Die Tschechoslowaken und die linken Sozialrevolutionäre

Die Tschechoslowaken und die linken Sozialrevolutionäre.

Das Frühjahr 1918 war sehr schwierig. Zeitweise hatte man das Gefühl, alles gleite davon und zerbröckele, und es gäbe nichts, woran man sich klammern, worauf man sich stützen könnte.

Einerseits war es völlig klar, dass ohne die Oktoberumwälzung das Land für längere Zeit dem Fäulnisprozess überantwortet geblieben wäre. Andererseits regte sich im Frühjahr 1918 unwillkürlich die Frage: Werden die Lebenssäfte des erschöpften, ruinierten, verzweifelten Landes ausreichen, um das neue Regime am Leben zu erhalten? Nahrungsmittel gab es nicht. Eine Armee gab es nicht. Der staatliche Apparat entwickelte sich im Schneckentempo. Eiternde Verschwörungen von überall her. Das Korps der Tschechoslowaken gebärdete sich auf unserem Boden wie eine selbständige Macht. Wir konnten ihnen nichts oder so gut wie nichts entgegensehen.

In einer sehr schweren Stunde des Jahres 1918 erzählte mir einmal Wladimir Iljitsch:

Heute war eine Arbeiterdelegation* bei mir und da gab einer von ihnen auf meine Worte zur Antwort: ,Auch Sie, Genosse Lenin, nehmen anscheinend für die Kapitalisten Partei!' Wissen Sie, solche Worte hörte ich zum ersten Mal. Ich gestehe, ich verlor meine Fassung und wusste nicht, was ich antworten sollte. Wenn das kein böswilliger Typ, kein Menschewik war, dann ist das ein besorgniserregendes Symptom."

Als er mir diese Episode mitteilte, schien mir Lenin betrübter und erregter als in späteren Fällen, wenn böse Frontnachrichten kamen, wie beim Fall von Kasan, oder als Petersburg unmittelbar bedroht war. Das ist auch begreiflich: Kasan und sogar Petersburg konnte man verlieren und zurückgewinnen, das Vertrauen der Arbeiter aber ist das Grundkapital der Partei.

Ich habe den Eindruck," sagte ich in jenen Tagen zu Wladimir Iljitsch, „dass das Land jetzt, nach den überstandenen Krankheiten verstärkte Ernährung, Ruhe und Pflege braucht, um am Leben zu bleiben und sich zu erholen; der kleinste Stoß kann jetzt der letzte sein."

Ich habe den gleichen Eindruck," antwortete Wladimir Iljitsch, „eine furchtbare Entkräftung! jeder weitere Stoß ist jetzt gefährlich."

Die Geschichte mit den Tschechoslowaken drohte indessen, die Rolle eines solchen Stoßes zu spielen. Das tschechoslowakische Korps hatte sich in dem schwammigen Körper des südwestlichen Russlands eingenistet, ohne auf Widerstand zu stoßen, und es war bald von einem Tross von Sozialrevolutionären und anderen Politikern von einer noch weißeren Färbung umgeben.

Am Ruder waren allerdings überall schon die Bolschewiken, aber die Schwammigkeit der Provinz war noch sehr groß. Kein Wunder. Die Oktoberrevolution war eigentlich nur in Petersburg und Moskau im richtigen Sinne des Wortes durchgeführt. In den meisten Provinzstädten wickelte sich die Oktober- ebenso wie die Februarrevolution telegraphisch ab. Die einen kamen, die anderen gingen, weil man es ihnen in den Hauptstädten bereits vorgemacht hatte. Die Schwammigkeit des gesellschaftlichen Milieus, das Fehlen jeglichen Widerstands auf Seiten der gestrigen Machthaber hatte zur Folge, dass die Revolution an der gleichen Schwammigkeit litt.

Das Erscheinen der Tschechoslowaken änderte die Situation anfangs zu unseren Ungunsten, schließlich aber zu unseren Gunsten. Die Weißen erhielten einen militärischen Mittelpunkt, um den herum sie sich kristallisieren konnten. Als Reaktion hierauf begann die richtige revolutionäre Kristallisierung der Roten. Man kann sagen, dass das Wolgagebiet erst nach dem Auftreten der Tschechoslowaken seine Oktoberrevolution durchgemacht hat. Das geschah indessen nicht mit einem Mal.

Die Ermordung des Grafen Mirbach.

Am 3. Juli läutete Wladimir Iljitsch bei mir im Kriegskommissariat an.

Wissen Sie, was passiert ist?" fragte er mit jener dumpfen Stimme, die Erregung verriet.

Nein, was ist denn los?"

Die linken Sozialrevolutionäre haben eine Bombe gegen Mirbach geworfen; man sagt, er sei schwer verwundet. Kommen Sie zum Kreml, wir müssen uns beraten."

Nach wenigen Minuten war ich in Lenins Arbeitszimmer. Er berichtete mir die tatsächlichen Vorgänge, dabei fortwährend neue Einzelheiten telefonisch anfordernd.

Das ist eine Geschichte!" sagte ich, die recht ungewöhnlichen Neuigkeiten in mich aufnehmend. „Über Eintönigkeit des Daseins können wir uns keineswegs beschweren."

Ja!" meinte Lenin erregt auflachend. „Ja, hier haben wir wieder einmal einen ungeheuerlichen kleinbürgerlichen Seitensprung… ." Er sagte das Wort „Seitensprung" sehr ironisch. „Das ist der Zustand, von dem Engels schrieb: ,der rabiat gewordene Kleinbürger.'"

Zu gleicher Zeit wurden eilige Telefongespräche – kurze Fragen und Antworten – mit dem Kommissariat des Auswärtigen, der Tscheka und anderen Behörden geführt. Lenins Gedanken arbeiteten, wie immer in kritischen Momenten, gleichzeitig nach zwei Richtungen hin: der Marxist bereicherte seine historische Erfahrung, mit Interesse den neuen Trick – den „Seitensprung" des philisterhaften Radikalismus – beurteilend; zu gleicher Zeit aber straffte der revolutionäre Führer die Fäden der Information und arbeitete die zu unternehmenden Maßnahmen aus. Man erhielt Nachrichten von einem Aufstand bei der Tscheka.

Ich fürchte, dass die linken Sozialrevolutionäre jenes Kirschsteinchen werden könnten, dem es vielleicht beschieden ist, uns zu Fall zu bringen… ."

Ich habe gerade darüber nachgedacht," antwortete Lenin, „das ist ja das Schicksal des schwankend gewordenen Kleinbürgers, dass er als Kirschsteinchen den Zwecken der Weißgardisten dienen muss… . Wir müssen jetzt unter allen Umständen auf den Charakter des deutschen Berichtes nach Berlin einwirken. Der Anlass für ein militärisches Eingreifen ist mehr als ausreichend, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass Mirbach wahrscheinlich fortwährend berichtet hat, wir seien schwach, und es bedürfe nur eines kleinen Stoßes, um uns zu erledigen… ."

Bald darauf kam Swerdlow, gut gelaunt wie immer.

Na, was ist?" sagte er, mich mit einem ironischen Lächeln begrüßend „Es sieht aus, als müssten wir wieder vom Rat der Volkskommissare zum Revolutionskomitee übergehen."

Lenin fuhr inzwischen fort, Auskünfte einzufordern. Ich weiß nicht mehr, ob es in jenem Augenblick oder später war, dass wir die Mitteilung von Mirbachs Ableben erhielten. Man musste zur Botschaft fahren, um zu „kondolieren". Es wurde beschlossen, dass Lenin, Swerdlow und, ich glaube, Tschitscherin fahren sollten. Mein Mitkommen wurde in Erwägung gezogen, doch nach einem flüchtigen Meinungsaustausch wurde ich davon befreit.

Ob wir unser Sprüchlein auch richtig sagen werden?" meinte Wladimir Iljitsch kopfschüttelnd. „Ich habe mich schon darüber mit Radek verständigt. Ich wollte sagen ,Mitleid', man muss aber sagen ,Beileid'."

Er lachte ein wenig, halblaut, kleidete sich an und sagte fest zu Swerdlow: „Wir gehen!" Sein Gesicht veränderte sich, wurde aschgrau, Iljitsch fiel diese Fahrt in die hohenzollernsche Botschaft zum Kondolenzbesuch anlässlich des Todes des Grafen Mirbach nicht leicht. Als inneres Erlebnis war dies wahrscheinlich einer der schwersten Augenblicke seines Lebens.

In solchen Tagen erkennt man die Menschen. Swerdlow war wirklich unvergleichlich: selbstbewusst, mutig, fest, schlagfertig – der beste Typ eines Bolschewiken. Lenin erkannte Swerdlow zu dieser Zeit erst voll und lernte ihn gerade in jenen schweren Monaten richtig würdigen. Wie viele Male hat nicht Wladimir Iljitsch bei Swerdlow angerufen, um die eine oder die andere eilige Maßnahme vorzuschlagen, und in den meisten Fällen erhielt er die Antwort: „Ist schon!" das hieß: die nötigen Vorkehrungen waren bereits getroffen. Wir scherzten häufig über dieses Thema: Swerdlow wird wieder sagen: „Ist schon!"

Dabei waren wir anfangs gegen seine Aufnahme ins Zentralkomitee," erzählte Lenin einmal, „wie wir doch diesen Menschen unterschätzt haben! Darüber gab es genug Streit, man hatte uns aber auf dem Kongress von unten her korrigiert und das war, wie sich herausstellte, durchaus richtig."**

Die Mobilmachung.

Die Revolte der linken Sozialrevolutionäre kostete uns einen politischen Mitläufer und Bundesgenossen, hat uns aber legten Endes nicht geschwächt, sondern gestärkt. Unsere Partei wurde dadurch fester zusammengefügt. In den Behörden, bei der Armee stieg die Bedeutung der kommunistischen Zellen. Die Linie der Regierung wurde fester.

In derselben Richtung hat zweifellos auch der tschechoslowakische Aufstand gewirkt, der die Partei von dem Zustand der Depression erlöste, in dem sie sich ohne Zweifel seit dem Brester Frieden befand. Die Periode der Parteimobilisation für die Ostfront begann.

Die erste Gruppe, zu der noch die linken Sozialrevolutionäre zählten, fertigten wir beide, Wladimir Iljitsch und ich, gemeinsam ab. Hier wurde schon, zunächst noch in nebelhafter Form, die Organisation der zukünftigen Politischen Abteilungen eingeleitet. Die von der Wolga kommenden Nachrichten waren indessen nach wie vor ungünstig.

Murawjews Verrat und der Aufstand der linken Sozialrevolutionäre richteten an der Ostfront wieder eine zeitweilige Verwirrung an. Die Gefahr verschärfte sich sofort. Gerade da begann der radikale Umschwung.

Man muss alles und alle mobilisieren und an die Front schicken", sagte Lenin. „Wir müssen aus dem ,Vorhang' alle einigermaßen kampffähigen Truppen herausziehen und sie nach der Wolga hinüber werfen"

Es sei erinnert, dass als „Vorhang" jener dünne Truppenkordon bezeichnet wurde, der im Westen an der deutschen Okkupationslinie lag.

Und die Deutschen?" erwiderte man Lenin.

Die Deutschen werden nicht vorrücken, – sie haben andere Sorgen im Kopf. Überdies sind sie auch selber daran interessiert, dass wir mit den Tschechoslowaken fertig werden.

Dieser Plan wurde angenommen, und er lieferte das Rohmaterial für die künftige Fünfte Armee. Damals wurde auch meine Reise an die Wolga beschlossen. Ich machte mich daran, einen Zug zu formieren, was in jenen Zeiten nicht einfach war. Wladimir Iljitsch interessierte sich auch hier für alle Einzelheiten, schrieb mir Zettel, telefonierte ohne Ende.

Haben Sie ein leistungsfähiges Auto? Nehmen Sie eines aus der Kreml-Garage."

Und wieder nach einer halben Stunde: „Nehmen Sie ein Flugzeug mit? Sie sollten eins mitnehmen, für alle Fälle."

Die Armee wird Flugzeuge haben", antwortete ich. „Falls nötig, werde ich davon Gebrauch machen."

Wieder nach einer halben Stunde: „Ich glaube doch, Sie sollten trotzdem ein Flugzeug beim Zuge haben. Wer weiß, was passieren kann."

Und so weiter, und so fort.

Die Konsolidierung.

Die hastig, vorwiegend aus den abgekämpften Soldaten der alten Armee zusammengezimmerten Regimenter und Formationen zerstreuten sich bekanntlich sehr kläglich beim ersten Zusammenprall mit den Tschechoslowaken.

Um diese verderbliche Haltlosigkeit zu überwinden, brauchen wir starke Sperrformationen aus Kommunisten und überhaupt aus kampfgewillten Leuten", sagte ich zu Lenin vor meiner Abreise nach dem Osten. „Man muss sie zum Kämpfen zwingen. Wenn wir warten, bis sich der Muschik den Schlaf aus den Augen reibt, dann wird es vielleicht zu spät sein."

Das ist natürlich richtig," antwortete er, „ich fürchte aber, dass die Sperrformationen ebenso wenig die nötige Festigkeit aufbringen werden. Der Russe ist gütig, entschlossene Mittel des revolutionären Terrors liegen ihm nicht. Aber versuchen muss man es."

Die Nachricht vom Attentat auf Lenin und der Ermordung Uritzkis traf mich in Swijaschsk. In jenen tragischen Tagen durchlebte die Revolution eine innere Wandlung. Sie wurde ihre „Güte" los. Der Parteihammer erhielt jetzt endgültig seine richtige Härte. Die Entschlossenheit wuchs und, wo nötig, auch die Schonungslosigkeit. An der Front renkten die Politischen Abteilungen Hand in Hand mit den Sperrformationen und den Tribunalen das Rückgrat im schwammigen Körper der jungen Armee wieder zurecht. Die Änderung war sofort zu merken. Wir eroberten Kasan und Simbirsk zurück. In Kasan erhielt ich von Lenin, der damals nach dem Attentat fast wieder hergestellt war, ein Telegramm anlässlich unserer ersten Siege an der Wolga.

Als ich bald danach in Moskau war, fuhr ich zusammen mit Swerdlow nach Gorki [Lenins Landaufenthalt, nicht weit von Moskau] zu Wladimir Iljitsch, der sich rasch erholte, aber zu seiner Arbeit nach Moskau noch nicht zurückkehren durfte. Wir fanden ihn in bester Laune. Er erkundigte sich ausführlich nach der Organisation der Armee, ihren Stimmungen, der Rolle der Kommunisten, der wachsenden Disziplin, und er wiederholte mit Behagen: „Das ist gut, das ist ausgezeichnet. Die Stärkung der Armee wird sofort auf das ganze Land zurückwirken und überall eine Stärkung der Disziplin und des Verantwortungsgefühls zur Folge haben… ."

In den Herbstmonaten stellte sich tatsächlich eine große Veränderung ein. Jener an Bleichsucht gemahnende Zustand, der in den Frühlingsmonaten vorherrschte, war nicht mehr zu spüren. Irgendwie war ein Umschwung eingetreten, irgend etwas konsolidierte sich. Es ist merkwürdig, dass die Revolution dieses Mal nicht durch eine neue Atempause, sondern vielmehr durch eine neue akute Gefahr gerettet worden war, die den verschütteten Quellen der revolutionären Energie im Proletariat zum Durchbruch verhalf.

Als Swerdlow und ich ins Auto stiegen, stand Lenin munter und lebensfroh auf dem Balkon. So froh habe ich ihn nur einmal, am 25. Oktober, gesehen, als er im Smolny von den ersten militärischen Erfolgen des Aufstandes erfuhr.

Die linken Sozialrevolutionäre hatten wir politisch liquidiert. An der Wolga machten wir reinen Tisch. Lenin erholte sich von seinen Verwundungen. Die Revolution gewann an Kraft und Männlichkeit.

* Ich kann mich leider der Frage gar nicht mehr entsinnen, die jene Delegation zu ihrem Besuch veranlasste. Anmerkung des Verfassers.

** Swerdlow wird – ich weiß nicht weshalb – immer als der erste Vorsitzende vom Allrussischen Exekutivkomitee des Nach-Oktober bezeichnet. Das stimmt nicht. Der erste Vorsitzende war, wenn auch nicht lange, Genosse Kamenew Swerdlow ersetzte ihn auf Anregung Lenins in der Periode des verschärften internen Parteikampfes in Verbindung mit dem Versuch einer Verständigung mit den sozialistischen Parteien. In den Anmerkungen zum Band XIV der „Gesammelten Werke" Lenins heißt es, dass die Ersetzung des Genossen Kamenews durch Swerdlow angeblich durch die Abreise des ersteren zu den Verhandlungen nach Brest-Litowsk hervorgerufen worden war. Diese Erklärung stimmt nicht. Die Wahl Swerdlows wurde, wie bereits gesagt, durch die Verschärfung des internen Parteikampfes veranlasst. Ich kann mich dessen umso sicherer entsinnen, als es mir damals oblag, im Auftrage des Zentralkomitees Swerdlows Kandidatur bei der Parteifraktion des Allrussischen Exekutivkomitees in Vorschlag zu bringen.

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