eines Bürgerkrieges. Das ist Faschismus. Für die Bourgeoisie spielt er die gleiche Rolle wie die Organisation des bewaffneten Aufstands für das Proletariat. Die Arbeiterklasse bereitet sich auf den bewaffneten Aufstand vor, bildet ihre Organisation entsprechend um, organisiert Stoßtrupps, bewaffnet ihre Kämpfer mit Dynamit usw. Kann eine solche Situation auf Dauer bestehen? Offensichtlich nicht: Entweder siegt die Arbeiterklasse und bildet eine reguläre Armee, oder ihr Angriff wird zurückgeschlagen und die Organisation des bewaffneten Aufstands ist zu Ende, wenigstens für die nächste Zukunft. Von neuem beginnt eine Periode der politischen Agitation, des Kräftesammelns usw., und erst später, nach einer Reihe von Jahren (so war es nach 1905!) oder gar Jahrzehnten (so war es nach der Pariser Kommune) wird ein neuer bewaffneter Aufstand des Proletariats vorbereitet. Der Faschismus ist die Sturmabteilung der Bourgeoisie, sobald ihr die alte, an Legalität und Demokratie gebundene Staatsmaschinerie als untauglich erscheint, sobald sie eine Streitmacht braucht, um den Druck des Proletariats abzuwehren. In dieser Situation schafft sich die Bourgeoisie eine zu allem bereite Kampftruppe und trampelt auf ihrer eigenen Legalität und Demokratie herum, um ihre Macht aufrechtzuerhalten. Kann der Faschismus lange dauern? Nein. Wenn die Bourgeoisie die Macht ergreift, wie in Italien im Jahre 1920, in Deutschland im vorigen Jahr, so sucht sie, nachdem sie sich der blutigen Arbeit des Faschismus bedient hat, ihre Basis zu verbreitern, sich auf das Mittel- und Kleinbürgertum zu stützen, und stellt die Legalität wieder her. Die Bourgeoisie kann ebenso wenig längere Zeit unter faschistischen Bedingungen leben wie das Proletariat jahrelang im bewaffneten Aufstand. In Italien hat Mussolini in den letzten Monaten krampfhafte Versuche unternommen, die faschistische Macht, d.h. ihren illegalen Kampfapparat, der legalen Mechanik des Parlamentarismus anzupassen. Er hatte einigen Erfolg, aber die Opposition wächst rascher als seine Erfolge. Er hat es noch nicht fertig gebracht, seine wilden Männer zu zähmen, es gab einen Zwischenfall wie die Ermordung des Sozialdemokraten Matteotti. Selbst die Mehrheit der bürgerlichen Klassen Italiens ist gegen ihn. Da sie nicht direkt von einem proletarischen Aufstand bedroht sind, scheint ihnen eine Erschütterung der Legalität durch die Ermordung von Parlamentsmitgliedern nicht nur unnötig sondern sogar gefährlich für die Bourgeoisie zu sein – ein überflüssiger Luxus.

Die Aussichten des Reformismus

Betrachten wir den Faschismus derart konkret und historisch, so wird verständlich, warum die deutsche Bourgeoisie, die zu ihrer eigenen großen Überraschung nicht gestürzt worden ist, versucht, die siegreiche Reaktion so rasch wie möglich in die Kanäle des Parlamentarismus zu leiten, – warum in England auf die Konservativen nicht die „Faschisten", sondern die Labour-Regierung MacDonalds folgte, warum in Frankreich das Linkskartell an die Macht kam, warum in Italien der Faschismus eine akute Krise durchmacht, obwohl seine Führer versuchen, ihn dem Parlamentarismus anzupassen. Wir begreifen auch, warum es vor zwei Jahren möglich war, vorauszusehen und vorauszusagen, dass dies geschehen werde. Es war möglich, weil der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat sich nicht geradlinig entwickelt, sondern in einer Folge von harten Zusammenstößen, zwischen denen mehr oder weniger ausgedehnte Perioden legalisierten, „friedlichen" Kampfes liegen. Wäre dem nicht so, könnte die kapitalistische Gesellschaft überhaupt nicht bestehen. Solche harten Bürgerkriegs-Zusammenstöße ereigneten sich im September 1920 in Italien, 1918/19, im März 1921 und im letzten Jahr in Deutschland. Deutschland rückte an die Spitze der Länder, in denen man mit der Revolution rechnete, und wir sagten: Entweder wird ein weiterer Zusammenstoß mit der Bourgeoisie für das Proletariat siegreich ausgehen, und dann wird der Faschismus sehr rasch aufkommen, oder das Resultat ist eine Niederlage, und dann wird die Revolution für lange Zeit vertagt werden; die Bourgeoisie wird dann eine breitere Basis suchen müssen und die Menschewiki mit der Aufgabe betrauen, die Bürgerkriegswunden zu lecken, die der Faschismus geschlagen hat. Heute erfüllen die Menschewiki in ganz Europa diese Funktion. Der imperialistische Krieg, ungeheure Umwälzungen, beispiellose Streiks, revolutionäre Zusammenstöße, Aufstände – all das hat für einen Sieg nicht ausgereicht, das Proletariat zieht sich von weit vorgetriebenen Positionen zurück. Nun sucht die Bourgeoisie ökonomische und politische Stabilität zugleich und stützt sich zu diesem Zweck auf die Zwischenklassen, auf das kleine und mittlere Bürgertum. Sie bedient sich nicht des Faschisten, sondern des Menschewisten, und sagt ihm: „Wisch die Blutflecken weg, lege tröstenden Balsam auf die Wunden, beschwichtige, beschwindele, breite über alles den farbigen Schleier der Demokratie." Diese Ersetzung des Faschisten durch den Menschewisten ist somit kein Zufall, sondern entspricht den Gesetzen der historischen Entwicklung; daher konnte sie, lange bevor sie eintrat, vorhergesehen werden. Der Marxismus dient uns dazu, im Lauf der geschichtlichen Entwicklung unseren Weg zu finden und ein Stück weit vorherzusehen, was kommt. Ohne solches Verstehen und solche Voraussicht kann man nicht kämpfen siegen …

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