Lenin auf der Tribüne

Lenin auf der Tribüne.

Lenin ist nach dem Oktober von Photographen und Filmoperateuren mehrfach aufgenommen worden. Seine Stimme ist auf Schallplatten festgehalten. Seine Reden sind stenographiert und gedruckt. Alle Elemente Wladimir Iljitschs sind auf diese Weise noch gegenwärtig. Aber nur die Elemente! Die lebendige Persönlichkeit äußert sich ja im unwiederholbaren und stets dynamischen Zusammenspiel der Elemente.

Wenn ich in Gedanken versuche, mit noch unbefangenem Auge und Ohr wie zum ersten Mal Lenin auf der Tribüne zu sehen und zu hören, dann sehe ich vor mir eine kräftige und gedrungene, von innerer Spannkraft erfüllte Gestalt, nicht hoch von Wuchs, und ich höre eine gleichmäßige, fließende, sehr schnelle, etwas schnarrende, ununterbrochene, fast pausenlose und im ersten Anlauf auch nicht besonders akzentuierte Stimme.

Die ersten Sätze sind gewöhnlich allgemein gehalten, der Ton tastend. Die ganze Gestalt scheint ihr Gleichgewicht, die Geste ihre Form noch nicht gefunden zu haben. Der Blick ist in sich gekehrt, das Gesicht fast unfreundlich, sogar ärgerlich – der Gedanke sucht den Kontakt mit der Zuhörerschaft. Dieses Anfangsstadium dauert mehr oder weniger lange, je nach der Zuhörerschaft, dem Thema, der Stimmung des Redners. Nun hat er aber in die richtige Kerbe gehauen! Das Thema beginnt Gestalt zu gewinnen. Der Redner beugt den Oberkörper nach vorn über und steckt die Daumen der beiden Hände hinter die Ärmelausschnitte der Weste. Durch diese Doppelbewegung treten Kopf und Hände mit einem Mal hervor.

Der Kopf an und für sich erscheint auf dem nicht hohen, aber kräftigen, fest gefügten, rhythmischen Körper nicht groß. Enorm groß erscheinen an diesem Kopf die Stirn und die kahl hervorragenden Konturen des Schädels. Die Hände sind sehr beweglich, aber nicht geschäftig oder nervös. Die Handfläche – breit, kurzfingerig, „plebejisch", stark – trägt die gleichen Züge der Zuverlässigkeit und der männlichen Gutmütigkeit, die der ganzen Gestalt eigen sind.

Damit diese Züge erkennbar werden, muss der Redner aber von innen heraus erhellt werden, etwa wenn er die List des Gegners durchschaut oder den Gegner mit Erfolg in die Falle lockt. Dann treten unter der machtvollen Überdachung von Stirn und Schädel die Leninschen Augen hervor, die selbst auf einem geglückten Photo von 1919 nur annähernd wiedergegeben sind. Auch der gleichgültige Zuhörer wurde, wenn er diesen Blick zum ersten Mal auffing, gespannt und wartete, was nunmehr folgen würde. Die hervorstehenden Backenknochen wurden in solchen Augenblicken belichtet und gemildert durch die kluge Herablassung, hinter der eine große Kenntnis der Menschen, Beziehungen und Verhältnisse – bis zu ihrem allertiefsten Hintergrund – zu spüren war. Der untere Teil des Gesichts mit seinem rötlich-grauen Bartwuchs blieb fast im Schatten. Die Stimme wurde weicher, geschmeidiger und – stellenweise – schelmisch anschmiegsam.

Nun bringt aber der Redner die mögliche Erwiderung des Gegners oder ein boshaftes Zitat aus einem feindlichen Artikel. Bevor er dazu kommt, den gegnerischen Gedanken zu analysieren, gibt er den Zuhörern zu verstehen, dass die Erwiderung unbegründet, oberflächlich oder falsch sei. Er holt die Finger aus dem Westenausschnitt, wirft den Körper leicht nach rückwärts, tritt mit kleinen Schritten zurück, als ob er sich den Raum für den Anlauf freimachen wollte, und zuckt die spitzen Schultern – bald ironisch, bald mit verzweifelter Miene –, die Hände mit den ausdrucksvoll zurückgeschobenen Daumen dabei weit auseinander holend

Die Verurteilung, das Lächerlichmachen oder die Anprangerung des Gegners – je nach dem Gegner und der Gelegenheit – geht bei ihm stets der Widerlegung voran. Der Zuhörer wird gleichsam darauf vorbereitet, Argumente welcher Art er zu erwarten und auf welchen Ton er seine Gedanken abzustimmen hat. Dann wird die logische Offensive eröffnet. Die linke Hand geht entweder von neuem hinter den Westenausschnitt oder, häufiger, in die Hosentasche. Die Rechte folgt der Logik der Gedanken und unterstreicht deren Rhythmus. Wo es nötig wird, kommt die Linke zu Hilfe. Der Redner strebt gegen die Zuhörerschaft vor, arbeitet mit kreisförmigen Handbewegungen sein eigenes Wortmaterial heraus. Das bedeutet, dass er nunmehr bei der zentralen Idee, beim Hauptpunkt der ganzen Rede angelangt ist.

Lenin und die Opponenten.

Befinden sich Gegner unter der Zuhörerschaft, dann werden dem Redner von Zeit zu Zeit kritische oder gehässige Zwischenrufe entgegen geschleudert In neun von zehn Fällen bleiben sie unbeantwortet. Der Redner sagt, was er braucht, zu denen, die er braucht, und so, wie er es für richtig hält. Sich zufälligen Erwiderungen zuliebe ablenken lassen, das mag er nicht. Schnell parierende Schlagfertigkeit ist seiner Konzentriertheit nicht eigen. Nur seine Stimme wird nach den feindseligen Zwischenrufen härter, die Rede kompakter und nachdrücklicher, der Gedanke schärfer, die Geste ausgeprägter.

Den gegnerischen Zwischenruf greift er nur dann auf, wenn er in seinen Gedankengang hineinpasst und die benötigte Schlussfolgerung beschleunigen kann. In solchen Fällen wirkt seine Antwort ganz überraschend – durch ihre vernichtende Einfachheit. Er legt die Situation vollständig bloß, wo man von ihm eine Maskierung erwartete.

Das haben die Menschewiken in der ersten Periode der Oktoberrevolution erlebt, als der Vorwurf des Verstoßes gegen die Demokratie noch ein ganz frisches Aroma hatte. „Unsere Zeitungen sind verboten!" – „Natürlich, aber leider noch nicht alle! Bald werden alle verboten sein. (Stürmischer Beifall.) Die Diktatur des Proletariats wird diesen schändlichen Vertrieb von bürgerlichem Opium an der Wurzel vernichten." (Stürmischer Beifall.) Der Redner strafft sich empor, mit beiden Händen in den Taschen. Von Pose keine Spur, keine rhetorische Färbung der Stimme; aber die ganze Figur, die Haltung des Kopfes, die zusammengepressten Lippen, die Backenknochen, der ein klein wenig heisere Tonfall, alles atmet die unverwüstliche Überzeugung von seinem Recht und seiner Wahrheit. „Wenn ihr kämpfen wollt, so könnt ihr es haben."

Wenn der Redner nicht gegen den Feind, sondern gegen die Seinen ausholt, dann fühlt man es in den Gebärden wie im Ton. Der heftigste Angriff behält in solchen Fällen stets den Charakter der „Beschwichtigung". Bisweilen schnappt die Stimme des Redners auf einen hohen Ton über: das passiert, wenn er einen von den Seinigen ungestüm bezichtigt, ihm ins Gewissen redet, beweist, dass der Opponent nichts, aber auch gar nichts von der Sache verstünde und dass er zur Begründung seiner Einwände nichts, aber auch nicht das Mindeste, angeführt habe. Bei diesem, „aber auch gar nichts" und „nicht das Mindeste" erhebt sich die Stimme bisweilen bis zum Fistelton und bricht ab, wodurch der zornigste Ausfall unerwartet einen Anstrich von Gutmütigkeit erhält.

Lenins Redeform.

Der Redner hat seinen Gedanken bis zum Ende durchdacht, bis zur letzten praktischen Schlussfolgerung, – den Gedanken, aber nicht den Vortrag, nicht die Formulierung, ausgenommen vielleicht die gedrängtesten, treffendsten, saftigsten Ausdrücke und Schlagworte, die später im politischen Leben der Partei und des Landes gangbare Münze wurden. Der Aufbau der Sätze ist meistens überladen, die Sätze werden, einander überwuchernd, übereinander aufgeschichtet oder ineinander eingekeilt. Für die Stenographen ist dieser Aufbau eine schwere Prüfung und ebenso für die Redakteure. Durch die schwerfälligen Sätze hindurch legt der konzentrierte und machtvolle Gedanke eine starke, sichere Bahn frei.

Stimmt es indessen, dass hier ein Marxist von tiefster Bildung, ein Theoretiker und Nationalökonom, ein Mann von höchster Gelehrsamkeit spricht? Es hat ja, wenigstens bisweilen, den Anschein, als ob man dem Auftreten eines ungewöhnlichen Autodidakten beiwohnte, der zu all dem, was er vorträgt, mit seinem eigenen Verstand gelangt ist, der es in seinem eigenen Gehirn ohne wissenschaftlichen Apparat, ohne wissenschaftliche Terminologie, auf eigene Art durchgearbeitet hat und es nunmehr ebenso in der ihm eigenen Art und Weise vorträgt.

Woher kommt dieser Eindruck? Er kommt daher, dass der Redner die Frage nicht nur für sich selber durchdacht hat, sondern auch für die Masse, dass er durch deren Erfahrung seine Gedanken gleichsam hat hindurchgehen lassen und dass er seinen Vortrag von dem theoretischen Gerüst, das er selber beim ersten Anpacken dieser Frage benutzte, gründlich befreit hat.

Bisweilen erklimmt der Redner übrigens seine Gedankenleiter zu stürmisch, zwei bis drei Sprossen mit einem Mal überspringend. Das geschieht, wenn die Schlussfolgerung ihm allzu klar und praktisch, zu dringend erscheint und die Zuhörer möglichst schnell zu diesem Ziel gebracht werden sollen. Plötzlich spürt er aber, dass die Zuhörerschaft ihm nicht mehr folgen kann, dass der Kontakt sich gelöst hat. Er nimmt sich dann in die Hand, steigt eine Sprosse hinab und beginnt den Aufstieg von Neuem, aber in ruhigerem und gemessenerem Schritt. Selbst die Stimme verändert sich, verliert die übermäßige Spannung und erhält eine umhüllende Überzeugungskraft. Der Aufbau der Rede leidet natürlich unter dieser Rückwärtsbewegung. Aber ist denn die Rede für den Aufbau da? Ist denn irgend eine andere Logik in der Rede von Wert, außer jener Logik, die zum Handeln zwingt?

Und wenn der Redner dann wiederum zu seiner Schlussfolgerung gelangt und die Zuhörer dieses Mal wohlbehalten zum Ziel führt, ohne jemanden unterwegs verloren zu haben, dann fühlt man im Saal physisch jene dankbare Freude, in die sich die befriedigte Spannung des kollektiven Denkens löst. Jetzt bleibt nur noch übrig, auf den gefolgerten Schluss – zur größeren Festigkeit – zwei bis drei Mal draufzuschlagen; ihm – zur besseren Erinnerung – ein einfaches, farbiges und bildhaftes Gewand zu geben; und dann kann man sich und den anderen eine Atempause gestatten, kann ein bisschen Ulk treiben und lachen, damit inzwischen das kollektive Denken das neu Errungene besser in sich aufnehmen kann.

Lenins rednerischer Humor.

Der rednerische Humor ist bei Lenin ebenso schlicht wie alle seine übrigen Kunstgriffe, – wenn man hier von Kunstgriffen sprechen darf. Sich selber genügender Scharfsinn, geschweige denn Scharfzüngigkeit ist in Lenins Reden nicht zu finden, wohl aber hier und da ein Witz: kräftig, der Masse zugänglich, der echte Volkswitz. Wenn die politische Situation nichts besonders Bedrohliches enthält, wenn die Zuhörerschaft in ihrer Mehrzahl eine „eigene" ist, dann ist der Redner nicht abgeneigt, im Vorbeigehen ein bisschen zu „spaßen". Die Zuhörerschaft nimmt das listig-simple Scherzwort, die gutmütig-rücksichtslose Charakteristik dankbar auf in dem Gefühl, dass auch dies nicht so mir nichts dir nichts gesagt worden ist, nicht der bloßen Schönrednerei, sondern dem immer gleichen Ziele zuliebe.

Wenn der Redner zum Scherze greift, dann tritt die untere Hälfte des Gesichts mehr hervor, insbesondere der Mund, der ansteckend zu lachen versteht. Stirn und Schädel werden gleichsam gedämpft, das Auge hört auf zu bohren, blinzelt heiter, das Schnarren tritt stärker hervor, die Straffheit seines kraftvollen Gedankens wird durch Lebensfreudigkeit und Menschlichkeit verschönert

In Lenins Reden wie in seiner ganzen Arbeit bildet die Zielstrebigkeit den Hauptzug. Der Redner baut nicht irgendwie eine Rede auf, sondern führt sie zu einer bestimmten aktiven Schlussfolgerung. Er packt seine Zuhörer verschieden an; er erklärt, überzeugt, rügt, scherzt, überzeugt nochmals und erklärt von Neuem. Das, was seiner Rede Einheitlichkeit verleiht, ist kein formaler Plan, sondern das klare, sich streng an den heutigen Tag haltende praktische Ziel, das wie ein Splitter in das Bewusstsein der Zuhörerschaft eindringen soll.

Diesem Ziel ist auch sein Humor untergeordnet. Sein Witz ist utilitaristisch. Das farbige Wörtchen hat seine praktische Bestimmung; die einen sollen angepeitscht, die anderen an der Leine gehalten werden. Zum Beispiel „Pesedyschka" [Atempause], „Chwostism" [ein vom Bolschewismus geprägtes Schlagwort, mit dem die sich „im Nachtrab" bewegenden Parteigenossen gebrandmarkt wurden], „Smytschka" [Kontakt mit dem Bauerntum] und Dutzende anderer nicht im gleichen Maße verewigter Schlagworte.

Bevor der Redner zu solchem Schlagwort gelangt, kreist er einige Male umher, als ob er den nötigen Punkt suche. Hat er ihn gefunden, dann legt er den Nagel an und, nachdem er mit dem Auge das Ziel richtig bemessen hat, schlägt er weit ausholend mit dem Hammer auf den Nagelkopf, einmal, ein zweites, ein zehntes Mal, – bis der Nagel richtig sitzt, so dass man ihn, wenn man ihn nicht mehr braucht, sehr schwer entfernen kann. Dann wird Lenin selber mit einem Sprüchlein rechts und links auf diesen Nagel einschlagen, um ihn locker zu machen, und wird ihn, nachdem er ihn entfernt hat, in den Archiv-Schrott werfen – zum großen Leidwesen derer, die sich an den Nagel gewöhnt hatten.

Der Abschluss.

Nun geht die Rede ihrem Ende zu. Das Fazit ist gezogen, die Schlussfolgerungen sind fest verankert. Der Redner bietet den Anblick eines Arbeiters, der sich abgerackert, aber seine Sache zu Ende gebracht hat. Von Zeit zu Zeit wischt er mit der Hand die Schweißtropfen vom kahlen Schädel. Die Stimme wirkt ohne Anspannung wie ein verlöschender Scheiterhaufen. Man kann Schluss machen. Man erwarte aber nicht jenes die Rede krönende schwungvolle Finale, ohne das – sollte man meinen – das Podium nicht verlassen werden darf. Andere dürfen's nicht. Lenin darf es. Bei ihm gibt es keinen oratorischen Ausklang; er hat seine Arbeit beendet und setzt einen Punkt dahinter. „Wenn wir das begreifen, das tun werden, dann ist unser Sieg gewiss" –, so lautet häufig der Schlusssatz. Oder: „Das ist es, wonach wir streben müssen, nicht mit Worten, sondern mit Taten." Und bisweilen noch schlichter: „Das ist alles, was ich Ihnen sagen wollte." Und dieser Abschluss, der der Natur der Leninschen Rhetorik und der Natur von Lenin selber voll und ganz entspricht, wirkt auf die Zuhörerschaft keineswegs abkühlend. Im Gegenteil, gerade nach einem solchen „effektlosen", „blassen" Abschluss erfasst die Zuhörerschaft gleichsam von neuem, in einem einzigen Aufflackern des Bewusstseins, alles, was Lenin ihr in seiner Rede geboten hat, und bricht in stürmischen, dankbaren, begeisterten Beifall aus.

Aber schon hat Lenin hastig seine Papiere ergriffen und das Podium raschen Schrittes verlassen, um dem Unvermeidlichen zu entgehen. Der Kopf ist leicht in die Schultern gezogen, das Kinn nach unten, die Augen hinter den Brauen gesenkt; der Schnurrbart sträubt sich fast ärgerlich auf der unzufrieden aufgeworfenen Oberlippe. Das Beifallstosen schwillt an, eine Woge übertönt die andere. „Es lebe … Lenin! … Der Führer Iljitsch! …" Und nun schimmert im Schein der elektrischen Lampen der einzigartige Menschenschädel, von allen Seiten überschwemmt von den ungestüm anschwellenden Wogen. Und als es schien, dass der Orkan der Begeisterung seine größte Heftigkeit erreicht hatte, hört man plötzlich durch das Gebrüll und das Tosen und das Geplätscher irgend eine junge, gespannte, glückliche und leidenschaftliche Stimme, die wie eine Sirene den Sturm durchschneidet: „Es lebe Iljitsch!" Und von irgendwoher, aus den innersten und bewegtesten Tiefen der Solidarität, der Liebe, des Enthusiasmus steigt als Antwort der machtvolle Zyklon, der allgemeine, unteilbare, die Kuppeln erschütternde Schlachtruf auf: „Es lebe Lenin!"

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