Brest-Litowsk

Brest-Litowsk.

In die Friedensverhandlungen traten wir mit der Hoffnung ein, die Arbeitermassen Deutschlands und Österreich-Ungarns wie auch der Entente-Länder aufzurütteln. Zu diesem Zweck war es nötig, die Verhandlungen möglichst in die Länge zu ziehen, damit die europäischen Arbeiter Zeit hätten, die Tatsache der Sowjetrevolution und im besonderen ihre Friedenspolitik gehörig zu erfassen. Nach dem ersten Abbruch der Verhandlungen schlug Lenin mir vor, nach Brest-Litowsk zu gehen. An und für sich war die Aussicht auf Verhandlungen mit Baron Kühlmann und General Hoffmann wenig verlockend, aber – „um die Verhandlungen zu verschleppen, muss man einen ,Verschlepper' haben", wie sich Lenin ausdrückte. Wir hatten einen kurzen Gedankenaustausch im Smolny bezüglich der allgemeinen Linie der Verhandlungen. Die Frage, ob wir unterschreiben würden oder nicht, stellten wir einstweilen zurück. Man konnte nicht wissen, wie sich die Verhandlungen entwickeln und welchen Widerhall sie in Europa finden würden, welche Situation sich ergeben würde. Die Hoffnung auf eine rasche revolutionäre Entwicklung gaben wir selbstverständlich nicht auf.

Dass wir nicht weiter Krieg führen konnten, war für mich völlig klar. Als ich zum ersten Male unterwegs nach Brest-Litowsk durch die Schützengräben fuhr, waren unsere Genossen trotz meiner Warnungen und Anspornungen außerstande, eine einigermaßen eindrucksvolle Kundgebung gegen die übertriebenen deutschen Forderungen zu organisieren. Die Schützengräben waren fast leer, man wagte nicht einmal von einer bedingten Fortsetzung des Krieges zu sprechen. Frieden, Frieden, – koste es, was es wolle! … Später, nach meiner Rückkehr aus Brest-Litowsk, versuchte ich, die Vertreter der militärischen Gruppe im Allrussischen Exekutivkomitee zu überreden, unsere Delegation durch eine „patriotische" Rede zu unterstützen. „Unmöglich," war die Antwort, „ganz unmöglich. Wir würden nicht in die Schützengräben zurückkehren können, man wird uns nicht begreifen; wir werden jeden Einfluss verlieren ." In Bezug auf die Unmöglichkeit eines revolutionären Krieges gab es also zwischen mir und Lenin auch nicht den Schatten einer Meinungsverschiedenheit.

Es blieb aber eine andere Frage: Können die Deutschen noch Krieg führen? Können sie die Revolution angreifen, nachdem diese das Ende des Krieges erklärt hatte? Wie sollte man die Stimmung der deutschen Soldaten erfahren? Welche Wirkung hatte die Februarrevolution und später die Oktoberrevolution auf sie ausgeübt? Der Januarstreik in Deutschland sprach dafür, dass ein Umschwung bereits im Gange war. Aber wie tief war dieser Umschwung? Sollte man nicht versuchen, die deutsche Arbeiterklasse und die deutsche Armee vor die Alternative zu stellen: auf der einen Seite die Arbeiterrevolution, die den Krieg für beendet erklärt hat, auf der anderen Seite die Hohenzollernregierung, die den Befehl zum Angriff gegen diese Revolution erteilte?

Natürlich ist das sehr verlockend," erwiderte Lenin, „und diese Probe würde zweifelsohne nicht ganz erfolglos bleiben. Es ist aber riskant, sehr riskant. Wenn sich der deutsche Militarismus, was sehr wahrscheinlich ist, als stark genug erweisen wird, den Angriff gegen uns zu eröffnen, – was dann? Man darf es nicht riskieren: Nichts in der Welt ist jetzt so wichtig wie unsere Revolution."

Die Schwierigkeiten der Verhandlungen.

Die Verjagung der Konstituierenden Versammlung hatte in der ersten Zeit unsere außenpolitische Lage außerordentlich ungünstig gestaltet. Die Deutschen befürchteten anfangs immerhin, dass wir uns mit der „patriotischen" Konstituierenden Versammlung verständigen würden und dass diese Verständigung zum Versuch einer Fortsetzung des Krieges führen könnte. Ein derartiger sinnloser Versuch hätte allerdings die Revolution und das Land endgültig vernichtet. Das hätte sich indessen erst später herausgestellt, inzwischen aber die Deutschen neue Anstrengungen gekostet. Die Verjagung der Konstituierenden Versammlung diente dagegen als endgültiger Beweis unserer offenkundigen Bereitschaft, den Krieg um jeden Preis zu beenden.

Kühlmanns Ton wurde sofort frecher. Und welchen Eindruck mochte die Verjagung der Konstituierenden Versammlung beim Proletariat der Entente-Länder hervorgerufen haben? Die Antwort darauf war nicht schwer: Die Ententepresse stellte das Sowjetregime unentwegt als eine Hohenzollernagentur dar. Und nun kommen die Bolschewiken und verjagen die „demokratische" Konstituierende Versammlung, um mit den Hohenzollern einen Schmachfrieden zu schließen, zu einer Zeit, wo Belgien und Nordfrankreich von deutschen Truppen besetzt sind. Es war klar, dass es der Bourgeoisie der Entente gelingen würde, unter den Arbeitermassen die größte Verwirrung anzurichten. Und das wiederum konnte eine kriegerische Intervention gegen uns erleichtern.

Es ist ja bekannt, dass selbst in Deutschland, in den Kreisen der sozialdemokratischen Opposition, beharrlich das Gerücht verbreitet wurde, die Bolschewiken seien von der deutschen Regierung gekauft, und in Brest-Litowsk werde jetzt eine Komödie mit von vornherein verteilten Rollen gespielt. Diese Darstellung musste noch glaubhafter in Frankreich und England erscheinen. Ich war der Ansicht, dass es unter allen Umständen notwendig war, der europäischen Arbeiterschaft vor der Unterzeichnung des Friedens einen schlagenden Beweis der tödlichen Feindschaft zwischen uns und dem regierenden Deutschland zu geben.

Unter dem Eindruck dieser Erwägungen kam ich nach Brest-Litowsk mit dem Gedanken jener „pädagogischen" Demonstration, die sich in der Formel ausdrückte: Den Krieg stellen wir ein, aber einen Frieden unterzeichnen wir nicht. Ich beriet mich mit den andern Mitgliedern der Delegation, fand ihre Zustimmung und schrieb darüber an Wladimir Iljitsch. Er antwortete: „Wenn Sie herkommen, werden wir uns darüber unterhalten."

Es ist übrigens möglich, dass Lenins Ablehnung meines Vorschlages bereits in diesem Brief zum Ausdruck kam. Jetzt kann ich mich dessen nicht mehr erinnern; den Brief habe ich nicht bei der Hand, und ich bin auch nicht sicher, ob er überhaupt noch existiert. Nach meiner Rückkehr fanden zwischen mir und Wladimir Iljitsch im Smolny längere Unterhaltungen über dieses Thema statt.

Das wäre alles sehr verlockend und so schön, wie man es besser gar nicht wünschen könnte, vorausgesetzt, dass General Hoffmann nicht imstande ist, seine Truppen gegen uns marschieren zu lassen. Aber dürfen wir hoffen, dass er dazu nicht imstande ist? Er wird für diesen Zweck besonders ausgesuchte Regimenter aus bayerischen ,Kulaken' finden. Und braucht man denn viel gegen uns? Sie sagen ja selber, dass die Schützengräben leer sind. Was dann, wenn er den Krieg wirklich wieder aufnähme?"

Dann wären wir gezwungen, den Frieden zu unterzeichnen, und es wäre dann für jedermann klar geworden, dass uns kein anderer Ausweg übrig blieb. Das würde genügen, um der Legende von unserer geheimen Verbindung mit den Hohenzollern einen entscheidenden Stoß zu versetzen." „Natürlich, die Sache hat ihre Vorzüge. Immerhin ist das alles sehr riskant. Jetzt gibt es nichts Wichtigeres in der Welt als unsere Revolution; sie muss gesichert werden, koste es, was es wolle."

Zu den Schwierigkeiten der Frage an und für sich kamen noch interne Parteischwierigkeiten hinzu. In der Partei, wenigstens in ihren leitenden Kreisen, herrschte unversöhnliche Abneigung gegen die Annahme der Brester Bedingungen. Die in unserer Presse erscheinenden Verhandlungsberichte nährten und verschärften diese Stimmung. Sie fand ihren schärfsten Ausdruck in der Gruppe der linken Kommunisten, die die Parole des revolutionären Krieges verkündete. Diese Tatsache rief bei Lenin begreiflicherweise große Unruhe hervor.

Wenn das Zentralkomitee sich entschließt, die deutschen Bedingungen nur unter dem Druck eines mündlichen Ultimatums zu unterschreiben," meinte ich, „dann laufen wir Gefahr, in der Partei eine Spaltung hervorzurufen. Es ist für unsere Partei nicht minder wichtig als für die Arbeiter Europas, dass die wirkliche Sachlage klar zu Tage tritt. Wenn wir mit den Linken brechen, dann wird die Partei außerordentlich nach rechts abgedrängt werden. Es ist doch eine nicht zu bezweifelnde Tatsache, dass alle Genossen, die seinerzeit den Oktoberumsturz entschieden bekämpften und sich für einen Block der sozialistischen Parteien einsehen, nunmehr als bedingungslose Anhänger des Brest-Litowsker Friedens auftreten. Unsere Aufgaben erschöpfen sich aber doch nicht darin, Frieden zu schließen. Unter den linken Kommunisten dagegen gibt es sehr viele, die in der Oktoberperiode die aktivste Rolle gespielt haben usw."

Das ist alles unbestreitbar", erwiderte Wladimir Iljitsch. „Jetzt geht es aber um das Schicksal der Revolution. Das Gleichgewicht in der Partei werden wir schon wieder herstellen. Vor allen Dingen aber müssen wir die Revolution retten, und retten können wir sie nur durch die Unterzeichnung des Friedens. Lieber eine Spaltung, als die Gefahr einer militärischen Zertrümmerung der Revolution. Die Linken werden etwas toben und dann – selbst wenn sie es auf eine Spaltung ankommen lassen, was nicht unvermeidlich erscheint – zur Partei zurückkehren. Wenn die Deutschen uns aber überrennen, dann ist es überhaupt aus mit uns. … Nun schön, wollen wir annehmen, dass nach Ihrem Plan gehandelt wird. Wir haben die Unterzeichnung des Friedens abgelehnt. Und die Deutschen ergreifen daraufhin die Offensive. Was werden Sie dann unternehmen?"

Wir unterschreiben dann den Frieden unter dem Druck der Bajonette. Es wird sich dann für die Arbeiterklasse der ganzen Welt ein völlig klares Bild ergeben."

Und Sie werden dann nicht für die Parole des revolutionären Krieges eintreten?"

Auf keinen Fall."

Bei dieser Formulierung kann der Versuch vielleicht nicht so gefährlich werden. Wir riskieren dann, Estland oder Lettland zu verlieren. Unsere estnischen Genossen waren bei mir und erzählten, wie schön sie den sozialistischen Aufbau in der Landwirtschaft in Angriff genommen haben. Es wird sehr schade sein, das sozialistische Estland zu opfern," scherzte Lenin, „man wird aber wahrscheinlich um des guten Friedens willen sich mit diesem Kompromiss abfinden müssen."

Und wenn wir den Frieden sofort unterschreiben, wäre dann etwa die Möglichkeit einer deutschen Intervention in Estland oder Lettland ausgeschlossen?"

Das stimmt allerdings, es würde sich aber dann nur um eine Möglichkeit handeln, während hier der Ausgang von vornherein fast gewiss ist. Ich werde jedenfalls für sofortige Unterzeichnung des Friedens eintreten: das ist sicherer."

General Hoffmann spricht.

Lenins Bedenken gegen meinen Plan drehten sich in der Hauptsache darum, dass wir im Falle einer Wiederaufnahme der deutschen Offensive keine Zeit mehr hätten, den Frieden zu unterschreiben, das heißt, dass der deutsche Militarismus uns keine Zeit dazu lassen würde: „Diese Bestie springt schnell", hatte Wladimir Iljitsch mehrfach wiederholt. In den Beratungen, die über die Fragen des Friedens entscheiden sollten, nahm Lenin sehr entschieden gegen die Linken Stellung, während er sehr vorsichtig und ruhig gegen meinen Vorschlag auftrat. Er fand sich schließlich in einer gewissen Selbstüberwindung mit meinem Vorschlag ab, mit Rücksicht darauf, dass die Partei offenkundig gegen die Unterzeichnung war und nur insoweit, als die Zwischenlösung für die Partei zur Brücke für die Friedensunterzeichnung werden sollte. Die Beratungen der prominentesten Bolschewiken – Delegierten des dritten Rätekongresses – bewiesen eindeutig, dass unsere Partei, die kaum erst die Glut des Oktobers überstanden hatte, zur Klärung des eigenen Urteils den Prüfstein des Handelns brauchte; erst so würde sie das richtige Verständnis für die außenpolitische Situation aufbringen. Wäre nicht die Zwischenformel vorgeschlagen worden, dann hätte die Mehrheit für den revolutionären Krieg gestimmt.

Es ist hier nicht ohne Interesse, dass die linken Sozialrevolutionäre sich keineswegs von vornherein dem Brest-Litowsker Frieden widersetzten. Spridonowa wenigstens war zunächst eine entschiedene Anhängerin der Unterzeichnung: „Der Bauer will den Krieg nicht haben," meinte sie, „und er wird jeden Frieden in Kauf nehmen." „Unterschreiben Sie sofort den Frieden," sagte sie zu mir nach meiner ersten Rückkehr aus Brest, „und schaffen Sie das Getreidemonopol ab." Später unterstützen die linken Sozialrevolutionäre die Zwischenformel der Einstellung des Krieges ohne Vertragsunterzeichnung, die sie aber bereits als Etappe zum revolutionären Krieg „im Falle …" auffassten.

Die deutsche Delegation hat bekanntlich auf unsere Erklärung so reagiert, als ob Deutschland nicht die Absicht hätte, die Erklärung mit einer Wiederaufnahme der militärischen Operationen zu beantworten. Mit diesem Eindruck kehrten wir nach Moskau zurück.

Und werden sie uns nicht betrügen?" fragte Lenin.

Wir zuckten mit den Achseln:

Es sieht nicht danach aus."

Na also," sagte Lenin, „ist es so, dann umso besser: der Schein wird gewahrt und aus dem Kriege sind wir heraus."

Zwei Tage vor Ablauf des Termins erhielten wir indessen von dem in Brest zurückgebliebenen General Samojlo die telegraphische Nachricht, dass die Deutschen, einer Erklärung des Generals Hoffmann gemäß, sich vom 18. Februar, 12 Uhr an als im Kriegszustand mit uns befindlich betrachteten und ihm deshalb die Abreise aus Brest-Litowsk nahe gelegt hätten.

Das Telegramm gelangte zuerst zu Wladimir Iljitsch. Ich war gerade in seinem Arbeitszimmer. Wir unterhielten uns mit Karelin und noch einem linken Sozialrevolutionär. Lenin übergab mir schweigend das Telegramm. Ich entsinne mich seines Blickes, der mich sofort fühlen ließ, dass das Telegramm eine wichtige und unangenehme Nachricht enthielt. Lenin beeilte sich, die Unterhaltung mit den Sozialrevolutionären abzuschließen, um über die entstandene Lage zu beraten.

Die Deutschen haben uns also doch hineingelegt. Sie haben fünf Tage gewonnen. … Diese Bestie lässt sich nichts entgehen. Jetzt bleibt uns also nichts übrig, als die alten Bedingungen zu unterzeichnen, wenn uns die Deutschen diese Bedingungen überhaupt noch zubilligen werden."

Ich widersprach in dem Sinne, dass man Hoffmann die Möglichkeit geben solle, faktisch die Offensive zu beginnen.

Das hieße aber, Dünaburg preisgeben, viel Artillerie verlieren usw.?"

Natürlich, das bedeutet neue Opfer. Es ist aber notwendig, dass der deutsche Soldat tatsächlich den Kampf ins Sowjetgebiet trägt. – Es ist notwendig, dass die deutschen sowie die französischen Arbeiter davon erfahren."

Nein", antwortete Lenin. „Es handelt sich natürlich nicht um Dünaburg, aber wir dürfen jetzt keine einzige Stunde verlieren. Wir haben die Probe aufs Exempel gemacht. Hoffmann kann und will Krieg führen, man darf nicht zögern: sie haben uns ohnehin fünf Tage genommen, auf deren Verlust ich nicht gefasst war. Die Bestie springt schnell."

Das Zentralkomitee fasste den Beschluss, ein Telegramm abzusenden mit der Erklärung unseres sofortigen Einverständnisses zur Unterzeichnung des Brest-Litowsker Vertrages. Ein entsprechendes Telegramm wurde abgesandt.

Mir scheint," sagte ich in einer privaten Unterhaltung zu Wladimir Iljitsch, „dass es politisch zweckmäßig wäre, wenn ich als Volkskommissar des Auswärtigen meine Demission einreichte."

Wozu? Wir wollen doch diese parlamentarischen Gebräuche bei uns nicht einführen."

Mein Rücktritt würde aber in den Augen der Deutschen eine radikale politische Schwenkung bedeuten und ihr Vertrauen zu unserer nunmehr wirklichen Bereitschaft, den Frieden zu unterzeichnen und einzuhalten, verstärken."

Möglich," meinte Lenin nachdenklich, „das ist ein ernstes politisches Argument."

Ich entsinne mich nicht, zu welchem Zeitpunkt uns die Mitteilung von der Landung deutscher Truppen in Finnland und der begonnenen Niederwerfung der finnischen Arbeiterschaft erreichte. Ich erinnere mich, dass ich Wladimir Iljitsch im Korridor, unweit von seinem Zimmer, traf. Er war sehr erregt. Ich habe ihn in solchem Zustand niemals, weder vor- noch nachher, gesehen.

Ja," meinte er, „wir werden uns anscheinend schlagen müssen, obwohl wir nichts zum Kämpfen haben. Aber einen anderen Ausweg, glaube ich, gibt es dieses Mal kaum ."

Das war die erste Reaktion Lenins auf das Telegramm über die Niederwerfung der finnischen Revolution. Aber schon nach zehn bis fünfzehn Minuten, als ich zu ihm ins Zimmer kam, sagte er:

Nein, wir können unsere Politik nicht ändern. Unsere Aktion würde das revolutionäre Finnland nicht retten, uns aber ganz sicher vernichten. Wir wollen den finnischen Arbeitern helfen mit allem, was uns zu Gebote steht, aber ohne den Boden des Friedens zu verlassen. Ich weiß nicht, ob uns das jetzt noch retten wird. Das ist jedenfalls der einzige Weg, auf dem eine Rettung noch möglich erscheint."

Und die Rettung war, wie sich herausstellte, tatsächlich nur auf diesem Wege möglich.

Die Bedeutung der Brester Taktik.

Der Beschluss, den Frieden nicht zu unterzeichnen, entsprang keineswegs, wie man jetzt bisweilen schreibt, der abstrakten Erwägung, dass eine Verständigung zwischen uns und den Imperialisten grundsätzlich unmöglich wäre. Es genügt, in der Broschüre des Genossen Owsjannikow die von Lenin durchgeführten höchst lehrreichen Abstimmungen über diese Frage nachzulesen, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass die Anhänger der sondierenden Formel „weder Krieg noch Frieden" die Frage, ob wir als revolutionäre Partei berechtigt seien, unter gewissen Verhältnissen einen „Schmachfrieden" zu unterzeichnen, in bejahendem Sinne beantwortet hatten. Wir haben in der Tat gesagt: Wenn es auch nur fünfundzwanzig Chancen gegen hundert gibt, dass der Hohenzoller nicht wagen oder nicht imstande sein würde, mit uns Krieg zu führen, dann muss dieser Versuch, trotz des Risikos, unternommen werden.

Drei Jahre später gingen wir das Risiko ein – diesmal auf die Initiative Lenins hin –, das bürgerlich-adlige Polen mit dem Bajonett abzutasten. Wir wurden zurückgeschleudert. Worin liegt hier der Unterschied zu Brest-Litowsk? Ein grundsätzlicher Unterschied besteht nicht, wohl aber ein Unterschied in der Größe des Risikos.

Ich entsinne mich, dass Genosse Radek gelegentlich geschrieben hat, die Kraft des taktischen Denkens Lenins käme am schlagendsten zum Ausdruck in der Distanz zwischen der Unterzeichnung des Brest-Litowsker Friedens und dem Marsch auf Warschau. Wir alle wissen jetzt, dass der Marsch auf Warschau ein Fehler war, der uns schrecklich teuer zu stehen kam. Er brachte uns nicht nur zum Frieden von Riga, der uns die Verbindung mit Deutschland kostete; neben einer Reihe von anderen Ereignissen jener Periode war dieser Fehler überdies ein mächtiger Antrieb zur Konsolidierung des bürgerlichen Europa.

Die konterrevolutionäre Bedeutung des Rigaer Vertrages für das Schicksal Europas kann man am klarsten ermessen, wenn man sich die Situation des Jahres 1923 unter der Voraussetzung vorstellt, dass wir mit Deutschland eine gemeinsame Grenze gehabt hätten. Allzu vieles spricht dafür, dass die Entwicklung der Ereignisse in Deutschland in solchem Falle einen ganz anderen Weg genommen hätte.

Auch in Polen selber hätte sich zweifellos die revolutionäre Bewegung in bedeutend günstigerem Tempo entwickelt, wenn unsere militärische Intervention und ihr Fehlschlag ausgeblieben wären. Lenin selber maß, soweit mir bekannt ist, dem „Warschauer" Fehler eine ungeheure Bedeutung bei. Trotzdem war Radek durchaus im Recht mit seiner Einschätzung jener Distanz in der Leninschen Taktik. Nachdem die „Abtastung" der werktätigen Masse Polens ergebnislos versucht worden war; nachdem wir zurückgeschleudert wurden, und zurückgeschleudert werden mussten, da beim Ausbleiben interner Unruhen in Polen unser Marsch auf Warschau nicht mehr als ein Partisanenritt sein konnte; nachdem wir gezwungen waren, den Frieden von Riga zu unterzeichnen – nach alldem war die Schlussfolgerung leicht, dass die Gegner des Feldzuges recht gehabt hatten und dass es besser gewesen wäre, rechtzeitig Halt zu machen und sich die gemeinsame Grenze mit Deutschland zu sichern. Dies alles wurde aber erst nachträglich klar. Bedeutsam für Lenin bei der Idee des Warschauer Feldzuges aber ist die Kühnheit seines Planes. Das Risiko war groß, aber das Ziel war größer. Denn eine etwaige Schlappe bedeutete dieses Mal keine Gefahr für die Existenz der Sowjetrepublik, sondern höchstens ihre Schwächung ….

Man darf es dem zukünftigen Geschichtsschreiber überlassen, ein Werturteil darüber zu fällen, ob der Zweck einer Demonstration vor der europäischen Arbeiterschaft die Gefahr einer Verschlechterung der Brest-Litowsker Friedensbedingungen aufwiegen konnte. Es war aber ohne Weiteres klar, dass nach dieser Demonstration die Unterzeichnung des aufgezwungenen Friedens unumgänglich wurde. Auch hier hat die Klarheit der Leninschen Stellungnahme und seine große Stoßkraft die Situation gerettet.

Wie ist es, wenn die Deutschen trotzdem den Vormarsch aufnehmen? Was tun wir, wenn sie auf Moskau marschieren?"

Wir werden nach dem Osten zurückweichen, zum Ural hin, immer unsere Bereitschaft zur Friedensunterzeichnung betonend. Das Bassin von Kusnezk ist reich an Kohle. Wir werden eine Uralo-Kusnezker Republik schaffen und uns dabei stützen auf die Uraler Industrie und die Kusnezker Kohle, auf das Proletariat des Urals und den Teil der Moskauer und Petersburger Arbeiterschaft, den wir mitnehmen können. Wir werden schon durchhalten. Im Notfalle werden wir uns noch weiter östlich, hinter den Ural, zurückziehen. Wir werden bis zur Kamtschatka zurückgehen, aber wir werden uns halten. Die internationale Situation wird sich noch zehnfach ändern, und wir werden von den Grenzen der Uralo-Kusnezker Republik aus zu einer neuen Expansion gelangen und nach Moskau und Petersburg zurückkehren. Wenn wir aber jetzt sinnlos in den revolutionären Krieg verwickelt werden und die Blüte der Arbeiterklasse und unserer Partei niedermetzeln lassen, dann werden wir natürlich keine Gelegenheit mehr haben, irgendwohin zurückzukehren."

In jener Periode nahm die Uralo-Kusnezker Republik in Lenins Argumentation einen großen Raum ein. Er machte bisweilen seine Opponenten sprachlos durch die Frage: „Wissen Sie, dass wir im Kusnezker Revier riesige Kohlenlager besitzen? In Verbindung mit dem Uraler Erz und dem sibirischen Getreide haben wir eine neue Basis." Der Opponent, der nicht immer eine klare Vorstellung davon besaß, wo Kusnezk liegt und welche Beziehung die dortige Kohle zum konsequenten Bolschewismus und zum revolutionären Krieg haben könnte, machte große Augen oder brach aus purer Überraschung in Gelächter aus, in der Annahme, dass Lenin ihn entweder zum Besten haben oder überlisten wollte. In der Tat aber dachte Lenin gar nicht daran, zu scherzen. Er durchdachte vielmehr, seiner Natur treu bleibend, die ganze Situation bis zu ihren äußersten Konsequenzen und den denkbar schlimmsten praktischen Folgen. Der Gedanke an die Uralo-Kusnezker Republik war für ihn organisch notwendig, um sich und die anderen in der Überzeugung zu bestärken, dass noch nichts verloren war und dass es für eine Verzweiflungsstrategie keinen Platz gab noch geben durfte.

Bis zur Uralo-Kusnezker Republik ist die Sache bekanntlich nicht gekommen, und es ist gut, dass es nicht so weit gekommen ist. Man kann aber trotzdem sagen, dass die unverwirklicht gebliebene Uralo-Kusnezker Republik der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) zur Rettung wurde.

Lenins Brest-Litowsker Taktik richtig zu verstehen und zu würdigen, ist in jedem Falle nur möglich, wenn man sie mit seiner Oktobertaktik in Verbindung bringt. Gegen den Oktober und für Brest einzutreten, bedeutete in beiden Fällen im Grunde genommen, sich zum Sprachrohr der gleichen Kapitulationsstimmung zu machen. Das Wesentliche daran aber ist, dass Lenin bei der Brest-Litowsker Kapitulation dieselbe unerschöpfliche revolutionäre Energie entwickelte, die der Partei im Oktober den Sieg gebracht hatte. Gerade diese natürliche, organische Verbindung von Oktober und Brest, von gigantischem Schwung und mutiger Vorsicht, von Drängen und Augenmaß, liefert den Maßstab für Lenins Methode und Kraft.

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