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Leo Trotzki 19240122 Lenin ist nicht mehr

Leo Trotzki: Lenin ist nicht mehr

[Nach Die Aktion, 19. Jahrgang, Heft 3-4 (Ende Mai 1929), Spalte 78 f., dort unter dem ironischen Titel „Worte des Konterrevolutionärs Trotzki (gesprochen den 22. Januar 1924 auf dem Bahnhof zu Tiflis.)“]

Lenin ist nicht mehr. Wir haben Lenin verloren. Die dunklen Gesetze, die die Tätigkeit der Blutgefäße beherrschen, haben diesem Leben ein Ende bereitet. Die ärztliche Kunst hat nicht vermocht, das zu vollbringen, was von ihr Millionen von Menschenherzen mit Leidenschaft gefordert hatten.

Wie viele von ihnen hätten ohne Zögern ihr eigenes Blut bis zum letzten Tropfen dahin gegeben, um wieder zu beseelen, wieder zu beleben den Blutkreislauf des großen Lenin, des Iljitsch, des einzigen, des unvergleichlichen Führers. Aber dort, wo die Wissenschaft nichts mehr vermochte, ist ein Wunder nicht eingetreten. Lenin ist nicht mehr. Diese Worte stürzen auf unser Bewusstsein, wie ein ungeheurer Fels ins Meer. Wie es glauben, wie es fassen?

Das Bewusstsein der Werktätigen der ganzen Welt wird sich dagegen sträuben, diese Tatsache hinzunehmen, denn die Feinde sind mächtig und drohend, der Weg der zu durchmessen ist, ist lang und gefahrvoll, das ungeheure Werk, das größte, das die Geschichte kennt, ist noch nicht vollendet. Lenin ist den arbeitenden Klassen der Welt vonnöten, mehr als je in der Geschichte der Menschheit ein Mensch vonnöten gewesen sein mag. Die zweite Phase seiner Krankheit, schwerer als die erste, dauerte mehr als zehn Monate. Nach dem bitteren Ausdruck, den die Ärzte anwandten, „spielten die Organe seines Blutkreislaufes die ganze Zeit. Ein entsetzliches Spiel, fürwahr, das sie mit dem Leben von Iljitsch trieben. Es war eine Besserung, ja sogar eine vollständige Wiederherstellung seiner Gesundheit ebenso zu erwarten wie eine Katastrophe. Wir alle haben die Heilung erwartet; – doch es kam die Katastrophe. Das Nervenzentrum im Gehirn, das die Atmung zu regeln hat, verweigerte den Dienst und verlöschte die Flamme dieses genialen Denkers.

Iljitsch ist nicht mehr. Die Partei ist verwaist, verwaist die Arbeiterklasse. Das ist es, was man vor allem empfindet, da man den Tod dessen erfährt, der der Lehrer, der der Führer gewesen ist. Wie sollen wir auf unserem Wege weiterschreiten, Genossen? Werden wir nicht vom Wege abirren, jetzt, da Lenin nicht mehr unter uns ist? Der Leninismus bleibt bestehen. Lenin ist unsterblich durch seine Lehre, durch seine Arbeit, durch seine Methode, durch sein Vorbild, die in uns leben, die da leben in der Partei, die er geschaffen hat, im ersten Arbeiterstaate, dessen Haupt und dessen Lenker er gewesen. Unser Schmerz ist maßlos wie unser Verlust, aber wir sagen der Geschichte Dank, die uns als Zeitgenossen Lenins zur Welt kommen ließ, dass sie uns gestattet hat, an seiner Seite zu arbeiten, seine Schüler zu sein. In jedem von uns ist ein Teilchen von Lenin. Wie werden wir auf unserem Wege weiterschreiben? Mit der Fackel des Leninismus in der Hand. Wie werden wir den richtigen Weg finden? Durch kollektives Denken, durch kollektives Wollen werden wir ihn finden. Und morgen, und übermorgen, noch nach Wochen und Monaten werden wir uns sagen, es ist unmöglich, dass Lenin nicht mehr ist. Jawohl, sein Tod wird uns noch lange Zeit unglaublich, undenkbar, als ein willkürlicher ans ungeheuerlicher Frevel der Natur erscheinen. Möge uns die Wunde, die sich beim Gedenken an den großen Verblichenen immer wieder öffnen wird, ständig daran mahnen, dass unsere Verantwortung nun noch größer geworden ist: Zeigen wir uns seiner würdig, der uns allen Lehrer gewesen ist. In unserem Schmerze schließen wir die Reihen und die Herzen enger zu neuen Kämpfen.

Genossen! Brüder! Lenin ist nicht mehr unter uns … Dir, letzten Gruß, Iljitsch, letzten Gruß dir, unserem Führer!

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