Der Philister über den Revolutionär

Der Philister über den Revolutionär.

In einem der vielen Sammelwerke, die Lenin gewidmet sind, stieß ich auf einen Artikel des englischen Schriftstellers Wells unter dem Titel: „Der Schwärmer vom Kreml." Die Schriftleitung des Sammelwerkes hebt in ihrer Anmerkung hervor, dass „selbst so fortgeschrittene Leute, wie Wells, den Sinn der in Russland vor sich gehenden proletarischen Revolution nicht begriffen haben". Man sollte meinen, das sei kein hinreichender Grund, um dem Artikel von Wells in einem Sammelwerk Platz einzuräumen, das dem Führer dieser Revolution gewidmet ist. Es hat indessen wohl keinen Zweck, darüber zu nörgeln; ich selber wenigstens habe einige Seiten aus dem Aufsatz von Wells nicht ohne Interesse gelesen. Aus dem Folgenden wird ersichtlich sein, dass dies allerdings keineswegs für den Verfasser des Aufsatzes spricht.

Der Zeitpunkt, zu dem Wells Moskau besuchte, taucht lebhaft in meiner Erinnerung auf. Es war der an Hunger und Kälte reiche Winter 1920/21. Das unruhige Vorgefühl der im Frühjahr eintretenden Verwicklungen lag in der Luft. Das hungernde Moskau lag in tiefem Schnee. Die Wirtschaftspolitik stand vor einer jähen Wendung.

Ich entsinne mich sehr gut des Eindrucks, den Wladimir Iljitsch aus der Unterhaltung mit Wells behielt: „Das ist aber ein Spießbürger! Das ist aber ein Philister!" wiederholte er. Er hob dabei beide Hände über den Tisch und lachte und seufzte, wie es ihm eigen war, wenn er innere Scham für einen anderen Menschen empfand.

Ach, welch ein Philister!" wiederholte er, seine Unterhaltung in der Erinnerung noch einmal erlebend. Unser Gespräch fand vor Beginn der Sitzung des Politischen Büros statt und beschränkte sich eigentlich auf die Wiederholung der eben zitierten knappen Charakteristik von Wells. Aber auch das war mehr als genug für mich.

Ich habe allerdings wenig von Wells gelesen und ihn niemals gesehen. Doch diesen englischen Salonsozialisten, Fabianer*, Verfasser von phantastischen und utopischen Dichtungen, der gekommen war, um sich die kommunistischen Experimente anzusehen, – dieses Bild konnte ich mir sehr gut vorstellen. Und Lenins Bemerkung, insbesondere der Ton, ersetzte unschwer das Fehlende. Der Aufsatz von Wells, der auf unbegreifliche Weise in das Leninsche Sammelwerk hineingeraten ist, hat jetzt die Bemerkung Lenins in meinem Gedächtnis wieder wachgerufen und ihr einen lebendigen Inhalt verliehen. Denn obwohl in dem Aufsatz von Wells über Lenin fast keine Spur von Lenin zu finden ist, gibt er doch ein deutliches Spiegelbild von dem Verfasser selber.

Beginnen wir meinetwegen mit der einleitenden Beschwerde des Verfassers: Er, Wells, habe sich sehr lange bemühen müssen, einen Empfang bei Lenin zu erreichen, was ihn „sehr gereizt" habe. Weshalb denn eigentlich? War Wells etwa von Lenin zum Besuch aufgefordert worden? Hatte er etwa die Verpflichtung übernommen, ihn zu empfangen? Oder hatte Lenin damals sehr viel Zeit übrig? Im Gegenteil, in jenen außerordentlich schweren Tagen war jede Minute seiner Zeit bereits in Anspruch genommen; es fiel ihm keineswegs leicht, eine Stunde zu erübrigen, um Wells zu empfangen.

Dies zu begreifen, hätte auch einem Ausländer nicht schwer fallen sollen. Doch Wells als prominenter Ausländer und – trotz seines Sozialismus – konservativster Engländer von imperialistischem Schnitt war von der Überzeugung durchdrungen, dass er diesem barbarischen Land und dessen Führer mit seinem Besuch im Grunde genommen eine große Ehre erweise. Da liegt der Hund begraben. Der ganze Aufsatz von Wells, von der ersten bis zur letzten Zeile, riecht nach diesem unbegründeten Selbstdünkel.

Wells' Eindruck von Lenin.

Die Charakteristik Lenins beginnt in dem Aufsatz, wie zu erwarten war, mit einer Offenbarung. Lenin, heißt es, sei „gar kein Schriftsteller". Wer sollte in der Tat berufen sein, diese Frage zu entscheiden, wenn nicht der Berufsschriftsteller Wells? „Die kurzen scharfen Flugschriften, die in Moskau mit seiner (Lenins) Unterschrift erscheinen und die Strotzen von falschen Vorstellungen über die Psyche der westlichen Arbeiter …, bringen die wirkliche Grundlage des Leninschen Denkens sehr wenig zum Ausdruck." Dem ehrbaren Gentleman bleibt es natürlich unbekannt, dass Lenin eine ganze Serie kompaktester Werke über die Agrarfrage, Volkswirtschaftstheorie, Soziologie, Philosophie geschrieben hat. Wells kennt nur die „kurzen scharfen Flugschriften", und auch diese Kenntnis ist von dem Vorbehalt begleitet, dass die Flugschriften nur „mit Lenins Unterschrift" erscheinen, das heißt: Wells lässt die Vermutung offen, dass die Broschüren von anderen geschrieben worden sind. Die „wirkliche Grundlage des Leninschen Denkens" offenbart sich aber nicht in den Dutzenden der von ihm geschriebenen Bände, sondern in jener einstündigen Unterhaltung, die der aufgeklärte Gast aus Großbritannien so großmütig mit Lenin zu führen geruhte.

Von Wells hätte man wenigstens eine interessante Skizzierung der äußeren Erscheinung Lenins erwarten können, und einem einzigen gut getroffenen Charakterzug zuliebe wären wir bereit, ihm alle seine fabianischen Banalitäten zu verzeihen. Nicht einmal dieser Vorzug ist in dem Aufsatz zu finden.

Lenin hat ein angenehmes dunkles (!) Gesicht mit einem ständig wechselnden Ausdruck und einem regen Lächeln. …" „Lenin ist seinen Photos sehr wenig ähnlich . …" „Während der Unterhaltung hat er ein wenig gestikuliert." Über diese Banalitäten der Sonderberichterstatter einer kapitalistischen Zeitung hat sich Wells nicht emporzuheben vermocht.

Übrigens hat er noch entdeckt, dass Lenins Stirn an den länglichen und etwas unsymmetrischen Schädel von Arthur Balfour erinnere und dass Lenin im ganzen genommen „ein kleines Männchen" sei: „Wenn er auf dem Stuhlrand sitzt, berühren seine Beine kaum den Fußboden" Was den Schädel Arthur Balfours betrifft, so können wir über diesen ehrwürdigen Gegenstand nichts aussagen und glauben gern, dass er länglich ist. Im übrigen aber – welch unanständige Nachlässigkeit! – Lenin war rötlich-blond, man kann ihn unmöglich als dunkelhäutig bezeichnen. Er war von mittelgroßer Statur, vielleicht sogar etwas unter mittel; dass er aber den Eindruck eines „kleinen Männchens" machte und dass seine Füße im Sitzen kaum den Boden erreichten, das konnte nur einem Wells einfallen, der mit dem Selbstgefühl eines zivilisierten Gullivers das Land der nordischen kommunistischen Liliputaner besuchte.

Wells hat ferner bemerkt, dass Lenin die Gewohnheit habe, während der Unterhaltungspausen das Augenlid mit dem Finger hochzuheben. „Es ist möglich, dass diese Gewohnheit irgendeinem Sehdefekt entspringt", versucht der scharfsinnige Schriftsteller zu erraten. Diese Gebärde ist uns bekannt. Lenin hatte sie zur Gewohnheit, wenn er einen ihm unbekannten fremden Menschen vor sich hatte und diesen mit einem raschen Blick durch die Finger der schirmartig vorgehaltenen Hand musterte. Der „Defekt" des Leninschen Sehvermögens bestand darin, dass er seinen Unterhaltungspartner auf diese Weise ganz durchschaute, seine aufgeblasene Selbstgefälligkeit, seine zivilisierte Protzigkeit und seinen zivilisierten Dünkel erkannte und, nachdem er dieses Bild in sich aufgenommen hatte, noch lange zu bemerken pflegte: „Das ist aber ein Philister! Ein ungeheuerlicher Spießer!"

Das Thema der Unterhaltung.

Der Unterhaltung wohnte Genosse Rotstein bei, und Wells macht im Vorbeigehen die Entdeckung, dass Rotsteins Anwesenheit „für die gegenwärtige Lage der Dinge in Russland bezeichnend sei". Rotstein, schauen Sie, kontrolliert Lenin im Auftrag des Außenkommissariats wegen der übermäßigen Offenheit Lenins und wegen seiner träumerischen Unvorsichtigkeit. Was soll man zu dieser unschätzbaren Beobachtung sagen? Wells brachte, als er den Kreml betrat, in seinem Bewusstsein den ganzen Mist der internationalen bürgerlichen Presseberichte mit, und er entdeckte mit seinem scharf blickenden Auge – das selbstredend mit keinerlei „Sehdefekten" behaftet war! – in Lenins Arbeitszimmer das, was er früher in der „Times" oder aus einer anderen Quelle der ehrbaren und wohlerzogenen Klatschsucht herausgelesen hatte.

Worin bestand nun die Unterhaltung? Darüber erfahren wir von Wells nur hoffnungslose Gemeinplätze, die beweisen, wie armselig und kläglich Lenins Gedanke in manchem Schädel widerstrahlt, dessen Symmetrie zu bezweifeln wir übrigens gar keinen Anlass haben.

Wells kam mit der Idee, dass er „mit einem überzeugten doktrinären Marxisten zu diskutieren haben werde; es lag aber nichts Derartiges vor". Das kann uns nicht verwundern. Wir wissen ja bereits, dass „das Wesen des Leninschen Denkens" sich nicht etwa in seiner mehr als dreißigjährigen politischen und schriftstellerischen Tätigkeit, sondern in seiner Unterhaltung mit dem englischen Spießbürger offenbart hat. „Man sagte mir," fährt Wells fort, „dass Lenin zu dozieren liebe, mit mir hat er es aber nicht versucht." Wie sollte man, in der Tat, einen Gentleman belehren, der so erfüllt ist von hoher Selbsteinschätzung?

Dass Lenin es liebte, Belehrungen zu erteilen, stimmt überhaupt nicht. Es trifft nur zu, dass Lenin es verstand, sehr belehrend zu sprechen. Das tat er indessen nur dann, wenn er der Ansicht war, dass sein Gegenüber etwas zu lernen imstande war. In solchen Fällen pflegte er wirklich weder Zeit noch Mühe zu schonen. Bei dem prachtvollen Gulliver aber, der durch die Laune des Schicksals in das Arbeitszimmer des „kleinen Männchens" geraten war, hatte Lenin wahrscheinlich bereits nach den ersten zwei bis drei Minuten der Unterhaltung die feste Überzeugung, wie sie die Aufschrift über dem Eingang zur Danteschen Hölle wiedergibt: „Lass alle Hoffnung fahren!"

Man kam auf die Großstädte zu sprechen. Wells fiel es, wie er sagt, in Russland zum ersten Mal ein, dass das Stadtbild von dem Handel in den Geschäften und auf den Märkten bestimmt werde. Diese Entdeckung gab er den an der Unterhaltung Beteiligten zum besten. Lenin „erkannte an", dass die Städte beim Kommunismus in ihren Ausmaßen erheblich zurückgehen würden. Wells seinerseits „wies darauf hin", dass die Renovierung der Städte eine Riesenarbeit erfordern werde und dass viele kolossale Gebäude in Petersburg nur noch die Bedeutung von historischen Denkmälern behalten würden.

Lenin erklärte sich auch mit diesem unvergleichlichen Gemeinplatz von Wells einverstanden. „Mich dünkt," fügte Wells hinzu, „er unterhielt sich gern mit einem Menschen, der jene unvermeidlichen Folgen des Kollektivismus begreift, die dem Verständnis vieler aus seiner eigenen Gefolgschaft entgangen sind."

Hier habt ihr den fertigen Maßstab, um Wells' Niveau zu ermessen! Er betrachtet es als Produkt seines großen Scharfsinns, entdeckt zu haben, dass beim Kommunismus die gegenwärtigen konzentrierten Stadtkolosse verschwinden werden und dass viele der heutigen kapitalistischen Architektur-Ungeheuer nur die Bedeutung von historischen Denkmälern behalten werden, – wenn ihnen nicht die Ehre zuteil wird, der Vernichtung anheimzufallen. Wie sollten auch die armen Kommunisten – die „langweiligen Fanatiker des Klassenkampfes", wie Wells sie bezeichnet – sich zu solchen Entdeckungen aufschwingen, die übrigens in einer volkstümlichen Erläuterung des alten Programms der deutschen Sozialdemokratie längst niedergelegt worden sind. Dass all das, was dort vorhergesagt wurde, bereits den utopistischen Klassikern bekannt war, davon schweigen wir ganz.

Jetzt wird es hoffentlich verständlich sein, weshalb Wells jenes Lachen Lenins, von dem ihm so viel erzählt worden war, im Laufe der Unterhaltung „gar nicht bemerkt" hat: Lenin war keineswegs zum Lachen zu Mute. Ich fürchte sogar, seine Kiefer drängte es zu einer Bewegung, die dem Lachen völlig entgegengesetzt ist. Seine bewegliche und kluge Hand, die es stets verstand, rechtzeitig das unhöfliche Gähnen vor dem zu sehr von sich selber eingenommenen Gegenüber zu verbergen, hat hier aber sicherlich Iljitsch den nötigen Dienst erwiesen.

Lenin wird von Wells belehrt .…

Wie wir bereits gehört haben, hat Lenin nicht versucht, Wells zu belehren, aus Gründen, die wir als durchaus gewichtig anerkennen. Dafür aber hat Wells umso beharrlicher Lenin belehrt. Er hat ihm den ganz neuen Gedanken eingegeben: der Erfolg des Sozialismus „erfordere den Umbau nicht nur der materiellen Seite des Daseins, sondern auch der Geistesverfassung des gesamten Volkes".

Wells wies Lenin darauf hin, dass „die Russen ihrer Natur nach Individualisten und Händler" seien. Er legte Lenin dar, dass der Kommunismus „zu sehr eile" und dass er zerstöre, bevor er in der Lage sei, etwas aufzubauen, und so weiter in dem gleichen Sinne. „Das brachte uns", erzählt Wells, „zu dem uns trennenden Kernpunkt, dem Unterschied zwischen dem evolutionären Kollektivismus und dem Marxismus."

Unter dem evolutionären Kollektivismus ist das fabianische Gebräu aus Liberalismus, Philanthropie, sparsamer sozialer Gesetzgebung und Sonntagsbetrachtungen über eine bessere Zukunft zu verstehen. Wells selber formuliert das Wesen seines evolutionären Kollektivismus folgendermaßen: „Ich glaube, dass die bestehende kapitalistische Ordnung sich durch ein System der planmäßigen Erziehung der Gesellschaft zivilisieren und in eine kollektivistische Ordnung umwandeln lässt." Wells erklärt allerdings nicht, wer eigentlich das „planmäßige Erziehungssystem" und bei wem er es in Anwendung bringen werde: Vielleicht die Lords mit den länglichen Schädeln am englischen Proletariat, oder umgekehrt: das englische Proletariat an den Lords? O nein!, alles was ihr wollt, nur nicht das letztere. Wozu existieren denn auf der Welt die aufgeklärten Fabier, Männer des Gedankens, der uneigennützigen Phantasie, Gentlemen und Ladies, Mister Wells und Mrs. Snowden, – wenn nicht dazu: durch planmäßige und andauernde Eruption dessen, was hinter ihren eigenen Schädeln steckt, die kapitalistische Gesellschaft zu zivilisieren und sie in eine kollektivistische umzuwandeln, mit einer so vernünftigen und glücklichen Gemessenheit des Tempos, dass selbst die königliche Dynastie Großbritanniens den Übergang gar nicht merken würde?

All das hat Wells vor Lenin auseinandergesetzt, und Lenin hat alles mit angehört. „Für mich war es direkt eine Erholung (!), mich mit diesem ungewöhnlichen kleinen Mann zu unterhalten." Und für Lenin? – Oh, der viel geduldige Iljitsch! Er mag im Stillen manche ausdrucksvollen und saftigen russischen Worte gesagt haben. Er unterließ es, sie laut ins Englische zu übertragen, nicht nur, weil seine englischen Sprachkenntnisse vermutlich nicht so weit reichten, sondern auch aus Höflichkeitsgründen.

Iljitsch war sehr höflich. Er konnte sich indessen auch nicht auf höfliches Schweigen beschränken. „Er war gezwungen," erzählt Wells, „mir zu entgegnen, und er meinte, dass der Kapitalismus unheilbar raffgierig und verschwenderisch sei und dass man ihm nichts beibringen könne." Lenin berief sich auf eine Reihe von Tatsachen, die unter anderem ein neues Buch von Monais nennt: der Kapitalismus hat die britischen nationalen Schiffswerften zerstört, die vernünftige Ausbeutung der englischen Kohlengruben verhindert usw. Die Sprache der Tatsachen und Zahlen kannte Iljitsch sehr gut.

Wells Schlussfolgerung.

Ich gestehe," sagt Herr Wells unerwarteterweise zum Schluss, „es war für mich sehr schwer, mit ihm zu diskutieren." Was soll das besagen? Den Ansag etwa zu einer Kapitulation des evolutionären Kollektivismus vor der Logik des Marxismus? Nein, nein! „Lasst alle Hoffnung fahren!" Der auf den ersten Blick unerwartete Satz ist keineswegs zufällig, er gehört zum System, er trägt einen streng konsequent fabianischen, evolutionären, pädagogischen Charakter. Er ist auf die englischen Kapitalisten, Bankiers, Lords und ihre Minister berechnet. Wells sagt ihnen: Seht ihr, ihr handelt so schlecht, so ruinös, so eigennützig, dass es mir schwer fällt, in einer Auseinandersetzung mit dem Schwärmer vom Kreml die Grundsäge meines evolutionären Kollektivismus zu verteidigen. Werdet einsichtig, nehmt allwöchentlich ein fabianisches Bad, zivilisiert euch, marschiert auf dem Wege des Fortschritts. Wells' resigniertes Geständnis war also nicht der Anfang einer Selbstkritik, sondern nur die Fortsetzung der erzieherischen Arbeit an jener kapitalistischen Gesellschaft, die so vervollkommnet, moralisiert und fabianisiert aus dem imperialistischen Krieg und dem Frieden von Versailles hervorgegangen ist.

Nicht ohne herablassende Sympathie bemerkt Wells über Lenin: „Sein Glauben an seine Sache ist unbegrenzt." Das zu bestreiten, liegt keinerlei Anlass vor. Der Glaube an seine Sache war bei Lenin hinreichend stark. Was stimmt, das stimmt. Diese Glaubensstärke war es übrigens, die ihm die Geduld gab, sich in jenen dumpfen Monaten der Blockade mit jedem Ausländer zu unterhalten, der vielleicht eine Verbindung, wenn auch eine schiefe, zwischen Russland und dem Westen vermitteln konnte.

Das war Lenins Unterhaltung mit Wells. Ganz, ganz anders sprach Lenin mit den englischen Arbeitern, die ihn besuchten. Zu ihnen fand er einen lebendigen Kontakt. Er lernte und belehrte zugleich. Die Unterhaltung mit Wells trug aber einen halb erzwungenen, diplomatischen Charakter. „Unsere Unterhaltung endete unbestimmt", sagt der Verfasser des Aufsatzes zum Schluss. Mit anderen Worten: Die Partie zwischen dem evolutionären Kollektivismus und dem Marxismus blieb dieses Mal unentschieden. Wells reiste nach Großbritannien ab, und Lenin blieb im Kreml. Wells schrieb für das bürgerliche Publikum einen schalen Bericht, und Lenin wiederholte kopfschüttelnd: „Das ist aber ein Spießbürger! Uh, uh, uh, ist das ein Philister!"

Der Zweck der Analyse.

Man wird vielleicht fragen, weshalb und wozu ich mich eigentlich jetzt, nach beinahe vier Jahren, mit dem so unbedeutenden Aufsatz von Wells ausführlich auseinandergesetzt habe. Der Umstand, dass sein Aufsatz in einem der Lenins Hinscheiden gewidmeten Sammelwerke abgedruckt worden ist, wäre natürlich kein hinreichender Grund. Auch die Rechtfertigung wäre unzulänglich, dass diese Zeilen in Suchum, während einer Kur, geschrieben wurden. Für mich waren ernstere Gründe maßgebend.

In England ist jetzt die Partei am Ruder, zu der Wells gehört, und die von den aufgeklärten Vertretern des evolutionären Kollektivismus geleitet wird. Und es schien mir – wie ich glaube, nicht ganz grundlos –, dass die Lenin gewidmeten Zeilen von Wells uns vielleicht besser als manches andere den Geist der leitenden Schicht der britischen Arbeiterpartei offenbaren; Wells ist schließlich nicht der schlechteste ihrer Vertreter.

Wie tödlich rückständig sind diese mit dem schweren Bleigewicht der bürgerlichen Vorurteile belasteten Leute! Ihre Arroganz – ein verspäteter Reflex der großen geschichtlichen Rolle der englischen Bourgeoisie – gestattet es ihnen nicht, sich in das Leben anderer Völker, in neue Gedankengänge, in den über ihre Köpfe hinweg spülenden historischen Prozess richtig hineinzuversetzen

Die beschränkten Routiniers, die Empiriker mit den Scheuklappen der bürgerlichen öffentlichen Meinung, – diese Herrschaften tragen sich selber und ihre Vorurteile in der ganzen Welt zur Schau und bringen es fertig, nur sich selber wahrzunehmen, nichts um sich herum. Lenin hat in vielen Ländern Europas gelebt, er lernte fremde Sprachen, las, studierte, horchte, analysierte, verglich, deduzierte. Zum Haupte eines großen revolutionären Landes geworden, ließ er keine Gelegenheit ungenützt, um gewissenhaft und aufmerksam zu lernen, zu erkunden, zu erfahren. Er wurde nie müde, das Leben der ganzen Welt zu verfolgen. Er las und sprach frei deutsch, französisch, englisch, las italienisch. In den letzten Jahren seines Lebens, von Arbeit überbürdet, pflegte er trotzdem während der Sitzungen des Politischen Büros nebenher die tschechische Grammatik zu studieren, um einen unmittelbaren Schlüssel zu der Arbeiterbewegung der Tschechoslowakei zu erhalten; wir „ertappten" ihn bisweilen bei dieser Beschäftigung, und er lachte dann ein wenig verlegen und entschuldigte sich. … Und ihm steht ein Wells gegenüber, der jene Gattung der scheingebildeten, beschränkten Spießer verkörpert, die überall schauen, ohne etwas zu sehen und dabei der Meinung sind, dass sie nichts zu lernen brauchten, weil sie mit ihrem ererbten Vorrat an Vorurteilen genügend eingedeckt sind.

Und Herr MacDonald, der eine solidere und rauere puritanische Abart des gleichen Typus repräsentiert, beruhigt die bürgerliche öffentliche Meinung: Wir haben mit Moskau gekämpft, und wir haben Moskau besiegt. Sie hätten Moskau besiegt? Das sind aber wahrhaftig arme „kleine Männchen", und seien sie auch noch so hoch von Wuchs! Heute noch, nach allem, was sich in der Welt ereignet hat, wissen sie noch gar nichts von ihrem eigenen morgigen Tag. Die liberalen und konservativen Geschäftemacher schieben ohne Mühe die am Ruder befindlichen „evolutionären" sozialistischen Pedanten vor, um sie zu kompromittieren und bereiten dadurch bewusst ihren Zusammenbruch vor, nicht nur als Minister, sondern auch als Politiker. Gleichzeitig bereiten sie auch, allerdings weniger bewusst, die Machtübernahme durch die englischen Marxisten vor. Ja, ja, durch die Marxisten, die „langweiligen Fanatiker des Klassenkampfes". Auch die englische soziale Revolution wird nach den von Marx entdeckten Gesetzen vor sich gehen.

Mit der ihm eigenen Geistreichelei, die schwer ist wie ein Pudding, hat Wells einmal gedroht, er würde die Schere nehmen und Marx die „doktrinäre" Haarkrone und den Bart beschneiden, er würde Marx anglisieren, respektabilisieren und fabianisieren, das heißt, ihn auf englische, respektable und fabianische Art zurichten. Aus diesem Vorhaben ist aber nichts geworden, und es wird auch nichts dabei herauskommen. Marx wird Marx bleiben, ebenso wie Lenin Lenin blieb, nachdem ihn Wells im Laufe einer ganzen Stunde mit seinem stumpfen Rasiermesser qualvoll bearbeitet hatte. Und wir wagen die Voraussage, dass man in nicht allzu ferner Zukunft in London, etwa auf dem Trafalgar Square, zwei Bronzefiguren neben einander aufstellen wird: Karl Marx und Wladimir Iljitsch Lenin. Die englischen Proletarier werden zu ihren Kindern sagen: „Wie schön ist es, dass es den kleinen Männchen aus der Labour Party nicht gelungen ist, diesen beiden Riesen das Haar abzuschneiden oder sie zu rasieren!"

In Erwartung dieses Tages, den zu erleben ich mich bemühen werde, schließe ich für einen Augenblick die Augen und sehe deutlich Lenins Gestalt in seinem Sessel, dem gleichen Sessel, in dem ihn Wells gesehen hat, und ich höre die von einem aufrichtigen Stoßseufzer begleiteten Worte: „Das ist aber ein Spießbürger! Das ist aber ein Philister!"

* The Fabian Society – Gesellschaft der Fabier – vereinigt in England die intellektuellen Sozialisten und ist von ihnen selber zu Ehren des Fabius Cunctator (des Zögerers) so benannt worden. Anmerkung des Verfassers.

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