Lenin und die alte „Iskra"

Lenin und die alte „Iskra".

Die Spaltung von 1903 war sozusagen eine Vorwegnahme ." (Lenin, in einem Gespräch, 1910.)

Zweifellos wird für den zukünftigen Biographen, der sich eine Lebensbeschreibung Lenins in großem Stil zur Aufgabe stellt, die Periode der alten „Iskra" („Der Funke") (1900-1903) von außerordentlichem Interesse sein; gleichzeitig aber auch große Schwierigkeiten bieten: weil Lenin gerade während jener wenigen Jahre Lenin wurde. Das heißt nicht, dass er danach nicht mehr gewachsen sei. Im Gegenteil, er ist gewachsen – und in welchem Ausmaße! – sowohl vor als nach dem Oktober. Dabei handelt es sich aber schon um ein mehr organisches Wachsen. Der Sprung aus der Illegalität zur Machtergreifung am 25. Oktober 1917 war groß. Das war aber ein äußerlicher, sozusagen der materielle Sprung eines Menschen, der alles, was man wägen und messen kann, gewogen und gemessen hatte. In jenem Wachstum dagegen, das der Spaltung auf dem zweiten Parteitag voranging, lag eine von außen unerkennbare, aber um so entschiedenere innere Wandlung.

Diese Erinnerungen haben den Zweck, dem zukünftigen Biographen einiges Material zu liefern, das sich auf jene äußerst bedeutsame und wesentliche Periode in der geistigen Entwicklung von Wladimir Iljitsch bezieht.

Jetzt, wo diese Zeilen geschrieben werden, sind bereits mehr als zwei Jahrzehnte verstrichen, und zwar Jahrzehnte, die für das menschliche Gedächtnis eine starke Belastung darstellen. Dieser Umstand könnte den begreiflichen Argwohn hervorrufen: in welchem Maße gibt das hier Erzählte die Ereignisse richtig wieder? Ich muss sagen, dass mir selber diese Befürchtung nicht fremd war und mich auch während der ganzen Arbeit verfolgte: Erinnerungen und Bekundungen, die man leichtfertig aus dem Ärmel schüttelt, gibt es ohnehin reichlich genug. Als ich diese Schilderungen niederschrieb, hatte ich keinerlei Dokumente oder sonstiges Material zur Hand, auf das ich hätte zurückgreifen können. Ich glaube indessen, dass es so besser ist. Ich war auf diese Weise gezwungen, mich ganz auf mein Gedächtnis zu stützen, und ich hoffe, dass das freie Schöpfen aus dem Gedächtnis eine bessere Gewähr liefert gegen das unwillkürliche Retuschieren, dem man bei einem Rückblick sonst, selbst bei strengster Selbstkontrolle, schwer entgehen kann. Obendrein wird auf diese Weise dem zukünftigen Forscher die Nachprüfung der Ereignisse auf Grund des urkundlichen und sonstigen Materials, das sich auf jene Zeit bezieht, erleichtert.

Stellenweise werde ich die damaligen Gespräche und Auseinandersetzungen in der Form des Dialogs wiedergeben. Es ist selbstverständlich, dass man die wortgetreue Wiedergabe eines Dialogs nach zwei und mehr Jahrzehnten kaum erwarten kann. Das Wesentliche ist hier aber, wie ich glaube, durchaus genau wiedergegeben, manche Ausdrücke – und zwar die markantesten – wörtlich.

Da es sich hier um Material für eine Biographie Lenins, also um eine sehr wichtige Sache handelt, möchte ich einiges sagen über gewisse Eigenschaften meines Gedächtnisses: Ich hatte ein sehr schlechtes Gedächtnis für Städte und Wohnungen. In London zum Beispiel habe ich mehrmals Lenins Wohnung mit meiner eigenen, die nicht weit entfernt war, verwechselt. Längere Zeit hindurch war mein Personengedächtnis sehr schlecht; in dieser Hinsicht habe ich aber wesentliche Fortschritte gemacht. Dagegen hatte ich und habe ich noch jetzt ein sehr gutes Gedächtnis für Gedankengänge, Gedankenverbindungen und Gespräche über gedankliche Themen. Ich hatte mehrfach Gelegenheit, festzustellen, dass diese Bewertung nicht subjektiv ist: Leute, die mit mir an derselben Unterhaltung teilgenommen hatten, übermittelten nicht selten den Inhalt weniger genau als ich und nahmen nachträglich meine Richtigstellungen an. Hinzu kommt, dass ich nach London als junger Provinzler kam und darauf erpicht war, möglichst schnell alles zu erfahren und zu begreifen. Es ist daher verständlich, dass die Gespräche mit Lenin und anderen Redaktionsmitgliedern der „Iskra" sich meinem Gedächtnis scharf einprägten. All diese Erwägungen kann der Biograph bei der Bewertung der Zuverlässigkeit der folgenden Erinnerungen kaum unberücksichtigt lassen.

Die erste Begegnung mit Lenin.

In London kam ich im Herbst 1902, wahrscheinlich im Oktober, an einem frühen Morgen an. Der Droschkenkutscher, mit dem ich mich durch Gebärden verständigte, orientierte sich an der Adresse, die auf meinem Zettel stand. Es war die Wohnung von Wladimir Iljitsch. Man hatte mir schon vorher Anweisung gegeben (wahrscheinlich in Zürich), wie viel Mal ich mit dem Ring an der Tür zu klopfen hatte. Die Tür wurde mir, soweit ich mich entsinnen kann, von Nadeschda Konstantinowna geöffnet, die ich, wie mir schien, durch das Klopfen aus dem Bett geholt hatte. Es war noch sehr früh am Tag, und jeder erfahrenere und sozusagen an die Regeln des zivilisierten Umgangs mehr gewöhnte Mensch wäre ruhig eine Stunde oder zwei auf dem Bahnhof geblieben, anstatt zu so früher Tageszeit in ein fremdes Haus einzudringen. Aber ich war damals noch voll der Spannung, die seit meiner Flucht aus Wercholensk in mir steckte. In ähnlicher Weise drang ich in Zürich in die Wohnung von Axelrod ein, allerdings nicht bei Tagesanbruch, sondern tief in der Nacht.

Wladimir Iljitsch war noch im Bett; sein Gesicht zeigte eine Freundlichkeit, in die sich begreifliches Befremden mischte. So fand unsere erste Begegnung und unsere erste Unterhaltung statt. Sowohl Wladimir Iljitsch als auch Nadeschda Konstantinowna kannten mich bereits – Clair (M. G. Krschischanowski), von dem ich in Samara unter dem Spitznamen die „Feder" sozusagen offiziell in die Organisation der „Iskra" eingeführt worden war, hatte ihnen von mir geschrieben. So wurde ich auch empfangen: die „Feder" sei da …

Ich wurde mit Tee bewirtet, ich glaube in der Küche, die auch als Esszimmer diente. Lenin zog sich inzwischen an. Ich erzählte von meiner Flucht und beschwerte mich über das schlechte Funktionieren des Grenzdienstes der „Iskra". Wie es sich herausgestellt hatte, lag er in den Händen eines sozialrevolutionären Gymnasiasten, der bei der damals entbrannten, heftigen Parteipolemik keine besondere Sympathie für unsere Richtung übrig hatte. Im Übrigen hatten mich die Schmuggler brutal ausgeplündert, über alle geltenden Tarife und Normen hinaus.

Während der Unterhaltung übergab ich Nadeschda Konstantinowna mein bescheidenes „Gepäck" an Adressen und Treffpunkten. Richtiger gesagt, ich setzte sie über die Notwendigkeit ins Klare, gewisse unbrauchbare Adressen zu liquidieren. Im Auftrag der Samaraer Gruppe (Clair und Genossen) hatte ich Charkow, Poltawa und Kiew besucht, und fast überall, jedenfalls in Charkow und Poltawa, musste ich feststellen, dass die Verbindungen, über die die Organisation damals verfügte, äußerst unzulänglich waren.

Lenin als Examinator.

Ich kann mich nicht mehr entsinnen, ob es der gleiche Morgen oder erst der folgende Tag war, an dem ich mit Wladimir Iljitsch einen größeren Spaziergang durch London machte. Er zeigte mir Westminster (von außen) und andere sehenswerte Gebäude. Ich weiß nicht mehr, wie er es sagte, aber im Ton lag: Das ist ihr berühmtes Westminster. Dieses „ihr" bezog sich natürlich nicht auf die Engländer, sondern auf die Klassenfeinde. Diese keineswegs gewollte, sondern ihm zutiefst eigene Art, die sich mehr in der veränderten Klangfarbe seiner Stimme als in der Betonung äußerte, klang immer bei Lenin hindurch, wenn er auf Kulturwerte oder neue Errungenschaften zu sprechen kam; sei es der vielseitige Nachrichtendienst der „Times" oder – viele Jahre später – die deutsche Artillerie oder die französische Luftflotte: sie haben, sie taten dies, sie haben's geschafft, – das sind aber Feinde! Es war, als ob er den unsichtbaren Schatten der Ausbeuterklasse über der gesamten menschlichen Kultur spürte; und diesen Schatten empfand er mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie das Licht des Tages.

Soweit ich mich entsinnen kann, schenkte ich der Londoner Architektur bei jener Gelegenheit wenig Beachtung. Unvermittelt aus Wercholensk ins Ausland gekommen, das ich überhaupt zum ersten Mal zu Gesicht bekam, konnte ich Wien, Paris und London zunächst nur in großen Umrissen wahrnehmen; auf „Einzelheiten", wie Westminster, konnte ich mich damals nicht konzentrieren.

Übrigens hatte Wladimir Iljitsch mich natürlich nicht dazu zum Spaziergang eingeladen. Der Zweck war, mich kennen zu lernen und zu prüfen. Ich musste mir tatsächlich eine Prüfung auf Herz und Nieren gefallen lassen. Auf seine Fragen berichtete ich über die damalige Zusammensetzung der Verbanntenkreise im Lena-Gebiet und ihre internen Gruppierungen. Die bemerkenswerteste Trennungslinie wurde damals durch die Stellung zum aktiven politischen Kampf, zum Prinzip der zentralistischen Organisation und zum Terror geschaffen.

Schön, und theoretische Meinungsverschiedenheiten über die Bernstein-Richtung hat es gar nicht gegeben?" erkundigte sich Wladimir Iljitsch.

Ich erzählte darauf, wie wir das Buch von Bernstein und Kautskys Antwort im Gefängnis in Moskau und später in der Verbannung gelesen hatten. Keiner von den Marxisten unter uns trat für Bernstein ein. Es galt als selbstverständlich, dass Kautsky recht hatte.

Eine Verbindung zwischen dem theoretischen Kampf, der damals im internationalen Maßstabe entbrannte, und unseren eigenen organisatorischen Auseinandersetzungen hatten wir allerdings, so erzählte ich, nicht gesehen. Über einen solchen Zusammenhang hatten wir überhaupt nicht nachgedacht, jedenfalls nicht eher, als die ersten Nummern der „Iskra" und Lenins Buch „Was tun?" an der Lena auftauchten.

Ich erzählte ferner, dass wir die ersten philosophischen Schriften von Bogdanow mit großem Interesse gelesen hatten. Ich entsinne mich noch sehr genau einer Bemerkung Wladimir Iljitschs, deren Sinn etwa war: die Broschüre über die historische Naturbetrachtung sei ihm auch sehr wertvoll erschienen, aber Plechanow habe sie nicht gut geheißen, er habe behauptet, das habe mit Materialismus nichts zu tun. Wladimir Iljitsch hatte damals noch keine eigene Ansicht über diese Frage und begnügte sich damit, die Meinung Plechanows wiederzugeben, mit Hochachtung vor Plechanows philosophischer Autorität, aber auch mit einem Kopfschütteln. Ich war damals über Plechanows Stellungnahme ebenfalls sehr erstaunt.

Wladimir Iljitsch richtete auch einige volkswirtschaftliche Fragen an mich. Ich erzählte, dass wir im Moskauer Transport-Gefängnis sein Buch „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland" kollektiv studiert und uns in der Verbannung mit dem „Kapital" befasst hatten, aber bei dem zweiten Band stehen geblieben waren. Ich erwähnte dabei die riesige Menge statistischer Angaben, die in dem Buch „Die Entwicklung des Kapitalismus" verarbeitet sind.

In dem Moskauer Transport-Gefängnis haben wir mehr als einmal mit Bewunderung von dieser gigantischen Arbeit gesprochen."

So etwas wird nicht mit einem Mal zustande gebracht."

Es war ihm aber offensichtlich angenehm, dass die jungen Genossen seine wichtigste volkswirtschaftliche Arbeit aufmerksam studierten.

Dann kam die Rede auf die Machajew-Bewegung1. Wir sprachen über den Eindruck, den diese Bewegung auf die Verbannten gemacht hatte, und darüber, ob sich viele ihr angeschlossen hätten. Ich erzählte, dass das erste hektographierte Heft von Machaiski, das uns oben an der Lena erreichte, auf die meisten von uns eine starke Wirkung ausübte wegen der scharfen Kritik an dem Opportunismus der Sozialdemokratie. Darin stimmte es überein mit unseren Gedankengängen, die durch die Polemik zwischen Kautsky und Bernstein2 angeregt worden waren.

Das zweite Heft, in dem Machaiski den Marxschen Formeln über die Reproduktion „die Maske herunterreißt" (weil er in ihnen die theoretische Rechtfertigung der Ausbeutung des Proletariats durch die Intelligenz erblickt), hatte bei uns, von unserem theoretischen Standpunkt aus, Entrüstung hervorgerufen. In dem dritten Heft, das wir später erhielten, entwickelte er ein positives Programm, in dem die Überbleibsel des Ökonomismus mit den Anfangselementen des Syndikalismus verbunden waren. Dieses Heft machte auf uns den Eindruck der vollständigen Sinnlosigkeit.

Beginn der Londoner Tätigkeit.

In jener Unterhaltung wurde die Frage meiner weiteren Arbeit nur ganz allgemein gestreift. Ich wollte mich erst einmal mit der erschienenen Literatur vertraut machen und gedachte, dann illegal nach Russland zurückzukehren. Es wurde entschieden, dass ich mich zunächst „umsehen" sollte.

Nun musste ich aber eine Bleibe haben. Nadeschda Konstantinowna führte mich in das einige Straßenviertel weiter gelegene Haus, wo Sassulitsch, Martow und Blumenfeld, der Leiter der Druckerei der „Iskra", wohnten. Dort fand sich auch für mich ein freies Zimmer. Dem üblichen englischen Häusertyp entsprechend, war die Wohnung nicht waagerecht, sondern senkrecht aufgeteilt: im untersten Stockwerk wohnte die Wirtin, in den oberen Stockwerken übereinander die Mieter. Es gab noch ein freies gemeinsames Wohnzimmer, das von Plechanow nach seinem ersten Besuch „Spelunke" getauft wurde. In dem Raum herrschte, nicht ohne Verschulden von Wera Iwanowna Sassulitsch, aber auch nicht ohne Zutun Martows, eine große Unordnung. Dort wurde Kaffee getrunken, debattiert, geraucht usw, Daher die Bezeichnung: Spelunke.

So begann die kurze Londoner Periode meines Lebens. Ich machte mich an die Lektüre der erschienenen Nummern der „Iskra" und der Hefte der „Sarja" („Morgenröte"), die ich gierig verschlang. Zu jener Zeit begann auch meine Mitarbeit an der „Iskra".

Zum zweihundertjährigen Jubiläum der Schlüsselburger Festung verfasste ich einen kleinen Artikel. Ich glaube, es war meine erste Arbeit für die „Iskra". Am Schluss der Notiz brachte ich ein Zitat von Homer. Richtiger gesagt, ich zitierte die Worte des homerischen Übersetzers Gneditsch über die „unüberwindlichen Hände" der Revolution, die dem Zarismus den Garaus machen würden. (Auf dem Wege aus Sibirien hatte ich mich im Zug mit der Lektüre der „Ilias" befasst.) Der Artikel gefiel Lenin. Wegen der „unüberwindlichen Hände" hatte er indessen berechtigte Bedenken und brachte mir dies auch mit einem gutmütigen Lächeln zum Ausdruck. „Das ist aber ein homerischer Vers", versuchte ich mich zu rechtfertigen, gab aber gern zu, dass das klassische Zitat nicht unbedingt erforderlich sei. Der Artikel ist in der „Iskra" zu finden, jedoch ohne die „unüberwindlichen Hände".

Zu jener Zeit trat ich auch mit meinen ersten Vorträgen in Whitechapel auf, wo ich mit dem „Alten" Tschaikowski (er war damals schon ein alter Mann) und mit dem Anarchisten Tschebkesow, der gleichfalls nicht mehr jung war, heiße Debatten führte. Bei diesen Wortgefechten war ich aufrichtig erstaunt darüber, dass die berühmten graubärtigen Emigranten derartige Ungereimtheiten vorbringen konnten. Als Verbindungsmann mit Whitechapel3 fungierte der in London „alt eingesessene" Alexejew, ein marxistischer Emigrant, der der Schriftleitung der „Iskra" nahestand. Er führte mich in das englische Leben ein und war überhaupt für mich eine Fundgrube jeglichen Wissens. Ich kann mich noch entsinnen, dass ich, nach einer längeren Unterhaltung mit Alexejew, während der Fahrt nach Whitechapel und zurück, Wladimir Iljitsch zwei Ansichten Alexejews mitteilte, und zwar über die Aussichten eines Regimewechsels in Russland und über das gerade erschienene Buch von Kautsky.

Bei uns wird die Änderung des Regimes nicht allmählich, sondern wegen der Rigidität der Alleinherrschaft äußerst schroff vor sich gehen." Das Wort „Rigidität" (Starrheit, Festigkeit, Unbeugsamkeit) habe ich gut behalten. „Was meinen Sie, er hat vielleicht recht?" sagte Lenin. Das zweite Urteil Alexejews betraf das Buch von Kautsky: „Am Tage nach der sozialen Revolution." Ich wusste, dass Lenin sich für dieses Buch sehr interessierte und dass er es, wie er mir selber sagte, zweimal gelesen hatte und sogar dabei war, es ein drittes Mal zu lesen. Ich glaube, er hat auch die russische Übersetzung redigiert. Ich hatte das Büchlein auf Anraten Wladimir Iljitschs soeben eifrig durch studiert. Alexejew aber bezeichnete das Buch von Kautsky als opportunistisch. „Der Trottel …", quittierte Lenin unerwarteterweise und spitzte ärgerlich die Lippen, wie er es immer tat, wenn er unzufrieden war. Alexejew selber hegte für Lenin die größte Hochachtung. „Ich bin der Ansicht, dass er für die Revolution wichtiger ist als Plechanow", meinte er. Lenin habe ich davon natürlich nichts gesagt, wohl aber Martow. Martow erwiderte darauf nichts.

Die Redaktion der „Iskra".

Die Schriftleitung der „Iskra" und der „Sarja" bestand bekanntlich aus sechs Personen: den drei „Alten": Plechanow, Sassulitsch, Axelrod und den drei Jüngeren: Lenin, Martow und Potressow. Plechanow und Axelrod lebten in der Schweiz, Sassulitsch mit den Jüngeren in London. Potressow befand sich zu dieser Zeit irgendwo auf dem Kontinent. Diese Trennung war technisch unbequem, wurde aber von Lenin keineswegs als lästig empfunden, eher im Gegenteil.

Als Lenin mich vor meiner Abreise nach dem Kontinent behutsam in die internen Angelegenheiten der Redaktion einweihte, sprach er davon, dass Plechanow die Überführung der gesamten Redaktion nach der Schweiz wünsche, dass aber er, Lenin, dagegen sei, weil dies die Arbeit erschweren würde. Hier ging mir zum ersten Mal, zuerst noch ganz leise, die Ahnung auf, dass sich die Redaktion in London nicht nur aus Rücksichten polizeilicher Natur befand, sondern auch aus Gründen organisatorischer und persönlicher Art.

In seiner laufenden, organisatorisch-politischen Arbeit wollte Lenin möglichst unabhängig von den Alten sein, in erster Linie von Plechanow, mit dem er bereits scharfe Konflikte gehabt hatte, namentlich bei dem Entwurf des Parteiprogramms. Als Vermittler pflegten in solchen Fällen Sassulitsch und Martow aufzutreten: Sassulitsch als Sekundantin Plechanows, Martow in der gleichen Eigenschaft auf Lenins Seite. Beide Vermittler waren sehr versöhnlich gestimmt und standen außerdem in sehr freundschaftlichen Beziehungen zueinander.

Von den scharfen Zusammenstößen zwischen Lenin und Plechanow beim Ausarbeiten des theoretischen Teils des Programms erfuhr ich erst nach und nach. Ich erinnere mich, dass Wladimir Iljitsch mich fragte, wie ich das soeben veröffentlichte Programm (ich glaube, in Nummer 25 der „Iskra") gefunden hätte. Ich hatte das Programm indessen zu sehr in allgemeinen Zügen aufgenommen, um auf die internen Fragen antworten zu können, die Lenin interessierten. Die Meinungsverschiedenheiten drehten sich darum, dass Lenin die Charakteristik der Grundtendenzen des Kapitalismus, der Konzentrierung der Produktion, des Zerfalls der Mittelschichten, der Klassendifferenzierung usw, härter und kategorischer unterstrichen haben wollte, während Plechanow diese Fragen bedingter und vorsichtiger behandelte. Im Programm findet man bekanntlich sehr häufig den Ausdruck „mehr oder weniger". Diese Worte stammen von Plechanow. Ich kann mich entsinnen, wie mir Martow und Sassulitsch erzählten, dass das ursprüngliche Konzept Lenins, das er dem Entwurf Plechanows entgegensetzte, der scharfen Kritik Plechanows begegnete, in jenem hochmütig-spöttischen Ton, der Georgij Walentinowitsch in derartigen Fällen eigen war. Lenin ließ sich aber natürlich dadurch weder aus dem Konzept bringen noch ins Bockshorn jagen.

Der Kampf nahm einen sehr dramatischen Charakter an. Wie Wera Iwanowna selber erzählte, sagte sie zu Lenin: „George (Plechanow) ist ein Barsoi (ein russischer Windhund), er zupft und zupft und lässt dann los. Sie aber sind eine Bulldogge: Sie haben einen tödlichen Griff." Ich erinnere mich sehr gut dieses Satzes sowie der abschließenden Bemerkung der Sassulitsch: „Ihm (Lenin) gefiel dieser Vergleich sehr; ,einen tödlichen Griff?' wiederholte er mit Behagen." Und Wera Iwanowna parodierte gutmütig den Tonfall seiner Frage.

Begegnung mit Plechanow.

Während meines Londoner Aufenthalts kam Plechanow für kurze Zeit nach London. Ich begegnete ihm damals zum ersten Mal. Er kam in unsere gemeinschaftliche Wohnung und hielt sich in der „Spelunke" auf; ich war aber nicht zu Hause.

George ist eingetroffen," sagte mir Wera Iwanowna, „er möchte Sie sehen, gehen Sie zu ihm."

Welcher George?" fragte ich verständnislos, in der Annahme, dass es noch einen großen Namen gäbe, den ich noch nicht kannte.

Na, Plechanow …. Wir nennen ihn George."

Abends besuchte ich ihn. In dem kleinen Zimmer saßen außer Plechanow der ziemlich bekannte deutsche Schriftsteller und Sozialdemokrat Bär4 und der Engländer Askew. Plechanow wusste nicht, wo er mich unterbringen sollte, da sämtliche Stühle besetzt waren, und so forderte er mich schließlich auf – nicht ohne Zögern –, mich aufs Bett zu setzen. Mir schien das ganz in der Ordnung – ich ahnte nicht, dass Plechanow, als Europäer vom Scheitel bis zur Sohle, sich nur angesichts der ungewöhnlichen Umstände zu diesem außerordentlichen Schritt hatte entschließen können.

Die Unterhaltung wurde in deutscher Sprache geführt, die Plechanow nur mangelhaft beherrschte. Er beschränkte sich deshalb auf einsilbige Bemerkungen. Bär sprach davon, wie geschickt die englische Bourgeoisie es verstehe, um die fortschrittlichen Arbeiter zu werben; dann wandte sich die Unterhaltung den englischen Vorläufern des französischen Materialismus zu. Bär und Askew verabschiedeten sich bald. Georgij Walentinowitsch erwartete mit gutem Recht, dass ich ihnen folgen würde, da wir bei der vorgerückten Stunde durch eine Unterhaltung die Wirtsleute gestört hätten. Ich glaubte dagegen, dass es nun erst richtig losgehen würde.

Sehr interessante Sachen hat Bär gesagt", meinte ich.

Ja, sein Urteil über die englische Politik war interessant, was er aber über die Philosophie sagte, war belanglos", erwiderte Plechanow.

Als er sah, dass ich mich nicht zum Gehen anschickte, lud er mich ein, mit ihm in der Nachbarschaft ein Glas Bier zu trinken. Er richtete einige flüchtige Fragen an mich und war sehr liebenswürdig, aber seine Liebenswürdigkeit trug einen Schimmer von verborgener Ungeduld. Ich fühlte, dass er mir nur zerstreut folgte. Es ist möglich, dass er einfach vom Tage müde war. Ich ging aber mit dem Gefühl des Unbefriedigtseins und voll Verdruss nach Hause.

Wera Sassulitsch.

In der Londoner, ebenso wie später in der Genfer Periode, kam ich viel häufiger mit Sassulitsch und Martow als mit Lenin zusammen. Da wir in London in einer Wohnung hausten und in Genf gewöhnlich in den gleichen Restaurants zu Mittag und zu Abend aßen, traf ich Martow und Sassulitsch einige Male täglich, während jede Begegnung mit Lenin außerhalb der offiziellen Sitzungen beinahe ein kleines Ereignis darstellte; Lenin führte nämlich einen eigenen Haushalt. Sassulitsch war ein eigenartiger Mensch und wirkte auf eigene Art anziehend. – „Wera Iwanowna schreibt nicht, sondern setzt ein Mosaik zusammen", sagte mir Lenin einmal zu jener Zeit. Sie pflegte in der Tat jeden Satz einzeln aufs Papier zu bringen. Sie wanderte dabei, mit den Pantoffeln schlurfend und stampfend, emsig im Zimmer umher; rauchte unaufhörlich ihre selbstgedrehten Zigaretten; warf die Stummel oder nicht zu Ende gerauchten Zigaretten in alle Ecken, auf alle Fensterbretter und Tische; überschüttete ihre Jacke, Hände, Manuskripte, den Tee im Glas und gelegentlich auch ihr Gegenüber mit Asche.

Sassulitsch war und blieb ihr Lebtag lang die alte radikale Intellektuelle, der, so hatte es das Schicksal gewollt, der Marxismus eingeimpft worden war. Ihre Artikel legen davon Zeugnis ab, dass sie die Theorie des Marxismus ausgezeichnet aufgenommen hatte. Dennoch wurde in ihrem Wesen die sittlich-politische Grundlage einer russischen Radikalen der siebziger Jahre nicht endgültig zersetzt. In intimen Unterhaltungen erlaubte sie sich bisweilen, gegen gewisse Methoden oder Schlussfolgerungen des Marxismus Front zu machen. Der Begriff des Revolutionärs hatte für sie, unabhängig vom Klasseninhalt, eine selbständige Bedeutung.

Ich erinnere mich an eine Unterhaltung mit Sassulitsch über ihr Thema „Revolutionäre aus dem Bourgeoisie-Milieu". Ich gebrauchte dabei den Ausdruck „bürgerlich-demokratische Revolutionäre". „Aber nein doch", erwiderte Wera Iwanowna in einem etwas ärgerlichen, oder vielleicht richtiger, betrübten Ton: „Nicht bürgerliche und nicht proletarische, sondern einfach Revolutionäre …. Man könnte allerdings sagen: kleinbürgerliche Revolutionäre'," fügte sie hinzu, „wenn man zum Kleinbürgertum all das zählen will, was man sonst nirgends unterzubringen weiß."

Deutschland bildete damals den ideologischen Mittelpunkt der Sozialdemokratie; und wir verfolgten gespannt den Kampf der Orthodoxen mit den Revisionisten innerhalb der deutschen Sozialdemokratie. Da passierte es, dass Wera Iwanowna unvermutet sagte: „Das ist alles richtig. Sie werden mit dem Revisionismus fertig werden, Marx rehabilitieren, es bis zur Majorität bringen, und trotzdem werden sie mit dem Kaiser leben."

Wer ist das ,sie? Wera Iwanowna?"

Natürlich die deutschen Sozialdemokraten."

In dieser Hinsicht übrigens ging Wera Iwanowna nicht so sehr fehl, wie es uns damals schien, obwohl alles anders verlief und aus anderen Gründen, als sie gedacht hatte.

Zum Landaufteilungs-Programm verhielt sich Sassulitsch skeptisch; – nicht gerade ablehnend, aber gutmütig spöttelnd. Ich entsinne mich folgender Episode: Kurz vor dem Parteitag traf Konstantin Konstantinowitsch Bauer in Genf ein, einer der alten Marxisten, aber ein sehr unausgeglichener Mensch, der eine Zeit lang mit Struwe befreundet war, in jener Periode aber zwischen der „Iskra" und der „Oswoboschdenije" („Befreiung") schwankte. In Genf neigte er zur „Iskra" hin, verhielt sich aber der Landaufteilung gegenüber ablehnend. Er besuchte Lenin, den er vielleicht von früher her kannte. Er kam indessen von ihm zurück, ohne überzeugt worden zu sein, wahrscheinlich deshalb, weil Wladimir Iljitsch es nicht der Mühe für wert hielt, ihn zu überzeugen, da er ihn als eine Hamlet-Natur kannte. Ich hatte mit Bauer, den ich von der Verbannung her kannte, eine sehr lange Unterhaltung über die unglückselige Landaufteilungsgeschichte. Im Schweiße meines Angesichts entwickelte ich ihm alle die Argumente, die ich während meines halbjährigen, nicht enden wollenden Streites mit den Sozialrevolutionären und überhaupt mit allen Gegnern des Agrarprogramms der „Iskra" geführt hatte. Und nun teilte Martow (ich glaube, er war es) am selben Abend in der Redaktionssitzung in meiner Anwesenheit mit, dass Bauer ihn aufgesucht und sich endgültig zur „Iskra" bekannt hätte: Trotzki, hieß es, hätte alle seine Zweifel zerstreut.

Wie, auch hinsichtlich der Landaufteilung hat er sich überzeugen lassen?" fragte Sassulitsch fast erschrocken.

Hinsichtlich der Landaufteilung ganz besonders."

Der A-a-arme!" meinte Wera Iwanowna in so unnachahmbarem Tonfall, dass wir alle mit einmütigem Gelächter antworteten.

Bei Wera Iwanowna basiert vieles auf dem Sittlichen, auf einer gefühlsmäßigen Grundlage", sagte Lenin einmal zu mir und erzählte dabei, wie Sassulitsch und Martow beinahe zum individuellen Terror hinüber geschwenkt wären, als Wal, der Gouverneur von Wilna, demonstrierende Arbeiter mit Ruten züchtigen ließ. Die Spuren dieser zeitweiligen „Abweichung", wie man heute sagen würde, sind in einer der Nummern der „Iskra" zu finden.

Wie ich glaube, hatte sich die Sache folgendermaßen zugetragen:

Martow und Sassulitsch ließen die betreffende Nummer ohne Lenin, der aufs Festland gereist war, erscheinen. Da kam die Mitteilung der Telegraphenagentur von der Wilnaer Züchtigung. In Wera Iwanowna erwachte die heroische Radikale, die seinerzeit wegen der Züchtigung politischer Gefangener auf Trepow geschossen hatte. Martow unterstützte sie … . Lenin war, als er die neueste Nummer der „Iskra" zu Gesicht bekam, empört: „Der erste Schritt zur Kapitulation vor dem Sozialrevolutionärentum." Gleichzeitig traf auch ein Protestschreiben von Plechanow ein.

Diese Episode lag vor meiner Ankunft in London, und es mag daher sein, dass die Tatsachen hier vielleicht nicht ganz genau wiedergegeben sind. Den Kern des Vorfalles habe ich aber gut behalten. „Es versteht sich," meinte Wera Iwanowna in einem Gespräch zu mir, „dass es sich hier gar nicht um den Terror als System handelt. Es will mir aber scheinen, als ob man mit Hilfe des. Terrors den Herren das Prügeln sehr gut abgewöhnen könnte."

Sassulitsch war nie ein Meister der Debatte gewesen, und das öffentliche Auftreten lag ihr schon ganz und gar nicht. Auf die Argumente des Unterhaltungspartners antwortete sie niemals direkt, sondern sie pflegte zunächst für eine Weile in sich zu gehen und dann, plötzlich auflodernd, eine Reihe von Sätzen hastig und sich verschluckend auszustoßen. Sie pflegte dabei nicht denjenigen anzureden, der mit ihr nicht einverstanden war, sondern einen der Anwesenden, von dem sie hoffte, dass er sie besser verstehen würde.

Wo es sich um eine formelle Diskussion mit einem Vorsitzenden handelte, pflegte Wera Iwanowna sich niemals zum Wort zu melden, weil sie entflammen musste, um etwas sagen zu können. Sobald dies aber geschah, redete sie darauflos, ohne jede Rücksichtnahme auf die sogenannte Rednerliste, die sie mit der größten Geringschätzung völlig ignorierte. Sie unterbrach in solchen Fällen immer, sowohl den Redner als auch den Vorsitzenden, und führte bis zum Ende aus, was sie zu sagen hatte.

Um sie zu verstehen, musste man sich genau in ihren Gedankengang hineinversetzen. Ihre Gedanken aber – einerlei, ob richtig oder fehlerhaft – waren stets interessant und eigenartig. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, welchen Gegensatz Wera Iwanowna mit ihrem verschwommenen Radikalismus und ihrer subjektiven und saloppen Art zu Lenin darstellen musste. Ihre Beziehungen zu einander waren nicht so sehr gekennzeichnet durch Mangel an Sympathie, als durch das Gefühl einer tiefen organischen Wesensverschiedenheit. Lenins Kraft aber fühlte Sassulitsch als feinfühlige Psychologin schon damals. In diesem Empfinden lag allerdings ein Schatten von Feindseligkeit, und sie brachte dies auch mit ihrem Wort vom „tödlichen Griff" zum Ausdruck.

Lenin und Martow.

Die komplizierten Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Redaktion konnte ich erst allmählich und nicht ohne Mühe begreifen. Ich kam nach London, wie schon gesagt, als echter Provinzler, und zwar in jeder Beziehung. Nicht nur im Auslande, sondern auch in Petersburg war ich bis dahin niemals gewesen. In Moskau und in Kiew lebte ich nur im Transportgefängnis. Die marxistischen Schriftsteller waren mir nur aus ihren Aufsätzen bekannt. In Sibirien hatte ich einige Nummern der „Iskra" und Lenins Schrift „Was tun?" durchgelesen. Von Iljin, dem Verfasser des Buches „Entwicklung des Kapitalismus" hörte ich im Moskauer Transportgefängnis (ich glaube, Wanowski war es, der mir von ihm erzählte) ganz nebelhaft, dass er ein aufgehendes Gestirn am sozialdemokratischen Firmament sei. Von Martow wusste ich wenig, von Potressow überhaupt nichts. In London stürzte ich mich mit Begierde auf das Studium der „Iskra", der „Sarja" und überhaupt der im Auslande erscheinenden Veröffentlichungen. In einer der Nummern der „Sarja" stieß ich dabei auf einen glänzenden, gegen Prokopowitsch gerichteten Artikel über die Rolle und die Bedeutung der Gewerkschaften. Der Aufsatz war von Molotow unterzeichnet.

Wer ist dieser Molotow?" fragte ich Martow.

Das ist Parvus."

Ich wusste aber nichts von Parvus. Ich nahm die „Iskra" als Ganzes auf. In jenen Monaten war mir der Gedanke fremd, ich möchte fast sagen, innerlich zuwider, dass man in der „Iskra", beziehungsweise in ihrer Redaktion, verschiedenartige Tendenzen, Schattierungen, Einflüsse u. s. w. suchen könnte.

Ich kann mich entsinnen, dass es mir aufgefallen war, dass manche Leitartikel und Feuilletons in der „Iskra", obwohl sie anonym erschienen, häufig das Fürwort „ich" enthielten. „In Nummer so und so habe ich gesagt", „darüber habe ich bereits dann und dann geschrieben" usw, Ich erkundigte mich, wessen Artikel es waren, und erfuhr, dass sie sämtlich Lenin zum Verfasser hatten. In einer gelegentlichen Unterhaltung mit ihm ließ ich dann die Bemerkung fallen, dass es meiner Ansicht nach nicht den literarischen Gepflogenheiten entspreche, in anonymen Leitartikeln das Fürwort „ich" zu gebrauchen.

Warum nicht?" fragte er interessiert, vermutlich in der Annahme, dass ich hier nicht eine zufällige und nicht nur meine persönliche Ansicht zum Ausdruck gebracht hatte.

Ja, es ist nun mal so", antwortete ich etwas unbestimmt, da ich mir gar keine bestimmten Gedanken über diese Sache gemacht hatte.

Ich bin nicht der Ansicht", sagte Lenin mit einem Lächeln, das mir irgendwie rätselhaft erschien. Damals konnte man in dieser Ausdrucksweise vielleicht einen Zug von „Egozentrismus" wittern. In der Tat aber war die Hervorhebung seiner Artikel, trotz ihrer Anonymität, eine Sicherstellung seiner Linie, als Folge des fehlenden Vertrauens zu der Linie seiner nächsten Mitarbeiter. Hier liegt vor uns im Kleinen jene hartnäckige, beharrliche, alles Konventionelle verachtende, vor keinen formalen Hindernissen Halt machende Zielstrebigkeit, die den Grundzug des Führers Lenin bildete.

Der politische Leiter der „Iskra" war Lenin, aber ihre publizistische Hauptkraft war Martow. Er schrieb leicht und ohne Ende – ganz so, wie er zu reden pflegte. Lenin brachte viel Zeit in der Bibliothek des Britischen Museums zu, wo er sich mit theoretischen Studien beschäftigte.

Ich kann mich erinnern, wie Lenin im Lesesaal der Bibliothek einen Artikel gegen Nadjeschdin schrieb, der zu jener Zeit einen eigenen kleinen Verlag in der Schweiz hatte und irgendwo zwischen den Sozialdemokraten und den Sozialrevolutionären hin und her schwankte. Martow hatte indessen bereits in der vorhergehenden Nacht (er arbeitete meistens nachts) einen längeren Aufsatz über Nadjeschdin geschrieben und ihn Lenin übergeben.

Haben Sie Julius' Artikel gelesen?" fragte mich Wladimir Iljitsch im Museum.

Ich habe ihn gelesen."

Wie finden Sie ihn?"

Ich glaube, gut."

Gut, allerdings gut, aber zu wenig entschieden. Ohne Schlussfolgerungen. Ich habe hier etwas zu Papier gebracht, aber ich weiß nun nicht, wie man es machen soll: vielleicht etwa als zusätzliche Bemerkung zum Artikel von Julius?"

Er übergab mir einen mit Bleistift beschriebenen Viertelbogen. Der Artikel von Martow erschien in der nächsten Nummer der „Iskra" mit Lenins Fußnote. Der Artikel und die Anmerkung waren beide ohne Unterschrift. Ich weiß nicht, ob die Anmerkung sich in Lenins gesammelten Werken befindet. Dass sie von ihm stammt, dafür kann ich bürgen.

Einige Monate später, es war schon in den legten Wochen vor dem Parteitag, stellte sich in der Redaktion eine neue, wie es schien, mehr zufällige Meinungsverschiedenheit ein zwischen Lenin und Martow. Es handelte sich um die Frage der Taktik bei Straßendemonstrationen, genauer gesagt: um den bewaffneten Kampf mit der Polizei. Lenin meinte, man müsse kleine bewaffnete Gruppen bilden, man müsse die Arbeiter der Kampfgruppen anlernen, mit der Polizei zu kämpfen. Martow war dagegen. Der Streit musste nun in der Redaktion ausgetragen werden.

Wird sich nicht hieraus eine Art von Gruppenterror entwickeln?" fragte ich zu Lenins Vorschlag. (Ich erinnere daran, dass der Kampf mit der terroristischen Taktik der Sozialrevolutionäre zu jener Zeit in unserer Arbeit eine große Rolle spielte.) Martow griff diese Erwägung auf und begann den Gedanken zu entwickeln, dass man zwar lernen müsse, die Massendemonstrationen gegen die Polizei zu verteidigen, doch dürfe man nicht besondere Gruppen für den Kampf mit der Polizei bilden. Plechanow, auf den ich (und wahrscheinlich auch die anderen) mit Erwartung blickte, wich der Antwort aus; er schlug Martow vor, einen Resolutionsentwurf fertigzustellen, damit man an Hand des Textes die strittige Frage erörtern könnte. Die Episode ging indessen unter in den mit dem Parteitag verbundenen Ereignissen.

In privater Unterhaltung, außerhalb der Versammlungen und Beratungen, hatte ich sehr wenig Gelegenheit, Lenin und Martow zu beobachten. Lange Auseinandersetzungen und ungeordnete Gespräche, die sehr häufig in Emigrantentratsch und -rabulistik ausarteten, wozu Martow sehr neigte, liebte Lenin schon damals nicht. Dieser größte Maschinist der Revolution war nicht nur in der Politik, sondern auch bei seinen theoretischen Arbeiten, beim Studium der Philosophie, beim Erlernen fremder Sprachen, in der Unterhaltung mit den Menschen immer beherrscht von ein und derselben Idee – dem Ziel. Er war wohl der angespannteste Utilitarist, den das Laboratorium der Weltgeschichte jemals zu Tage gefördert hat. Da sein Utilitarismus jedoch von weitestem historischen Ausmaße war, so wurde hierdurch seine Persönlichkeit nicht etwa verflacht oder verarmt, sondern umgekehrt: in dem Maße, wie sich seine Lebenserfahrung und seine Tätigkeitssphäre erweiterten, entwickelte und bereicherte sich unausgesetzt Lenins Persönlichkeit… .

An Lenins Seite fühlte sich Martow, sein nächster Mitkämpfer, schon damals unbehaglich. Sie sagten noch „du" zueinander, aber in ihren Beziehungen machte sich schon eine gewisse Abkühlung bemerkbar. Martow lebte mehr dem heutigen Tag und dessen aktuellen Fragen, der laufenden literarischen Arbeit, der Publizistik, der Polemik, den Neuigkeiten und Unterhaltungen. Lenin ging über den heutigen Tag hinaus und bohrte sich mit seinen Gedanken in den morgigen hinein. Martow hatte zahllose, oft glänzende Einfälle, Hypothesen und Vorschläge, die er selber bald zu vergessen pflegte. Lenin aber nahm das, was er brauchte, und wann er es brauchte.

Die durchsichtige Zerbrechlichkeit der Martowschen Gedanken veranlasste Lenin mehr als einmal, besorgt mit dem Kopfe zu schütteln. Unterschiede in der politischen Linie hatten damals noch keine Form gewonnen und waren überhaupt noch nicht zum Vorschein gelangt; man kann sie nur rückblickend durchfühlen. Später, bei der Spaltung auf dem zweiten Parteitag, trennten sich die „Iskra"-Leute in harte und weiche. Diese Bezeichnung, die in der ersten Zeit bekanntlich sehr häufig gebraucht wurde, ist kennzeichnend: Wenn auch eine klare Trennungslinie noch nicht vorlag, so gab es schon einen Unterschied in der Haltung, in der Entschlossenheit, in der Bereitschaft, bis zum Ende zu gehen.

Wenn man die Beziehungen zwischen Lenin und Martow betrachtet, kann man sagen, dass bereits vor der Spaltung und vor dem Parteitag Lenin der „harte" und Martow der „weiche" war. Und beide wussten es.

Lenin pflegte auf Martow, den er sehr schätzte, kritisch und ein wenig misstrauisch zu blicken. Martow aber, der diesen Blick spürte, fühlte sich belästigt und zuckte nervös die mageren Schultern. Wenn sie sich trafen und mit einander sprachen, fehlte schon der freundschaftliche oder scherzende Ton; wenigstens war es so, soweit ich es miterlebte. Lenin sprach, an Martow vorbei sehend, und Martows Augen wurden gläsern unter dem herabhängenden und niemals gereinigten Kneifer.

Auch wenn Wladimir Iljitsch mit mir auf Martow zu sprechen kam, pflegte in seiner Stimme ein eigener Klang zu liegen: „Hat das etwa Julius gesagt?" Der Name Julius wurde dabei auf eine besondere Art ausgesprochen, ein wenig unterstrichen; es war, als ob man die Warnung heraushörte: „Er ist schon ein guter Kerl, gar kein Zweifel, sogar ein bemerkenswerter Mensch, aber viel zu weich."

Zweifellos wirkte auch Wera Iwanowna auf Martow ein; sie trug nicht politisch, aber psychologisch bei zur Entfremdung zwischen ihm und Lenin.

Es versteht sich, dass all dies mehr als eine verallgemeinerte psychologische Charakteristik aufzunehmen ist, denn als Tatsachenmaterial. Eine Charakteristik obendrein, die nach 22 Jahren rückschauend gegeben wird. In der Zwischenzeit ist das Gedächtnis mit vielen Dingen überschichtet worden, und Ungenauigkeiten oder eine Verschiebung der Perspektive sind sehr wohl möglich bei dieser Schilderung der imponderabilsten (unwägbarsten) Momente aus dem Gebiete der persönlichen Beziehungen. Was ist hier Erinnerung, und was ist unbewusst nachträglich rekonstruiert? Ich glaube indessen, dass das Gedächtnis im Wesentlichen das wiederherstellt, was gewesen ist, und so, wie es gewesen ist.

Lenin über die englische Arbeiterbewegung.

Nach meinem sozusagen „Probeauftreten" in Whitechapel (über das Alexejew einen „Bericht" an die Mitglieder der Redaktion lieferte) wurde ich mit einem Vortrag auf den Kontinent geschickt, nach Brüssel, Lüttich, Paris. Das Thema meines Vortrages lautete: „Was ist historischer Materialismus, und wie verstehen ihn die Sozialrevolutionäre?" Wladimir Iljitsch hatte für das Thema großes Interesse. Ich gab ihm ein ausführliches Exposé mit dem Zitatenmaterial usw, zur Durchsicht. Er legte mir nahe, den Vortrag zu einem Aufsatz für die nächste Nummer der „Sarja" zu verarbeiten, was ich indessen nicht wagte.

Aus Paris wurde ich alsbald durch ein Telegramm nach London zurück befohlen Es handelte sich darum, dass ich, auf eine Anregung von Wladimir Iljitsch hin, illegal nach Russland befördert werden sollte; man klagte von dort aus über „Durchfälle" 5, den Mangel an Leuten, und ich glaube,

Clair forderte meine Rückkehr. Ich war indessen kaum in London angekommen, als der Plan bereits abgeändert wurde.

L. G. Deutsch, der damals in London lebte und sehr gut mit mir stand, erzählte mir nachträglich, wie er für mich „eine Lanze gebrochen" hatte, indem er dafür plädierte, dass der „Jüngling" (anders pflegte er mich nicht zu nennen) noch eine Zeitlang im Auslande bleiben und lernen müsste, womit Lenin nach einiger Widerrede sich einverstanden erklärte. Es war zwar sehr verlockend, in der russischen Organisation der „Iskra" zu arbeiten; ich blieb aber trotzdem gern noch für einige Zeit im Auslande.

An einem Sonntag ging ich mit Wladimir Iljitsch und Nadeschda Konstantinowna in eine sozialistische Londoner Kirche, wo ein sozialdemokratisches Meeting mit dem Absingen revolutionär-gottesfürchtiger Psalmen abwechselte. Als Redner trat ein Setzer auf, der – glaube ich – aus Australien heimgekehrt war. Wladimir Iljitsch übersetzte uns flüsternd seine Rede, die, für die damalige Zeit wenigstens, ziemlich revolutionär klang. Daraufhin standen alle auf und sangen: „Allmächtiger Herr, richte es so ein, dass es keine Könige und keine Reichen geben möchte …", oder so etwas Ähnliches.

Im englischen Proletariat sind eine Menge revolutionärer und sozialistischer Eigenschaften vorhanden," meinte Wladimir Iljitsch, als wir die Kirche verlassen hatten, „aber alles ist verkoppelt mit Konservativismus, Religion, Aberglauben, so dass jene Eigenschaften nicht an die Oberfläche kommen und zu einer Synthese gelangen können." … Bei dieser Gelegenheit ist es nicht ohne Interesse, zu erfahren, dass Sassulitsch und Martow ganz abseits von der englischen Arbeiterbewegung lebten; sie waren vollauf von der „Iskra" und allem, was die „Iskra" umgab, in Anspruch genommen. Lenin aber pflegte von Zeit zu Zeit selbständige Erkundungsstreifen ins Gebiet der englischen Arbeiterbewegung zu unternehmen.

Es erübrigt sich zu sagen, dass Lenin mit Nadeschda Konstantinowna und deren Mutter in mehr als bescheidenen Verhältnissen lebte. Aus der Kirche zurückgekehrt, aßen wir zu Mittag in der kleinen Wohnküche, die zu der Zweizimmerwohnung gehörte. Ich erinnere mich noch genau der kleinen gebratenen Fleischschnitten, die in der Bratpfanne serviert wurden. Wir tranken Tee. Man scherzte wie immer darüber, ob ich allein nach Hause finden werde: ich fand mich sehr schlecht in den Straßen zurecht und pflegte diese Eigenschaft – aus dem Hang zur Systematisierung – als topographischen Kretinismus zu bezeichnen.

Pariser Vorträge.

Der für den Parteitag festgesetzte Termin rückte heran, und man entschied sich schließlich dafür, die Zentrale der „Iskra" nach der Schweiz (nach Genf) zu verlegen; dort war das Leben unvergleichlich billiger, und auch die Verbindung mit Russland war von der Schweiz aus leichter. Lenin willigte mit einer gewissen Selbstüberwindung ein. Ich wurde nach Paris geschickt mit der Maßgabe, von dort aus zusammen mit Martow nach Genf zu kommen. Eine verstärkte Vorbereitung zum Parteitag begann.

Nach einiger Zeit traf auch Lenin in Paris ein. Er sollte in der sogenannten russischen Hochschule, die in Paris von vertriebenen russischen Universitätsprofessoren gegründet worden war, drei Vorlesungen über die Agrarfrage halten. Der marxistische Teil der Zuhörerschaft hatte auf der Einladung Lenins bestanden, nachdem vorher Tschernow [ein Führer der Sozialrevolutionären Partei] in der Hochschule aufgetreten war.

Die Professoren waren unruhig und baten den stacheligen Lektor, von einer Polemik möglichst abzusehen. Lenin ging jedoch auf keinerlei diesbezügliche Bindungen ein. Er fing seinen ersten Vortrag mit der Einleitung an, dass der Marxismus eine revolutionäre Theorie, folglich seinem eigensten Wesen nach polemisch sei, was indessen seiner wissenschaftlichen Fundierung in keinem Falle Abbruch tue.

Ich entsinne mich, dass Wladimir Iljitsch vor der ersten Vorlesung sehr aufgeregt war. Am Rednerpult hatte er aber seine Selbstbeherrschung sofort wiedergewonnen, wenigstens äußerlich. Professor Gambarow, der unter den Zuhörern erschienen war, formulierte Deutsch gegenüber seinen Eindruck folgendermaßen: „Ein richtiger Professor!" Womit der gute Mann glaubte, das höchste Lob ausgesprochen zu haben.

Obwohl die Vorlesungen durch und durch polemisch waren – gegen die Volkstümler und den agrarischen Sozialreformer David, die Lenin miteinander verglich und in Verbindung brachte –, blieben sie dennoch im Rahmen der ökonomischen Theorie, ohne den aktuellen politischen Kampf, die Agrarprogramme der Sozialdemokratie, der Sozialrevolutionäre usw, zu berühren. Der Vortragende legte sich diese Beschränkung auf, um dem akademischen Charakter des Katheders, von dem er sprach, gerecht zu werden.

Nach der dritten Vorlesung hielt Lenin jedoch noch einen Vortrag über die Agrarfrage (ich glaube auf der Rue Choisy 110), der diesmal nicht von der Hochschule, sondern von der Pariser Gruppe der „Iskra" veranstaltet wurde. Der Saal war überfüllt. Die gesamte Zuhörerschaft der Hochschule war erschienen, um die praktischen Schlussfolgerungen der theoretischen Vorlesungen zu hören. Es handelte sich um das damalige Agrarprogramm der „Iskra" und im Besonderen um die Frage der Rückgabe der Landparzellen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wer als Opponent in der nachfolgenden Diskussion auftrat. Ich erinnere mich nur, dass Wladimir Iljitsch in seinem Schlusswort prachtvoll war. Einer der Pariser „Iskra"-Anhänger sagte mir beim Fortgehen: „Lenin hat sich heute selber übertroffen."

Nach dem Vortrag begab sich der „Iskra"-Kreis gemeinschaftlich mit dem Vortragenden, wie es sich gehörte, ins Café. Alle waren sehr zufrieden und der Redner selber in fröhlicher Erregung. Der Kassenführer der „Iskra" teilte mit Befriedigung die Einnahmeziffer mit, die der Vortrag der „Iskra"-Kasse eingebracht hatte: es waren wohl 75 bis 100 Francs, ein nicht zu missachtender Betrag! Das war Anfang 1903. Genauer kann ich die Zeit jetzt nicht mehr angeben, ich glaube aber, dass dies nicht schwer festzustellen wäre, was vielleicht auch schon geschehen ist.

Bei diesem Besuch Lenins wurde beschlossen, ihm die Oper zu zeigen. Mit der Ausführung dieses Beschlusses wurde das Mitglied der „Iskra"-Gruppe N. I. Sedowa beauftragt. Wladimir Iljitsch ging zum Theater (zur Opera Comique) und zurück mit der gleichen Aktenmappe, die ihn zu den Vorlesungen in die Hochschule begleitet hatte. Es wurde die Oper von Massenet(?) „Luise" gegeben, ein dem Inhalt nach sehr demokratisches Stück. Wir saßen als Gruppe auf der Galerie. Außer Lenin, Sedowa und mir war auch – wie ich glaube – Martow dabei. Der übrigen entsinne ich mich nicht mehr.

Mit diesem Opernbesuch war ein kleines, ganz unmusikalisches Ereignis verbunden, das sich meinem Gedächtnis indessen fest eingeprägt hat. Lenin hatte sich in Paris Stiefel gekauft. Es stellte sich heraus, dass sie ihm zu eng waren. Nachdem er sich einige Stunden mit ihnen abgequält hatte, beschloss er, sie loszuwerden.

Der böse Zufall wollte es, dass mein eigenes Schuhwerk gerade sehr erneuerungsbedürftig war. Ich bekam die Stiefel, und in der ersten Freude schien es mir, als ob sie ausgezeichnet passten. Im Theater aber fühlte ich bereits, dass es mit der Sache nicht gut stand. Vielleicht war dies auch der Grund, weshalb ich mich nicht mehr des Eindruckes entsinnen kann, den das Stück auf Lenin und auch auf mich selber gemacht hat. Ich kann mich nur erinnern, dass Lenin sehr gut aufgelegt war, scherzte und lachte. Auf dem Rückwege hatte ich bereits heftige Schmerzen, Lenin aber machte sich während des ganzen Weges unbarmherzig über mich lustig. Hinter seinen Neckereien steckte indessen ein sachverständiges Mitempfinden; er hatte sich ja selber, wie gesagt, einige Stunden in den Stiefeln quälen müssen.

An einer anderen Stelle erwähnte ich die Aufregung Wladimir Iljitschs vor seinen Pariser Vorträgen. In diesem Zusammenhang muss noch einiges gesagt werden. Eine derartige Aufregung beim öffentlichen Auftreten pflegte sich auch noch in späteren Zeiten bei Lenin einzustellen, und zwar umso stärker, je weniger es „seine" Zuhörerschaft war, und je förmlicher der Anlass der Rede war.

Rein äußerlich pflegte Lenin stets sicher, draufgängerisch und schnell zu sprechen, sodass seine Reden eine schwere Prüfung für die Stenographen darstellten. Wenn er sich aber nicht in seinem Element fühlte, dann klang seine Stimme nicht in der ihr eigenen Art, sondern sie wirkte reflektiert und unpersönlich wie ein Echo. Wenn Lenin dagegen das Gefühl hatte, dass gerade diese Zuhörerschaft für das, was er zu sagen hatte, besonders stark empfänglich sein müsste, dann erhielt seine Stimme eine außerordentliche Lebendigkeit und geschmeidige Überzeugungskraft, die nicht im eigentlichen Sinne „rednerisch" war, sondern mehr dem Gespräch glich, nur der Rednertribüne entsprechend verstärkt. Das war nicht rednerische Kunst, sondern etwas weit Größeres

Man könnte freilich entgegnen, dass jeder Redner vor „seinem" Publikum besser spricht. So ganz allgemein genommen würde das natürlich stimmen. Die Frage ist nur: Welches Publikum empfindet der Redner als das seinige und unter welchen Umständen?

Europäische Redner vom Schlage eines Vandervelde, die nach parlamentarischem Muster erzogen sind, bedürfen gerade einer feierlichen Umgebung und eines förmlichen Anlasses für ihren rednerischen Schwung. Wo es gilt, ein Jubiläum oder eine Persönlichkeit zu feiern, da fühlen sie sich am wohlsten. Für Lenin war aber jede derartige Versammlung ein persönliches Missgeschick. Am stärksten und überzeugendsten wirkte er, wo es sich um eine Analyse aktueller politischer Tagesfragen handelte. Seine besten Reden waren vielleicht seine Reden im Zentralkomitee vor dem Oktober.

Vor den Pariser Vorträgen hatte ich Lenin, soweit ich mich erinnere, nur ein einziges Mal in London gehört. Das war Ende Dezember 1902. Sonderbarerweise habe ich weder an den Charakter seines damaligen Auftretens noch an das Thema irgendeine Erinnerung behalten. Ich wäre jetzt beinahe bereit, zu bezweifeln, ob er wirklich dort gesprochen hat. Doch war es anscheinend der Fall. Es war eine für Londoner Verhältnisse große russische Versammlung, auf der Lenin zugegen war; hätte er nicht das Referat gehabt, wäre er schwerlich überhaupt dabei gewesen.

Die Lücke in meinem Gedächtnis erkläre ich folgendermaßen: Der Vortrag war wahrscheinlich, wie gewöhnlich, dem gleichen Thema gewidmet wie die fällige neue Nummer der „Iskra". Den entsprechenden Aufsatz Lenins hatte ich folglich bereits gelesen, sodass der Vortrag für mich nichts Neues enthielt. Eine Debatte blieb aus: Die schwachen Londoner Opponenten wagten nicht, gegen Lenin aufzutreten. Das Publikum, das zum Teil aus Bundisten, zum Teil aus Anarchisten bestand, verhielt sich nicht sonderlich anerkennend. Aus all diesen Gründen verlief der Vortrag für mich farblos.

Ich erinnere mich nur, dass am Schluss der Versammlung die Eheleute B. von der ehemaligen Petersburger Gruppe der „Rabotschaja Mysl" („Arbeitergedanke"), die bereits recht lange in London lebten, auf mich zukamen und mich einluden: „Kommen Sie zu uns zum Silvesterabend." – „Wozu?" fragte ich mit barbarischem Unverständnis. – „Wir werden in kameradschaftlichem Kreise die Zeit verbringen. Uljanow wird da sein und Krupskaja."

Erinnerlich ist mir, dass sie Uljanow und nicht Lenin sagten. Ich konnte nicht einmal gleich begreifen, von wem die Rede war. Es stellte sich heraus, dass Sassulitsch und Martow ebenfalls eingeladen waren. Am folgenden Tag wurde in der „Spelunke" beraten, wie man sich verhalten solle; man erkundigte sich bei Lenin, ob er gehen werde. Ich glaube, es ging keiner. Eigentlich schade; es wäre eine einzigartige Gelegenheit gewesen, Lenin zusammen mit Sassulitsch und Martow im Rahmen eines Silvesterabends zu beobachten.

Die Ankunft in Genf.

Als wir aus Paris nach Genf kamen, wurde ich gemeinsam mit Sassulitsch und Martow zu Plechanow eingeladen; ich glaube, auch Wladimir Iljitsch war da. Der Abend hinterließ bei mir indessen nur eine sehr verworrene Erinnerung. Er trug jedenfalls keinen politischen, sondern „weltlichen" – um nicht zu sagen: philisterhaften – Charakter.

Ich entsinne mich, dass ich ziemlich hilflos und verdrossen auf dem Stuhl saß, die Aufmerksamkeiten des Hausherrn und der Hausfrau über mich ergehen ließ und mir zwischendurch bewusst war. dass ich absolut nichts mit mir anzufangen wusste. Plechanows Töchter reichten Tee und Biskuits herum. Über allem lag eine gewisse Gezwungenheit, bei der vermutlich nicht nur mir unbehaglich zumute war. Vielleicht empfand ich wegen meiner Jugend die kühle Luft stärker als die anderen. Das war mein erster und letzter Besuch bei Plechanow.

Es versteht sich, dass meine Eindrücke von dieser „Visite" sehr flüchtig und vielleicht rein zufälliger Art waren, wie alle meine Begegnungen mit Plechanow. Die glänzende Figur des ersten Lehrers des Marxismus in Russland habe ich an anderer Stelle kurz zu charakterisieren versucht. Hier beschränke ich mich auf vereinzelte Eindrücke aus den ersten Begegnungen, bei denen ich – leider – offenbar Pech hatte. Sassulitsch, die über all dies sehr betrübt war, sagte mir: „Ich weiß, George ist bisweilen unerträglich, aber im Grunde ist er ein furchtbar nettes Tier." (Das war ein beliebtes Lob von ihr.)

Ich kann nicht umhin, hier gleich zu bemerken, dass im Hause Axelrods die schlichte Atmosphäre aufrichtiger kameradschaftlicher Anteilnahme herrschte. Ich erinnere mich noch jetzt mit Dankbarkeit jener Stunden, die ich während meiner recht häufigen Besuche in Zürich in dem gastlichen Hause der Axelrods zuzubringen pflegte. Dort war auch Wladimir Iljitsch mehr als einmal und, soweit mir aus den Erzählungen der Familie Axelrod bekannt ist, fühlte er sich in ihrer Mitte wohl und angeregt. Ihn bei Axelrods zu treffen, hatte ich keine Gelegenheit.

Was Sassulitsch betrifft, so waren ihre Schlichtheit und Herzlichkeit in den Beziehungen zu jüngeren Genossen wahrlich unvergleichlich. Wenn man nicht in direktem Sinne des Wortes von ihrer Gastlichkeit reden kann, so nur deshalb, weil sie eine solche eher nötig hatte, als dass sie sie selber erweisen konnte. Sie lebte, kleidete und ernährte sich wie die bescheidenste Studentin. Auf dem Gebiete der materiellen Werte waren Tabak und Senf ihre größten Freuden. Beides konsumierte sie in großen Mengen. Wenn sie die allerdünnste Schinkenschnitte mit einer dicken Schicht Senf belegte, pflegten wir zu sagen: „Wera Iwanowna schweift aus …“

Sehr gut und aufmerksam verhielt sich zur Jugend das vierte Mitglied der „Gruppe der Befreiung der Arbeit" L. G. Deutsch. Ich habe bisher nicht erwähnt, dass er, als Geschäftsführer der „Iskra", den Redaktionssitzungen mit beratender Stimme beiwohnte.

Deutsch hielt gewöhnlich zu Plechanow und hatte in den Fragen der revolutionären Taktik mehr als gemäßigte Anschauungen. Einmal erklärte er mir zu meinem größten Erstaunen: „Es wird keinen bewaffneten Aufstand geben, und man hat ihn auch nicht nötig. Im Zuchthaus gab es bei uns Hähne, die sich aus dem geringsten Anlass in eine Rauferei verwickelten und dabei zugrunde gingen. Ich nahm aber folgende Stellung ein: fest sein, der Leitung zu verstehen geben, dass es zu einer großen Rauferei kommen könnte, ohne es indessen dazu kommen zu lassen. Auf diese Weise erreichte ich sowohl die Achtung der Leitung als auch eine Milderung des Regimes. Dieselbe Taktik müssen wir auch dem Zarismus gegenüber befolgen, sonst wird man uns zerschlagen und vernichten, ohne jeglichen Nutzen für die Sache."

Ich war von dieser Predigt taktischer Leitsätze so verblüfft, dass ich davon der Reihe nach sowohl Martow als auch Sassulitsch und Lenin erzählte. Ich weiß nicht mehr, wie Martow darauf reagierte. Wera Iwanowna sagte: „Eugen (der alte Parteiname von Deutsch) war immer so: persönlich außerordentlich waghalsig, politisch aber sehr vorsichtig und gemäßigt." Lenin gab, als er mich anhörte, so etwas wie: „Hm, hm, … Ja, ja!" von sich. Wir lachten darauf beide – ohne weiteren Kommentar.

Die Debatte um die „Iskra".

Die ersten Delegierten zum bevorstehenden zweiten Parteitag trafen allmählich in Genf ein, und es wurden ununterbrochen Beratungen mit ihnen abgehalten. In dieser vorbereitenden Arbeit lag die unbestrittene, wenn auch nicht immer merkbare Leitung in den Händen Lenins. Sitzungen der „Iskra"-Redaktion, Sitzungen der „Iskra"-Organisation, einzelne Beratungen mit den Delegierten, gruppenweise und gemeinsame, folgten aufeinander. Ein Teil der Delegierten kam mit Zweifeln, Einwänden und Gruppenansprüchen. Die vorbereitende Bearbeitung kostete viel Zeit.

Zum Parteitag kamen insgesamt drei Arbeiter. Lenin unterhielt sich sehr ausführlich mit jedem Einzelnen von ihnen und eroberte sie alle drei. Einer von ihnen war Schottmann aus Petersburg. Er war noch sehr jung, aber vorsichtig und nachdenklich. Ich erinnere mich, wie er von einer Unterhaltung mit Lenin zurück kam (wir lebten mit ihm in einer Wohnung) und andauernd wiederholte: „Wie bei ihm die Äuglein leuchten, als ob er durch und durch sähe ."

Aus Nikolajew war Kalafati delegiert. Wladimir Iljitsch fragte mich ausführlich über ihn aus (ich kannte ihn von Nikolajew her) und fügte dann mit einem schelmischen Lächeln hinzu:

Er sagt, er kannte Sie als eine Art Tolstoianer."

Es ist Unsinn, was er redet", meinte ich fast empört.

Was ist denn dabei?" erwiderte Lenin, halb beruhigend, halb neckend. „Sie waren damals, wie ich glaube, 18 Jahre alt, und niemand kommt als Marxist zur Welt."

Das ist zwar so, aber mit dem Tolstoianertum hatte ich nicht das Geringste gemein", war meine Antwort.

In den Beratungen wurde der Erörterung des Statuts sehr viel Platz eingeräumt. Eines der allerwichtigsten Momente in den Organisationsentwürfen und Diskussionen war die Frage der Wechselbeziehungen zwischen dem Zentralorgan und dem Zentralkomitee. Ich kam ins Ausland mit der Idee, dass das Zentralorgan dem Zentralkomitee „gehorchen" müsse. So war auch die Stimmung der meisten „russischen" [zum Unterschied von den in der Emigration lebenden] „Iskra"-Mitglieder, eine Stimmung, die allerdings nicht beharrlich und ausgesprochen war.

Das wird nicht gehen", erwiderte mir Wladimir Iljitsch. „Das Kräfteverhältnis ist nicht dazu angetan. Wie werden sie uns von Russland aus dirigieren wollen? [Das ZK befand sich in Russland.] Das wird nicht gehen. Wir sind eine stabile Zentrale, und wir werden von hier aus dirigieren."

In einem der Entwürfe hieß es, dass das Zentralorgan verpflichtet sei, die Artikel der Mitglieder des Zentralkomitees aufzunehmen.

Selbst wenn sie gegen das Zentralorgan Stellung nehmen?" erkundigte sich Wladimir Iljitsch.

Natürlich."

Wozu? Das wäre zu nichts gut. Eine Polemik zwischen zwei Mitgliedern des Zentralorgans könnte noch unter gewissen Umständen nützlich sein, aber eine Polemik der ,russischen' ZK-Mitglieder gegen das Zentralorgan ist unzulässig."

Das würde ja auf eine vollständige Diktatur des Zentralorgans hinauslaufen?" fragte ich.

Wäre das denn schlimm?" erwiderte Lenin. „So muss es doch bei der gegenwärtigen Lage sein."

In jener Periode gab es viel Getue um das sogenannte Kooptierungsrecht. Auf einer der Beratungen haben wir, die Jungen, über die positive und negative Kooptierung diskutiert. „Aber eine negative Kooptierung – das hieße doch auf russisch ,hinaus schmeißen' ", lachte Wladimir Iljitsch, als er sich am nächsten Morgen mit mir unterhielt. „Das ist nicht so einfach. Versuchen Sie mal – ha-ha-ha! – eine negative Kooptierung in der Redaktion der ,Iskra' vorzunehmen."

Für Lenin war am brennendsten die Frage, wie das Zentralorgan, das im Grunde ja gleichzeitig die Rolle des Zentralkomitees spielen sollte, weiterhin organisiert werden sollte. Lenin hielt es für unmöglich, das alte Sechserkollegium fortbestehen zu lassen. Sassulitsch und Axelrod pflegten fast in jeder strittigen Frage regelmäßig für Plechanow Partei zu ergreifen, sodass im besten Falle dann drei gegen drei standen. Aber weder das eine noch das andere Triumvirat wäre darauf eingegangen, irgendein Mitglied des Kollegiums zu entfernen. Es blieb also nur der entgegengesetzte Weg übrig, die Erweiterung des Kollegiums.

Lenin wollte mich als siebentes Mitglied hinzuziehen, um alsdann innerhalb des Siebenmännerkollegiums, als der erweiterten Redaktion, eine engere Redaktionsgruppe, bestehend aus Lenin, Plechanow und Martow, auszusondern.

In diesen Plan hatte mich Wladimir Iljitsch nach und nach eingeweiht, ohne übrigens mit einem Wort etwas davon zu erwähnen, dass er eben mich als siebentes Mitglied der Redaktion in Vorschlag gebracht hatte und dass dieser Vorschlag von allen, außer Plechanow, der dem ganzen Plan entschiedenen Widerstand entgegensetzte, angenommen worden war. Die Angliederung eines Siebenten bedeutete für Plechanow schon an und für sich eine Majorisierung der Gruppe „Befreiung der Arbeit": vier „Junge" gegen drei „Alte"!

Plechanows Missstimmung.

Ich glaube, dass dieser Plan der Hauptgrund für die äußerst missgünstige Beziehung Georgij Walentinowitschs zu mir war. Dazu kamen unglücklicherweise noch kleine offene Geplänkel vor den Delegierten. Den ersten Anlass gab, wie ich glaube, die Frage einer volkstümlichen Zeitung. Manche Delegierten bestanden darauf, dass es dringlich sei, neben der „Iskra" ein populäres Organ möglichst in Russland herauszugeben. Das war im besonderen die Idee der Gruppe „Juschnij Rabotschij" (der „Südliche Arbeiter").

Lenin war entschieden dagegen. Er wurde zu dieser Stellungnahme von verschiedenen Erwägungen bestimmt. Die Hauptrolle spielte aber die Befürchtung, dass auf dem Boden einer „populären" Vereinfachung der sozialdemokratischen Idee eine besondere Gruppierung entstehen könnte, bevor noch der Hauptkern der Partei Zeit hätte, in gehörigem Maße zu erstarken. Plechanow trat entschieden für die Gründung eines populären Organs ein. Er stellte sich auf diese Weise in Gegensatz zu Lenin und warb offensichtlich um die Unterstützung der Ortsdelegierten.

Ich unterstütze Lenin. Auf einer der Beratungen entwickelte ich den Gedanken – ob mit Recht oder Unrecht, ist jetzt einerlei – dass wir kein populäres Organ brauchten, sondern eine Reihe propagandistischer Broschüren und Flugblätter, die den fortgeschrittenen Arbeitern helfen würden, sich zum Niveau der „Iskra" zu erheben; dass ein populäres Organ die „Iskra" verdrängen und das politische Gesicht der Partei verwischen würde, sodass sie zum Ökonomismus6 und zum Sozialrevolutionärtum hinab gleiten könnte."

Plechanow opponierte. „Warum würde es verwischen?" sagte er. „Es versteht sich, dass wir in einem populären Organ nicht alles sagen können. Wir werden darin Forderungen und Parolen aufstellen, uns aber nicht mit Fragen der Taktik befassen. Wir werden dem Arbeiter sagen, dass man den Kapitalismus bekämpfen müsse, wir werden uns aber selbstredend nicht in theoretische Erörterungen darüber einlassen, wie der Kapitalismus zu bekämpfen ist."

Diese Argumentierung griff ich auf. „Aber die ,Ökonomisten und die Sozialrevolutionäre behaupten ja ebenfalls, dass man den Kapitalismus bekämpfen müsse. Die Wege gehen ja gerade erst in der Frage auseinander, wie gekämpft werden soll. Wenn wir in dem populären Organ diese Frage unbeantwortet lassen, dann verwischen wir eben dadurch den Unterschied zwischen uns und den Sozialrevolutionären." … Diese Erwiderung klang sehr siegesgewiss. Plechanow fand keine Antwort. Es ist klar, dass diese Episode nicht dazu angetan war, seine Beziehung zu mir zu verbessern.

Ein weiterer Konflikt stellte sich alsbald ein. Das war in einer Sitzung der Redaktion, die den Beschluss gefasst hatte, bis zur Entscheidung durch den Parteitag über die Zusammensetzung der Redaktion mich mit einer beratenden Stimme zur Sitzung heranzuziehen. Plechanow war kategorisch dagegen. Wera Iwanowna erklärte ihm aber: „Und ich werde ihn bringen!" Und sie „brachte" mich tatsächlich zur Sitzung mit.

Ich selber erfuhr von diesem Sachverhalt, der sich hinter den Kulissen abspielte, erst bedeutend später; zur Sitzung kam ich aber, ohne etwas zu wissen oder zu ahnen. Georgij Walentinowitsch grüßte mich mit ausgesuchter Kühle, in der er ein großer Meister war. Die Redaktion hatte in dieser Sitzung gerade eine Streitfrage zwischen Deutsch und dem bereits früher erwähnten Blumenfeld zu schlichten. deutsch war der Geschäftsführer der „Iskra". Blumenfeld verwaltete die Druckerei. Auf diesem Boden ergaben sich Kompetenzstreitigkeiten. Blumenfeld beschwerte sich über das Eingreifen von Deutsch in die internen Angelegenheiten der Druckerei. Plechanow unterstützte aus alter Freundschaft Deutsch und schlug vor, Blumenfeld auf die technische Arbeit der Druckerei zu beschränken. Ich widersprach: man könne nicht eine Druckerei nur auf dem Gebiet der Technik leiten, es gäbe noch organisatorische und administrative Aufgaben und Blumenfeld müsse in all diesen Fragen autonom sein.

Ich entsinne mich der giftigen Erwiderung Plechanows: „Wenn auch Genosse Trotzki recht hat, dass die Technik einen Überbau administrativer und sonstiger Art erhalten kann, wie die Theorie des historischen Materialismus es lehrt, so ist doch …" usw,

Lenin und Martow jedoch unterstützten mich vorsichtig und führten einen entsprechenden Beschluss durch. Das machte das Maß voll. In diesen beiden Fällen war die Sympathie Wladimir Iljitschs, wie wir sahen, auf meiner Seite. Zur gleichen Zeit aber beobachtete er mit Sorge, wie meine Beziehungen zu Plechanow immer schlechter wurden, was den von ihm in Aussicht genommenen Plan in Bezug auf die Reorganisierung der Redaktion endgültig zu vernichten drohte. In einer der nächsten Beratungen mit den neu hinzugekommenen Delegierten sagte Lenin, mich zur Seite ziehend, zu mir: „In der Frage des populären Organs ist es besser, wenn Martow auf Plechanow erwidert. Martow wird schmieren, und Sie werden zuschlagen. Möge er lieber schmieren."

Dieser Ausdrücke: schmieren und zuschlagen entsinne ich mich genau.

Lenin und die Liberalen.

Nach einer der Redaktionssitzungen im Café „Landolt", vielleicht nach derselben Sitzung, von der soeben die Rede war, fing Sassulitsch an, mit der besonderen, ihr in solchen Fällen eigenen, schüchtern-beharrlichen Stimme sich zu beklagen, dass wir „die Liberalen zu sehr angriffen". Das war bei ihr der wundeste Punkt.

Sehen Sie doch, wie sie sich Mühe geben", sagte sie, an Lenin vorbei sehend, aber gerade auf ihn abzielend.

In der legten Nummer der ,Oswoboschdenije' setzt Struwe unseren Liberalen Jaurès zum Vorbild und fordert, dass die russischen Liberalen nicht mit dem Sozialismus brechen sollten, da ihnen sonst das klägliche Schicksal des deutschen Liberalismus drohen würde; sie sollten sich vielmehr an das Beispiel der französischen Radikalsozialisten halten."

Lenin stand am Tisch, den Panama-ähnlichen Strohhut tief in die Stirn gedrückt (die Sitzung war bereits zu Ende; er war im Begriff fortzugehen):

Umso mehr muss man sie schlagen", sagte er fröhlich lächelnd, als ob er Wera Iwanowna necken wollte.

Das ist eine schöne Sache," rief sie voll Verzweiflung, „sie kommen uns entgegen, und wir sollen sie schlagen!"

Gerade deswegen. Struwe sagt seinen Liberalen: man müsse gegen unseren Sozialismus nicht die groben deutschen Maßnahmen ergreifen, sondern die feineren französischen; man müsse locken, umschmeicheln, betrügen, verführen, nach Art der linken französischen Radikalen, die mit dem Jaurèsismus tändeln."

Ich gebe hier diese bemerkenswerte Unterhaltung selbstverständlich nicht wörtlich wieder. Aber ihr Sinn und ihr Geist haben sich meinem Gedächtnis äußerst klar eingeprägt. Ich habe jetzt kein Material zur Nachprüfung bei der Hand. Es wäre aber nicht schwer, nachzuprüfen; man braucht nur die Nummern des „Oswoboschdenije" vom Frühjahr 1903 durchzusehen und den Artikel Struwes zu suchen, der der Frage über die Beziehung der Liberalen zum demokratischen Sozialismus im allgemeinen und dem Jaurèsismus im besonderen gewidmet ist. An diesen Artikel erinnere ich mich nach dem, was Wera Iwanowna in der soeben geschilderten Szene gesagt hatte. Wenn man zu dem Datum der betreffenden Nummer der „Oswoboschdenije" die Zeit hinzurechnet, die dazu nötig war, damit die „Oswoboschdenije" Genf erreichen, in die Hände von Wera Iwanowna gelangen und durchgelesen werden konnte, also drei bis vier Tage, so hätte man das ziemlich genaue Datum des vorhin geschilderten Disputs im Café „Landolt" festgestellt. Ich entsinne mich, es war ein Frühlingstag (vielleicht aber auch im Frühsommer?), die Sonne lachte fröhlich, und fröhlich war das Lachen Lenins. Ich kann mich seines ganzen, ruhig-spöttischen, selbstbewussten und „stabilen" Aussehens entsinnen, – stabil, obwohl Wladimir Iljitsch damals bedeutend magerer war als in der letzten Periode seines Lebens. Wera Iwanowna sprang auf, wie immer sich von einem zum andern wendend; aber niemand, glaube ich, griff in die Diskussion ein, die übrigens auch nicht lange, sondern nur während des Anziehens dauerte.

Wir gingen mit ihr zusammen nach Hause. Sassulitsch war deprimiert. Sie fühlte, dass Struwes Karte geschlagen war. Ich konnte ihr keinerlei Trost spenden, niemand von uns aber ahnte damals, wie weitgehend, in welch höchstem Grade die Karte des russischen Liberalismus geschlagen worden war in jenem kleinen Dialog an der Tür des Café „Landolt".

Lenins Wandlung.

Ich sehe die ganze Unzulänglichkeit der von mir hier wiedergegebenen Episoden. Das Ganze ist armseliger geworden, als es mir bei Beginn der Arbeit vorschwebte. Ich habe jedoch alles sorgsam zusammengetragen, was das Gedächtnis noch bewahrt hat, selbst das weniger Bedeutsame, weil es schon jegt fast niemanden mehr gibt, der über jene Periode ausführlich erzählen könnte. Es ist kaum anzunehmen, dass jemand von ihnen Memoiren hinterlassen hat. Vielleicht könnte das bei Wera Iwanowna der Fall gewesen sein? Man hat indessen nichts davon gehört.

Aus der damaligen Redaktion sind nur noch Axelrod und Potressow am Leben. Sie beide haben aber, von allen anderen Erwägungen abgesehen, an der Arbeit der Redaktion nur wenig teilgenommen, und zu den Redaktionssitzungen pflegten sie nur als seltene Gäste zu erscheinen. Einiges könnte L. G. Deutsch erzählen. Aber auch er kam gegen Ende der hier geschilderten Periode ins Ausland, kurz vor mir, und er war überdies an der Redaktionsarbeit nicht unmittelbar beteiligt. Unschätzbare Auskunft kann und wird auch hoffentlich Nadeschda Konstantinowna geben.

Sie stand damals im Mittelpunkt der ganzen organisatorischen Arbeit, empfing die eintreffenden Genossen, instruierte sie und fertigte sie ab, wenn sie fortfuhren, stellte die Verbindungen her, gab konspirative Adressen mit, schrieb Briefe, chiffrierte und dechiffrierte. In ihrem Zimmer spürte man immer den Geruch von angewärmtem Papier. Und sie beklagte sich häufig mit ihrer sanften Beharrlichkeit darüber, dass man wenig schreibe oder den Chiffre-Schlüssel verwechselt habe, oder mit chemischer Tinte so, geschrieben habe, dass eine Zeile auf die andere geraten sei usw, Noch wichtiger natürlich ist, dass Nadeschda Konstantinowna bei dieser organisatorischen Arbeit, die sie Hand in Hand mit Lenin leistete, tagaus tagein alles beobachten konnte, was in ihm und um ihn herum vorging.

Trotzdem aber hoffe ich, dass auch diese Zeilen nicht überflüssig sein werden, – namentlich auch deswegen, weil Nadeschda Konstantinowna in den Redaktionssitzungen, wenigstens zu meiner Zeit, selten anwesend war. Hauptsächlich aber aus dem Grunde, weil bisweilen das frische Auge des Außenstehenden das bemerkt, was dem gewohnten Auge verborgen bleibt. So oder anders, das, was ich zu erzählen in der Lage war, ist hier erzählt. Und nun möchte ich noch einige allgemeine Erwägungen darüber zum Ausdruck bringen, weshalb meiner Ansicht nach während der Zeit der alten „Iskra" eine entschiedene Wandlung in dem politischen Selbstempfinden Lenins, sozusagen in einer Selbstbewertung, vor sich gehen musste, – weshalb diese Wandlung unvermeidlich und notwendig war.

Lenin als Schüler.

Lenin kam ins Ausland als dreißigjähriger Mensch, dessen geistige Persönlichkeit bereits feste Formen gewonnen hatte. In Russland, in den Studentenkreisen, in den ersten sozialdemokratischen Gruppen, in den Verbannten-Siedlungen nahm er den ersten Platz ein. Er konnte schon aus dem Grunde sich seiner Kraft nicht unbewusst bleiben, weil alle, mit denen er zusammen kam, und mit denen er arbeitete, sie anerkannten. Er reiste ins Ausland bereits mit einem großen theoretischen Gepäck, mit einer umfassenden politischen Erfahrung und ganz durchdrungen von jener Zielstrebigkeit, die seine geistige Natur bildete.

Im Auslande erwartete ihn die Mitarbeit in der Gruppe „Oswoboschdenije Truda" („Befreiung der Arbeit") und vor allem mit Plechanow, dem tiefen und glänzenden Kommentator von Marx, dem Lehrer einiger Generationen, dem Theoretiker, Politiker, Publizisten, Redner von europäischem Ruf und mit europäischen Verbindungen. Neben Plechanow standen zwei der größten Autoritäten: Sassulitsch und Axelrod. Nicht nur die heroische Vergangenheit stellte Wera Iwanowna in die erste Reihe. Nein, es war ihr durchdringender Verstand, gepaart mit einer umfassenden, vorzugsweise historischen Bildung und einer seltenen psychologischen Intuition. Über Sassulitsch lief seiner Zeit die Verbindung der „Gruppe" mit dem alten Engels. Zum Unterschied von Plechanow und Sassulitsch, die am engsten mit dem romanischen Sozialismus verbunden waren, repräsentierte Axelrod in der „Gruppe" die Ideen und die Erfahrungen der deutschen Sozialdemokratie. Dieser Unterschied der „Wirkungssphären" spiegelte sich auch in ihren Wohnorten wider. Plechanow und Sassulitsch lebten vorzugsweise in Genf, Axelrod in Zürich.

Axelrod konzentrierte sich auf Fragen der Taktik; er hat bekanntlich keine einzige theoretische oder historische Arbeit geschrieben. Er schrieb überhaupt wenig. Das aber, was er schrieb, hatte fast immer die taktischen Fragen des Sozialismus zum Thema. Auf diesem Gebiet zeigte Axelrod sowohl Selbständigkeit als auch Scharfsinn. Aus zahlreichen Unterhaltungen mit ihm (eine Zeit lang war ich mit ihm sehr befreundet, wie auch mit Sassulitsch) ist mir klar geworden, dass vieles von dem, was Plechanow über Fragen der Taktik geschrieben hat, das Ergebnis einer kollektiven Arbeit ist und dass in dieser Arbeit der Anteil Axelrods erheblich bedeutender ist, als es den gedruckten Dokumenten nach den Anschein hat.

Axelrod selber sagte mehr als einmal zu Plechanow, dem unbestrittenen und geliebten Führer der „Gruppe" (bis zum Bruch 1903): „Du, George, hast einen langen Rüssel, Du wirst überall das holen, was Du brauchst." … Axelrod hatte bekanntlich das Vorwort zu dem aus Russland eingesandten Manuskript Lenins „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten" geschrieben. Es war, als ob dadurch die „Gruppe" den jungen begabten russischen Mitarbeiter adoptierte, aber auch zu gleicher Zeit bescheinigte, dass es sich um einen Schüler handelte.

In eben dieser Eigenschaft kam Lenin ins Ausland, gemeinsam mit zwei anderen Schülern. Ich wohnte den ersten Begegnungen der Schüler mit den Lehrern nicht bei, jenen Unterhaltungen, in denen die Grundlinien der „Iskra" ausgearbeitet wurden. Im Lichte der Beobachtungen des geschilderten Halbjahres und insbesondere im Lichte des zweiten Parteitags ist es indessen nicht schwer zu begreifen, dass die Schärfe des Konfliktes an und für sich, abgesehen von der erst kaum andeutungsweise sichtbar werdenden prinzipiellen Seite, das unrichtige Augenmaß der Alten bei der Bewertung des Wachstums und der Bedeutung Lenins zum Grunde hatte.

Die Alten gegen Lenin.

Im Laufe des zweiten7 Parteitages und unmittelbar danach verband sich die Empörung Axelrods und der anderen Redaktionsmitglieder gegen das Benehmen Lenins mit dem Erstaunen: Wie konnte er es wagen! Das Erstaunen wurde noch größer, als Lenin nach dem Bruch mit Plechanow, der sich schon bald nach dem Parteitag ereignete, den Kampf trotzdem weiterführte. Die Stimmung Axelrods und der anderen könnte man vielleicht am Richtigsten so ausdrücken: „Welche Mücke hat ihn gestochen?" „Es ist ja noch gar nicht so lange her, dass er ins Ausland gekommen ist", meinten die Älteren. „Er ist als Schüler gekommen und hat sich auch als Schüler benommen." (Das hat besonders Axelrod in seinen Berichten über die ersten Monate der „Iskra" nachdrücklichst betont.) „Woher plötzlich dieses Selbstbewusstsein? Wie konnte er es wagen?" usw, Dann erriet man es: Er hatte sich den Boden bereits in Russland vorbereitet, nicht umsonst lagen alle Verbindungen in den Händen von Nadeschda Konstantinowna; dort war es wohl auch, wo die Beeinflussung der russischen Genossen gegen die Gruppe „Oswoboschdenije Truda" im Stillen vor sich ging.

Nicht weniger empört als die anderen, aber doch verständnisvoller war Sassulitsch. Nicht umsonst hatte sie Lenin noch lange vor der Spaltung gesagt, dass er, zum Unterschied von Plechanow, einen „tödlichen Griff" besäße. Und wer weiß, welchen Eindruck diese Worte seiner Zeit auf Lenin gemacht hatten? Ob Lenin sich selber nicht wiederholt hatte: „Ja, das ist richtig: Wer sollte, wenn nicht Sassulitsch, den Plechanow kennen? Er wird zupfen, zupfen und loslassen. Die Aufgabe liegt aber gar nicht darin, zu zupfen und los zu lassen …, hier ist ein tödlicher Griff nötig."

In welchem Maße und in welchem Sinne die Worte von der vorausgehenden „Beeinflussung" der russischen Genossen richtig sind, darüber könnte natürlich besser als sonst jemand Nadeschda Konstantinowna berichten. Im weiteren Sinne des Wortes aber kann man auch ohne Anführung von Tatsachen behaupten, dass eine derartige Beeinflussung stattgefunden hatte. Lenin bereitete immer den morgigen Tag vor, während er den heutigen befestigte und stützte. Sein schöpferischer Gedanke stand niemals still, seine Wachsamkeit ließ niemals nach. Und als er sich überzeugt hatte, dass die Gruppe „Oswoboschdenije Truda" in der Situation der herannahenden Revolution nicht fähig war, die unmittelbare Leitung der Kampforganisation der proletarischen Avantgarde in ihre Hände zu nehmen, da zog er für sich alle praktischen Schlussfolgerungen daraus. Die Alten hatten sich geirrt, und nicht nur die Alten. Das war nicht mehr der junge hervorragende Mitarbeiter, den Axelrod durch ein wohlwollend patronisierendes Vorwort ausgezeichnet hatte; das war ein Führer, überragend zielsicher, und ich denke, einer, der sich endgültig als Führer fühlte, nachdem er in der Arbeit Seite an Seite mit den Älteren, den Lehrern, zu der Überzeugung kam, dass er stärker und nötiger war als sie.

Freilich war Lenin schon in Russland, wie Martow sich ausdrückte, der Erste unter Gleichen. Dort aber handelte es sich immerhin nur um die ersten sozialdemokratischen Kreise, um junge Organisationen. Die russischen Prominenten trugen noch den Stempel des Provinzialismus: wie viel russische Lassalles und russische Bebels gab es nicht damals! Anders die Gruppe „Oswoboschdenije Truda": Plechanow, Axelrod und Sassulitsch gehörten in die gleiche Rangordnung wie Kautsky, Lafargue, Guesde und Bebel, – der echte deutsche Bebel!

Als Lenin bei der Arbeit an ihrer Seite seine Kräfte gemessen hatte, begann er, sich am großen europäischen Maßstab zu messen. Gerade in den Zusammenstößen mit Plechanow, als die Redaktion sich um die beiden Mittelpunkte gruppierte, musste Lenin jene Stählung des Selbstbewusstseins gewinnen, ohne die er später nicht Lenin gewesen wäre.

Der Grund des Konfliktes.

Die Zusammenstöße mit den Alten waren unvermeidlich. Nicht deswegen, weil zwei verschiedene Konzeptionen der revolutionären Bewegung von vornherein gegeben waren, nein, das war in jener Periode noch nicht der Fall. Aber schon die bloße Einstellung zu den politischen Ereignissen, zu den organisatorischen und überhaupt zu den praktischen Aufgaben, folglich auch zu der ganzen herannahenden Revolution, war grundverschieden. Die Alten hatten zu jener Zeit bereits 20 Jahre Emigration hinter sich. Für sie waren die „Iskra" und die „Sarja" in erster Linie literarische Unternehmungen. Für Lenin aber waren sie ein unmittelbares Werkzeug des revolutionären Handelns.

In Plechanow war, wie sich einige Jahre später (1904 bis 1906) und noch tragischer in der Epoche des imperialistischen Krieges herausstellte, der revolutionäre Skeptiker tief verwurzelt; er blickte auf Lenins Zielstrebigkeit von oben herab und hatte dafür mehr als eine herablassende, giftige Satire bereit. Axelrod stand, wie bereits gesagt, den Fragen der Taktik näher, aber seine Gedanken verharrten in dem Rahmen der Fragen, die sich in der Vorbereitung der Vorbereitung erschöpften.

Axelrod analysierte häufig mit der größten Kunstfertigkeit die Tendenzen und Schattierungen innerhalb der verschiedenen Gruppierungen der revolutionären Intelligenz. Er war ein Homöopath der vorrevolutionären Politik. Seine Methoden und seine Handlungsweise trugen einen Charakter, der an die Apotheke und an das Laboratorium erinnerte. Die Größen, mit denen er operierte, waren immer sehr minimalen Umfanges. Es waren die kleinsten Münzen, die kleinsten Gewichte, die er auf die Wage zu legen hatte. Nicht von ungefähr wurde Axelrod von L. G. Deutsch als ein Spinoza-Typ bezeichnet, und nicht umsonst war Spinoza ein Diamantenschleifer: diese Arbeit erfordert ja bekanntlich ein Vergrößerungsglas. Lenin aber nahm die Ereignisse und die Beziehungen im Großen, er lernte es, mit Gedanken soziale Felsblöcke zu umspannen und wurde so zum Echo der herannahenden Revolution, die sowohl Plechanow als auch Axelrod völlig überrumpelte.

Von den Alten fühlte vielleicht Wera Iwanowna Sassulitsch das Herannahen der Revolution am unmittelbarsten. Ihre lebendige, jeglicher Pedanterie fremde, intuitionsgesättigte historische Bildung half ihr in dieser Hinsicht. Sie fühlte aber die Revolution wie eine alte Radikale. Sie war bis zum Innersten ihrer Seele überzeugt, dass sämtliche Elemente der Revolution bereits vorhanden seien, außer dem „echten", selbstsicheren Liberalismus, der die Führung in seine Hand nehmen müsste, und sie meinte, dass wir Marxisten durch unsere voreilige Kritik und „Hetze" nur die Liberalen einschüchterten und so im Grunde genommen eine konterrevolutionäre Rolle spielten.

In der Presse hat Wera Iwanowna das freilich nicht gesagt. Auch in persönlichen Unterhaltungen sagte sie nicht immer alles. Das war nichtsdestoweniger ihre innerste Überzeugung. Darin lag die Quelle ihrer Gegensätzlichkeit zu Paul (Axelrod), den sie als Doktrinär betrachtete. In der Tat vertrat Axelrod im Rahmen der taktischen Homöopathie unweigerlich die revolutionäre Hegemonie der Sozialdemokratie. Er lehnte es nur ab, diesen Gesichtspunkt aus der Sprache der Gruppen und Kreise in die Sprache der Klassen zu übertragen, als die Klassen in Bewegung gerieten. Das war der Punkt, wo sich der Abgrund zwischen ihm und Lenin auftat.

Lenins Sendung.

Lenin kam ins Ausland nicht als Marxist „an und für sich", nicht zum Zwecke der literarisch-revolutionären Tätigkeit „an und für sich", nicht einfach, um die zwanzigjährige Arbeit der Gruppe „Oswoboschdenije Truda" weiterzuführen. Nein, er kam als potentieller Führer. Und nicht als Führer „an und für sich", sondern als Führer jener Revolution, die im Anschwellen begriffen war, und die er spürte und empfand. Er kam, um in kürzester Frist die gedankliche Takelage und den Organisationsapparat für die Revolution aufzubauen. Und nicht in dem Sinne spreche ich von seiner ungestümen und zugleich disziplinierten Zielstrebigkeit, dass er, Lenin, bestrebt war, dem „Endziel" zum Triumph zu verhelfen – nein, das wäre zu allgemein und zu leer –, sondern in dem konkreten, geraden, unmittelbaren Sinne, dass er sich das praktische Ziel gesteckt hatte, das Kommen der Revolution zu beschleunigen und ihren Sieg sicherzustellen.

Als Lenin in seiner Arbeit im Ausland sich Schulter an Schulter mit Plechanow sah, als das entschwand, was die Deutschen das Pathos der Distanz nennen, – da konnte es nicht ausbleiben, dass dem Schüler physisch klar wurde, dass er in jener Frage, die er für den gegebenen Zeitpunkt als Grundfrage betrachtete, nicht nur beim Lehrer nichts zu lernen hatte, sondern, dass der abwartende, skeptische Lehrer vielmehr fähig war, durch seine Autorität die rettende Arbeit zu bremsen und die jüngeren Mitarbeiter ihm, Lenin, abtrünnig zu machen. Daraus ergab sich die wachsame Sorge Lenins in der Redaktion; daraus folgten die Kombinationen des Sieben- und Drei-Männer-Kollegiums, daraus entstand das Bestreben, Plechanow von der Gruppe „Oswoboschdenije Truda" zu trennen, ein leitendes Triumvirat zu bilden, in dem Lenin stets Plechanow in den Fragen der revolutionären Theorie und Martow in den Fragen der revolutionären Politik auf seiner Seite hätte. Die Personen-Kombinationen wechselten, aber die Vorwegnahme blieb im Grunde unverändert, bis sie schließlich zu Fleisch und Blut wurde.

Nach dem zweiten Parteitag.

Auf dem zweiten Parteitag eroberte Lenin Plechanow, aber er war ein unzuverlässiger Bundesgenosse; gleichzeitig jedoch verlor er Martow und – für immer. Plechanow hatte anscheinend auf dem zweiten Parteitag etwas vorausgeahnt. Er sagte wenigstens damals zu Axelrod als Antwort auf seine bitteren und fragenden Vorwürfe wegen des Plechanowschen Bundes mit Lenin: „Aus solchem Teig werden Robespierres gemacht."

Ich weiß nicht, ob dieser bemerkenswerte Satz in der Presse jemals zitiert worden ist, und ob er in der Partei überhaupt bekannt ist; für seine Richtigkeit kann ich mich aber verbürgen. „Aus solchem Teig werden Robespierres gemacht!" – „und sogar etwas viel Größeres, Georgij Walentinowitsch!" antwortete die Geschichte. Diese geschichtliche Offenbarung scheint aber im Bewusstsein von Plechanow sehr schnell verblasst zu sein. Er brach mit Lenin und kehrte zum Skeptizismus und zu seinen bissigen Witzen zurück, deren Bissigkeit übrigens der Zeit nicht stand hielt.

Bei der „sektiererischen" Vorwegnahme ging es nicht nur um Plechanow und nicht nur um die Alten. Der zweite Parteitag bedeutete, allgemein genommen, den Abschluss eines gewissen Anfangsstadiums der vorbereitenden Periode. Der Umstand, dass die Organisation der „Iskra" auf dem Parteitag ganz unerwartet in fast zwei gleiche Teile gespalten wurde, spricht an und für sich dafür, dass in jenem Anfangsstadium über vieles noch keine volle Klarheit geschaffen war. Die Klassenpartei hatte erst angefangen, die Schale des intellektuellen Radikalismus zu durchbrechen. Der Zustrom der Intelligenz zum Marxismus hatte noch nicht aufgehört. Die Studentenbewegung suchte in ihrem linken Flügel Anschluss an die „Iskra". Unter der intellektuellen Jugend, besonders im Ausland, waren die Gruppen der „Iskra"-Freunde zahlreich vertreten. Doch gehörte das alles noch zur grünen Jugend und war meistens recht unsicher. Zur „Iskra" gehörende Studentinnen stellten dem Vortragenden einmal die Frage: „Darf eine ,Iskra'-Anhängerin einen Marineoffizier heiraten?"

Auf dem zweiten Parteitag waren nur drei Arbeiter erschienen, und auch diese waren nicht ohne Mühe herbeigeschafft worden. Die „Iskra" sammelte und erzog einerseits einen Stamm von Berufsrevolutionären und zog die jüngeren und heroisch veranlagten Arbeiter unter ihre Fahne. Andererseits aber passierten erhebliche Gruppen der Intelligenz die „Iskra" nur als Durchgangsstation, um bald danach zu „Oswoboschdenije"-Anhängern zu verblassen.

Die „Iskra" hatte Erfolg nicht nur als marxistisches Organ der im Aufbau begriffenen proletarischen Partei, sondern auch einfach als eine kampfesfrohe, politisch äußerst linke Zeitschrift, die ein scharfes Wort nicht scheute. Die radikaleren Elemente der Intelligenz erklärten sich in der ersten impulsiven Aufwallung bereit, unter der Fahne der „Iskra" für die Freiheit zu kämpfen. Außerdem hatte jene, für schrittweise Entwicklung eintretende Tendenz, mit ihrem schulmeisternden Unglauben an die Kraft des Proletariats, die früher im „Ökonomismus" ihren Ausdruck fand, inzwischen Zeit gehabt, sich in die Farben der „Iskra", und zwar ziemlich aufrichtig, zu kleiden, ohne ihr Wesen geändert zu haben. Der glänzende Sieg der „Iskra" war schließlich bedeutend weitgehender als ihre realen Eroberungen.

Wie weit Lenin sich noch vor dem zweiten Parteitag darüber ganz klar wurde, möchte ich hier nicht beurteilen. Jedenfalls war er sich darüber klarer als sonst jemand. Unter dem Stimmungsallerlei, das sich um die Fahne der „Iskra" gruppierte und dessen Reflexe auch in der Redaktion zu finden waren, repräsentierte nur Lenin den morgigen Tag mit all seinen harten Aufgaben, mit seinen brutalen Konflikten und unzählbaren Opfern. Daher seine gespannte Wachsamkeit und sein kämpferischer Argwohn. Daher die klare Formulierung der organisatorischen Fragen, wie sie in der Frage über die Parteizugehörigkeit (Artikel 1 der Sagung)8 ihren symbolischen Ausdruck fand. Es ist durchaus natürlich, dass auf dem zweiten Parteitag, der sich anschickte, die Früchte der ideellen Siege der „Iskra" zu ernten, gerade Lenin eine neue Gliederung, eine neue, anspruchsvollere, strengere Auslese in die Wege leitete.

Um sich zu einem solchen Schritt zu entschließen, mit der Hälfte des Parteitages gegen sich, mit Plechanow als unzuverlässigem Halbverbündeten und mit allen übrigen Mitgliedern der Redaktion in offener und entschiedener Gegnerschaft, um sich unter solchen Umständen zu einer neuen Auslese zu entschließen, musste man schon einen außerordentlichen Glauben nicht nur in die Sache, sondern auch in seine eigene Kraft besitzen. Diesen Glauben gewann Lenin durch die in der Erfahrung erprobte Selbsteinschägung, die ihm aus der gemeinsamen Arbeit mit den „Lehrern" erwuchs, und aus dem ersten Wetterleuchten der Kämpfe, die das zukünftige Spaltungsgewitter ankündigten.

Die ganze, kraftvolle Zielstrebigkeit Lenins gehörte dazu, ein solches Unternehmen anzufangen und bis zum Ende zu führen. Lenin zog unermüdlich die Sehne an bis zum Reißen und fühlte gleichzeitig vorsichtig mit dem Finger, ob die Spannung nicht irgendwo nachzulassen drohte. – „Man darf den Bogen nicht überspannen, sonst bricht er!" rief man von allen Seiten. „Er wird nicht brechen", antwortete der Meister. – „Unser Bogen ist aus zähem proletarischem Material; man muss die Parteisehne mehr und mehr anspannen; denn der schwere Pfeil hat weit zu fliegen."

1 Eine ehemalige Richtung der russischen Arbeiterbewegung, die mit dem Syndikalismus verwandt war, aber in Russland wenig Anklang fand.

2 In der 2. Auflage steht hier irrtümlich „Lenin“ statt „Bernstein“

3 Im Osten Londons, wo die russischen Einwanderer leben.

4Ist hier Max Beer gemeint?

5 Ein technischer Ausdruck aus der unterirdischen Praxis der Revolution. Bedeutet, dass die Polizei einem konspirativen Kreis auf die Spur gekommen ist und Verhaftungen vorgenommen hat.

6 Richtung der älteren russischen Sozialdemokraten, die für den wirtschaftlichen, d. h. den gewerkschaftlichen, aber nicht für den politischen Kampf der Arbeiter eintrat.

7In der zweiten Auflage steht irrtümlich „ersten“ statt „zweiten“

8 Lenin und Martow gingen in der Frage des Artikels 1 der Satzung auseinander.

Lenin: „Als Mitglied der Partei gilt jeder, der ihr Programm anerkennt und die Partei sowohl durch materielle Mittel als auch durch persönliche Mitarbeit in einer von den Parteiorganisationen unterstützt.“

Martow: „Als Mitglied der Partei gilt jeder, der ihr Programm anerkennt, die Partei durch materielle Mittel unterstützt und ihr regelmäßig persönliche Beihilfe erweist unter der Leitung einer ihrer Organisationen.“

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