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Leo Trotzki 19240411 Über die Oktoberereignisse in Deutschland

Leo Trotzki: Über die Oktoberereignisse in Deutschland

Auszug aus einer Rede in Tiflis am 11. April 1924

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 4. Jahrgang Nr. 53 (9. Mai 1924), S. 632 f.]

Das letzte Jahr verlief im Zeichen des Herannahens der Revolution in Deutschland. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres rückte die deutsche Revolution von Tag zu Tag näher heran. Wir sahen darin einen Hauptfaktor der internationalen Entwicklung. Wenn die deutsche Revolution gesiegt hätte, so hätte sie die internationalen Kräfteverhältnisse gründlich geändert. Die Sowjet-Union mit ihren 130 Millionen Einwohnern, mit ihren unzähligen Naturreichtümern einerseits und Deutschland mit seiner Technik, mit seiner Kultur, mit seiner Arbeiterklasse andererseits – ein solcher Block, ein so mächtiges Bündnis hätte der Entwicklung Europas und der ganzen Welt sofort eine neue Richtung gegeben. Der Aufbau des Sozialismus hätte ein ganz anderes Tempo genommen.

In Deutschland hat jedoch die Revolution, trotz unserer Erwartungen, bis heute noch nicht gesiegt. Warum? Wir müssen über diese Frage nachdenken, weil wir hieraus nicht nur in Bezug auf Deutschland, sondern auch in Bezug auf uns selbst lernen müssen.

Auf Grund welcher Voraussetzungen ist eine siegreiche proletarische Revolution möglich? Erforderlich ist hierzu eine gewisse Entwicklung der Produktivkräfte. Erforderlich ist, dass das Proletariat und jene Zwischenklassen, die es unterstützen, die mit ihm gehen, die Mehrheit der Bevölkerung darstellen. Erforderlich ist, dass die Vorhut die Aufgaben und Methoden der proletarischen Revolution klar begreift und entschlossen ist, sie zu verwirklichen. Erforderlich ist ferner, dass sie die Mehrheit der arbeitenden Massen in den entscheidenden Kampf hineinführt. Andererseits besteht eine unerlässliche Bedingung darin, dass die herrschende Klasse, das heißt die Bourgeoisie, desorganisiert, von der gesamten innen- und außenpolitischer Lage eingeschüchtert und ihr Wille gebrochen ist. Das sind die materiellen, politischen und psychologischen Voraussetzungen der Revolution, das sind die Bedingungen des Sieges des Proletariats. Und wenn wir fragen, ob diese Bedingungen in Deutschland vorhanden waren, so glaube ich, dass wir entschieden und klar antworten müssen: ja, alle, diese Bedingungen waren bis auf eine vorhanden. Ihr erinnert Euch noch an die Periode seit Mitte vorigen Jahres, Ihr erinnert Euch noch an den Misserfolg und den Zusammenbruch des passiven Widerstandes der Bourgeoisie Deutschlands gegen die Ruhrbesetzung. Bezeichnend für diese Periode war: eine vollständige Erschütterung Deutschlands. Die deutsche Mark fiel mit einer solchen rasenden Geschwindigkeit, die unser seliger Sowjetrubel hätte beneiden können. Die Preise der wichtigsten Bedarfsartikel stiegen rasend, die Unzufriedenheit der Arbeitermassen kam in offenen Zusammenstößen mit der Staatsgewalt zum Ausdruck. Die deutsche Bourgeoisie war eingeschüchtert und aktionsunfähig, die Regierungen wechselten in kurzen Abständen. Die französischen Truppen standen im deutschen Rheingebiet. Stresemann, der Ministerpräsident der großen Koalition, erklärte: „Wir sind die letzte parlamentarische bürgerliche Regierung, nach uns kommen entweder die Kommunisten oder die Faschisten." Und die Faschisten sagten: „Die Kommunisten mögen nur vorangehen, nach ihnen kommen wir." All dies bedeutete den höchsten Grad der Erschütterung aller Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. Täglich schlossen sich viele Arbeiter der Kommunistischen Partei an. Allerdings sind noch recht große Mengen in den Reihen der menschewistischen Partei geblieben. Aber Ihr müsst Euch daran erinnern, dass, als wir im Oktober in Petersburg die Macht an uns gerissen haben, wir an der Spitze der Gewerkschaften Menschewiki fanden, weil die Petersburger Arbeiter sich unter unserer Führung mit solcher Schnelligkeit auf die Eroberung der Macht warfen, dass sie keine Zeit hatten, den alten Staub in den Gewerkschaften von sich abzuschütteln …

Aber warum haben wir in Deutschland bisher trotzdem noch nicht gesiegt? Ich glaube, dass unsere Antwort nur eine sein kann: weil es in Deutschland keine solche bolschewistische Partei gab, und diese keinen solchen Führer hatte, wie wir im Oktober. Wir stehen hier zum ersten Male einem kolossalen, historischen Versuch gegenüber, der uns zum Vergleich dienen kann. Natürlich kann man sagen, dass der Sieg in Deutschland schwerer ist. Die deutsche Bourgeoisie ist klüger und mächtiger als die unsrige. Aber die Arbeiterklasse kann sich nicht selbst ihrer Feinde erwehren. Ihr, hier in Georgien, hattet gegen eine menschewistische Regierung zu kämpfen, die Euch das Schicksal bescherte. Die deutsche Arbeiterklasse muss gegen die deutsche Bourgeoisie kämpfen. Und es kann mit voller Sicherheit gesagt werden, dass die Geschichte das deutsche Proletariat kaum noch einmal in günstigere, objektive Verhältnisse versetzen wird, als in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres. Woran mangelte es denn? Es mangelte an einer so hart gestählten Partei, wie die unsere es ist. Das ist, Genossen, die Hauptfrage, und aus dieser Erfahrung werden alle europäischen Parteien und auch wir lernen müssen den Charakter, den Sinn und die Natur unserer Partei, die dem Proletariat den Sieg im Oktober und eine Reihe von Siegen nach dem Oktober sicherte, zu begreifen und zu schätzen.

Genossen, ich möchte nicht, dass meine Worte im pessimistischen Sinne ausgelegt werden, so etwa, als ob ich meinte, der Sieg des deutschen Proletariats sei auf viele Jahre hinaus verschoben. Nicht im Geringsten, die Zukunft gehört uns. Wir müssen aber die Vergangenheit einer richtigen Analyse unterziehen. Der Umsturz im Oktober/November vorigen Jahres, als der deutsche Faschismus, als die Großbourgeoisie kam, ist die größte Niederlage. So müssen wir dies Ereignis verbuchen, so müssen wir es unserem Gedächtnis einschärfen, damit wir aus ihm lernen. Es war die größte Niederlage, aber aus dieser Niederlage wird die deutsche Partei lernen, durch sie gestählt werden. Die Lage bleibt auch weiterhin revolutionär. Hierauf werde ich später zurückkommen. Wir haben im Weltmaßstabe drei Augenblicke gesehen, wo die proletarische Revolution herangereift war und zum Operationsmesser griff. So im Oktober 1917 bei uns, im September 1919 in Italien und im zweiten Halbjahr 1923 (Juli-November) in Deutschland. Wir haben eine siegreiche, proletarische Revolution hinter uns – zum ersten Mal in der Geschichte eine vollbrachte, konsequent durchgeführte und befestigte proletarische Revolution. In Italien sahen wir eine sabotierte Revolution. Das Proletariat stürzte sich mit seiner ganzen Masse auf die Bourgeoisie, besetzte die Fabriken, Werkstätten und Bergwerke. Die Sozialistische Partei aber, erschrocken vom Angriff des Proletariats auf die Bourgeoisie, versetzte dem Proletariat einen Dolchstoß in den Rücken, desorganisierte es, lähmte seine Kräfte und lieferte es dem Faschismus aus. Endlich haben wir die Erfahrung in Deutschland hinter uns, wo es eine ehrliche, der revolutionären Sache ergebene Kommunistische Partei gibt, die aber noch nicht die notwendigen Eigenschaften besitzt: Augenmaß, Entschlossenheit und Stählung. Und diese Partei hat in einem gewissen Moment die Revolution unterlassen. Unsere ganze Internationale und jeder denkende Arbeiter muss sich stets diese drei Beispiele, diese drei historischen Versuche vor Augen halten: unsere Oktober-Revolution, eine Revolution, die durch die Geschichte vorbereitet, durch uns vollbracht, konsequent durchgeführt und befestigt wurde; die Revolution in Italien, die durch die Geschichte vorbereitet und durch die Arbeiterklasse emporgehoben, aber durch die Sozialistische Partei sabotiert, vereitelt wurde; und endlich die Revolution in Deutschland, die durch die Geschichte vorbereitet wurde, die die Arbeiterklasse bereit war, auf ihre Schulter zu nehmen, die aber die ehrliche Kommunistische Partei mangels der nötigen Stählung und Führung nicht beherrschen konnte und nicht zu beherrschen verstand.

Man darf sich die Geschichte überhaupt nicht so vorstellen, dass etwa zuerst das Fundament gelegt wird, worauf die Produktivkräfte erwachsen, dann das nötige Kräfteverhältnis der Klassen entsteht, das Proletariat revolutioniert und dann alles in das Kühlhaus gestellt und konserviert wird, bis die Erziehung der Kommunistischen Parteien vollendet ist: sie wird vorbereitet, die „Bedingungen" warten und warten. Wenn sie dann vorbereitet ist, dann streift sie die Ärmel in die Höhe und stürzt sich in den Kampf. Nein, die Geschichte entwickelt sich nicht in dieser Weise. Für die Revolution ist das gleichzeitige Vorhandensein der notwendigen Bedingungen erforderlich. Ja, wenn in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres unsere bolschewistische Partei in Deutschland gewesen wäre, mit jenem Willen, den unsere Partei hatte, hat und haben wird, mit einem Willen, der in der Tat zum Ausdruck kommt, mit jener taktischen Fähigkeit, die die Arbeitermasse fühlt und sich sagt: dieser Partei kann ich mein Schicksal anvertrauen – hätte es eine solche Partei gegeben, so hätte sie der Aktion und durch die Aktion die Mehrheit der Arbeiterklasse für sich gewonnen. Was folgt hieraus? Hieraus folgt natürlich für unsere deutsche Partei, dass eine weitere Befestigung ihrer Reihen, die engste Verbindung mit den Massen, eine sorgfältige Auswahl der revolutionären Kämpfer und die Stählung des Parteiwillens notwendig ist.

Nun fragen wir aber: werden denn die objektiven Voraussetzungen der Revolution weiter bestehen? Diese Frage ist sehr wichtig für die Einschätzung der internationalen Lage überhaupt und der deutschen Lage im Besonderen, und während der letzten Monate hat sich die Lage in Deutschland stark verändert. Es wurde eine gewisse Stabilisierung der Mark erzielt, die Preise in Deutschland springen nicht mehr so rasch in die Höhe. Die Industrie entwickelt sich, die wirtschaftliche Lage ist jetzt besser als in den vergangenen Jahren, die Arbeitslosigkeit ist etwas zurückgegangen, die Lage der Arbeiterklasse hat sich einigermaßen gebessert. Das sind unbestreitbare Tatsachen. Die Zugespitztheit der Lage hat sich somit etwas gemildert. Und was weiter? Auf diese Frage können wir jetzt nur in ganz allgemeinen Zügen antworten, aber auch diese Antwort wird zur Einschätzung der vor uns liegenden Perspektive hinreichen. Die Entwicklung in Europa kann in der nächsten Periode zwei verschiedene Wege einschlagen, je nachdem die Entente Deutschland eine Atempause gewährt oder nicht. Nach der Erfahrung des letzten Jahres, wo das rote Gespenst des Kommunismus in Deutschland fast schon Fleisch und Blut geworden war, wird vielleicht die Bourgeoisie Frankreichs, Englands und der Vereinigten Staaten versuchen, die Lage Deutschlands ein wenig zu erleichtern, ihm einen gewissen Kredit und einen Zahlungsaufschub zu gewähren, wodurch ein wirtschaftliches Leben in Deutschland möglich sein wird. Das wird unvermeidlich zu einem gewissen Aufschwung der deutschen Industrie und damit im Zusammenhange auch des deutschen Volkes führen. Die deutsche Industrie ist gegenwärtig zu 50% ihrer Leistungsfähigkeit beschäftigt, und wenn die ökonomische und finanzielle Lage Deutschlands einigermaßen erleichtert würde, so würde das eine rasche Zunahme der deutschen Ausfuhr bedeuten. Die Aufnahmefähigkeit des europäischen Marktes ist jedoch klein, und als Resultat der Zunahme der deutschen Ausfuhr würden wir in einem Jahr, vielleicht noch früher, eine katastrophale Krise der englischen und französischen Industrie vor uns haben. Die geringste Erleichterung des deutschen Schicksals steigert unvermeidlich die Krise in England, das auch heute schon ungefähr eine Million Arbeitslose zählt. Es ist ganz, klar, dass dies dem Kampfe des englischen Proletariats einen wichtigen Anstoß geben würde. MacDonald begreift natürlich, dass unter den heutigen Verhältnissen eine Hilfe für die deutsche Industrie der englischen Industrie einen Schlag versetzen kann. Er kann sich also die Hände in Unschuld waschen. Auf die Revision des Versailler Friedens hat.er ja bereits verzichtet. Nehmen wir an, dass auch die Vereinigten Staaten Deutschland nicht zur Hilfe kommen und dass Poincaré seine Politik der Erwürgung Deutschlands fortsetzt, dann wird die deutsche Mark wieder beginnen, sich in einem noch rasenderen Tempo zu entwerten als vorher, die Preise werden noch rasender steigen, die Produktion wird zurückgehen, die Arbeitslosigkeit wieder zunehmen und die Revolution wird sich in einem rascheren Tempo entwickeln als im vergangenen Jahre, aber die KPD wird nicht mehr die Partei sein, die sie im vorigen Jahre war, sie wird jetzt die neuen Prüfungen mit größerer Erfahrung und größerer Festigkeit bestehen, und das erhöht in äußerst hohem Grade die Aussichten des Sieges. Es stehen also zweierlei Perspektiven vor uns: entweder eine zeitweilige Milderung der revolutionären Zuspitzung in Deutschland um den Preis einer unvermeidlichen Verschärfung der revolutionären Verhältnisse in ganz Europa, oder die Verschiebung der Krise in England und Frankreich um den Preis einer stürmischen Zuspitzung der Klassengegensätze in Deutschland. In beiden Fällen wird Europa den Weg großer revolutionärer Erschütterungen einschlagen müssen. Das ist im großen ganzen meine Einschätzung über die Lage im Hinblick auf die Entwicklung der Ereignisse in Deutschland.

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