Regierungsarbeit

Regierungsarbeit.

Die Macht in Petersburg war erobert. Nun musste eine Regierung gebildet werden.

Wie sollen wir sie nennen?" überlegte Lenin. „Nur nicht Minister, das ist eine scheußliche, abgeschabte Bezeichnung."

Man könnte sie als Kommissare bezeichnen," meinte ich, „aber es gibt jetzt viel zu viel Kommissare. Vielleicht Oberkommissare? … Nein, ,Ober' klingt schlecht. Könnte man nicht ,Volkskommissare' sagen?"

Volkskommissare? Das würde vielleicht passen. Und wie soll die Regierung als Ganzes heißen?"

Der Rat der Volkskommissare?"

Rat der Volkskommissare," griff Lenin den Gedanken auf, „das ist ausgezeichnet; das riecht nach Revolution." Den legten Satz habe ich wörtlich behalten.*

Hinter den Kulissen wurden mit dem „WIKSCHEL" (dem Allrussischen Exekutivkomitee der Eisenbahner), mit den linken Sozialrevolutionären und anderen schleppende Verhandlungen geführt. Über dieses Kapitel kann ich indessen nur wenig berichten. Ich kann mich nur der wütenden Entrüstung entsinnen, die die unverschämten Ansprüche des WIKSCHELs bei Lenin auslösten, und seiner nicht minder großen Empörung über diejenigen von uns, denen diese Ansprüche imponierten. Die Verhandlungen wurden von uns indessen fortgesetzt, da mit dem WIKSCHEL vorläufig noch gerechnet werden musste.

Auf die Initiative des Genossen Kamenew hin wurde die von Kerenski eingeführte Todesstrafe für Soldaten abgeschafft. Ich kann mich jetzt nicht mehr genau erinnern, bei welcher Körperschaft Kamenew seinen Antrag stellte; es wird wahrscheinlich beim Militärischen Revolutionskomitee und wahrscheinlich schon am Morgen des 25. Oktober gewesen sein. Ich weiß nur noch, dass es in meiner Anwesenheit geschah und dass ich dem Antrag nicht widersprach. Lenin war noch nicht da. Der Vorgang ereignete sich anscheinend vor seinem Eintreffen im Smolny. Als er von dieser ersten gesetzgeberischen Handlung erfuhr, war er über alle Maßen empört.

Das ist Unsinn", wiederholte er mehrfach. „Wie kann man eine Revolution ohne Erschießungen durchführen? Glauben Sie denn, Sie würden mit allen Feinden fertig werden, wenn Sie sich entwaffnen? Welche Repressivmaßnahmen bleiben dann noch übrig? Gefängnis? Wer achtet darauf während des Bürgerkrieges, wenn jede Partei zu siegen hofft?"

Kamenew versuchte zu argumentieren, dass es sich nur um die Abschaffung der Todesstrafe handele, die Kerenski für die desertierenden Soldaten eingeführt hatte. Lenin blieb indessen unversöhnlich. Für ihn war es klar, dass hinter diesem Dekret eine wenig überlegte Haltung gegenüber den ungeheuren Schwierigkeiten steckte, denen wir entgegengingen.

Es ist ein Fehler," wiederholte er, „eine unzulässige Schwäche, eine pazifistische Illusion" usw. Er schlug vor, das Dekret sofort zurückzuziehen. Ihm wurde darauf erwidert, dass dieser Schritt einen äußerst ungünstigen Eindruck hervorrufen würde. Jemand bemerkte: Besser schon, einfach zu erschießen, wenn es klar werden sollte, dass es keinen anderen Ausweg gibt. Man ließ es schließlich hierbei bewenden.

Die bürgerlichen, Sozialrevolutionären und menschewistischen Zeitungen produzierten sich gleich von den ersten Tagen des Umsturzes an als ein ziemlich einträchtiger Chor von Wölfen, Schakalen und tollwütigen Hunden. Nur die „Nowoje Wremja"1 versuchte, ihren Wedel zwischen den Hinterfüßen verbergend, einen „loyalen" Ton anzuschlagen.

Werden wir denn wirklich diese Hundsfötter nicht zähmen?" fragte Wladimir Iljitsch bei jeder Gelegenheit. „Mein lieber Herrgott, was ist denn das für eine Diktatur!"

Die Zeitungen hatten sich besonders in Lenins Parole „Raubt das Geraubte!" eingebissen und servierten diese Worte in jeglicher Aufmachung: in Leitartikeln, Versen, Feuilletons.

Sie haben sich aber tüchtig in dieses ,Raubt das Geraubte' eingefressen", bemerkte Lenin einmal in scherzhafter Verzweiflung.

Wessen Worte sind es denn?" fragte ich. „Oder sind sie erfunden?"

Aber nein, ich habe es tatsächlich irgendwie gesagt," erwiderte Lenin, „gesagt und vergessen, sie machen aber daraus ein ganzes Programm." Und er fuchtelte humorvoll mit dem Arm.

Lenins Regierungston.

Jeder, der etwas von Lenin kennt, weiß, dass die Fähigkeit, jedes Mal die Sache von der Form zu trennen, eine seiner stärksten Seiten war. Es schadet aber keineswegs, zu unterstreichen, dass er auch die Form außerordentlich schätzte in Erkenntnis der Macht, die das Formale über die Geister ausübt; darum gestaltete er das Formale zu einem Faktor von materiellem Wert.

Von dem Augenblick an, wo die Provisorische Regierung als abgesetzt erklärt worden war, trat Lenin systematisch, im Großen wie im Kleinen, als Regierung auf. Wir hatten noch gar keinen Apparat; eine Verbindung mit der Provinz bestand nicht; die Beamten sabotierten; der WIKSCHEL störte die telegraphischen Unterredungen mit Moskau; es gab kein Geld und auch keine Armee. Lenin wirkte aber auf allen Fronten durch Verfügungen, Dekrete, Befehle, die er im Namen der Regierung ergehen ließ.

Es versteht sich von selber, dass er mehr denn sonst jemand weit davon entfernt war, ein abergläubischer Verehrer formaler Beschwörungen zu sein. Er war sich zu klar dessen bewusst, dass unsere Kraft in jenem Apparat lag, der von unten, aus den Petersburger Bezirken, aufgebaut wurde. Um aber die von oben, aus den leer gewordenen oder sabotierenden Kanzleien fließende Arbeit mit der schöpferischen Tätigkeit, die sich von unten her entwickelte, in ein Gefährt einzuspannen, war jener Ton des formalen Nachdrucks notwendig, der Ton einer Regierung, die heute allerdings noch im luftleeren Raum hin und her taumelt, morgen oder übermorgen aber eine Kraft werden wird und deshalb bereits heute als Kraft auftritt. Dieser Formalismus war auch nötig, um unsere eigene Brüderschaft zu disziplinieren. Über den brodelnden Elementen, über den revolutionären Improvisationen der vorstürmenden proletarischen Gruppen spannten sich allmählich die Fäden des Regierungsapparates.

Lenins Arbeitszimmer und mein eigenes lagen an entgegengesetzten Enden des Smolny. Der uns verbindende, oder richtiger gesagt: trennende Korridor war so lang, dass Wladimir Iljitsch scherzhaft meinte, wir sollten einen Fahrradverkehr einrichten. Wir waren telefonisch miteinander verbunden, Matrosen liefen häufig zu mir herein und brachten wichtige Zettel von Lenin; auf kleinen Stückchen Papier standen zwei, drei kräftige Sätze, jeder pointiert, mit doppelter und dreifacher Unterstreichung der wesentlichsten Worte und einer abschließenden, ebenso pointierten Frage. Mehrmals am Tage durchlief ich den endlosen Korridor, in dem ein ameisenähnlicher Betrieb herrschte, um zur Beratung in Lenins Zimmer zu eilen. Aktuelle Fragen standen im Brennpunkt unseres Interesses. Die Sorgen des Ministeriums des Auswärtigen überließ ich ganz den Genossen Markin und Salkind. Ich selber beschränkte mich auf die Abfassung einiger agitatorischer Noten und auf die wenig zahlreichen Empfänge.

Die deutsche Offensive stellte uns vor die schwierigsten Aufgaben, und wir hatten keine Mittel zu ihrer Lösung und auch nicht die geringste Ahnung, solche Mittel zu finden oder zu schaffen. Wir begannen mit einem Aufruf. Der von mir verfasste Entwurf: „Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr!" wurde gemeinsam mit den linken Sozialrevolutionären beraten. Diese gerieten, als Rekruten des Internationalismus, in Verlegenheit über den Titel des Aufrufs. Lenin dagegen war sehr zufrieden: „Das zeigt sofort eine Schwenkung um 180 Grad in unserer Beziehung zur Vaterlandsverteidigung. So muss es auch sein!" In einem der abschließenden Punkte des Entwurfes hieß es, dass jeder, der dem Feinde Beistand leistet, an Ort und Stelle vernichtet werden wird. Der linke Sozialrevolutionär Steinberg, den ein sonderbarer Wind in die Revolution getragen und sogar bis zum Rat der Volkskommissare empor geweht hatte, opponierte gegen diese brutale Drohung, da sie das „Pathos des Aufrufes" beeinträchtige.

Im Gegenteil," rief Lenin, „gerade darin liegt das revolutionäre Pathos." (Er verlegte den Ton ironisch auf die zweite Silbe.) „Glauben Sie denn, dass wir ohne den brutalsten revolutionären Terror als Sieger hervorgehen werden?"

Lenins Beziehungen zum Terror.

Das war die Periode, wo Lenin bei jeder passenden Gelegenheit die Idee von der Unvermeidbarkeit des Terrors in unsere Köpfe einzuhämmern bemüht war. Jede Äußerung von Gutherzigkeit, Schwärmerei, Lässigkeit – und von all dem gab es übergenug – empörte ihn; nicht so sehr an und für sich betrachtet, sondern vielmehr als Beweis dessen, dass selbst die Spitzen der Arbeiterklasse sich nicht genügend Rechnung ablegten von der ungeheuerlichen Schwierigkeit der Aufgaben, die nur durch Maßnahmen bewältigt werden konnten, die von einer ebenso ungeheuren Energie getragen sind.

Ihnen", sprach er von den Feinden, „droht die Gefahr, alles zu verlieren. Zur gleichen Zeit aber haben sie Hunderttausende von Leuten, die durch die Schule des Krieges gegangen sind, satte, mutige, zu allem bereite Offiziere, Offiziersanwärter, Bourgeois- und Gutsbesitzersöhnchen, Polizeibeamte, Kulaken. Und unsere, mit Verlaub gesagt, ,Revolutionäre' bilden sich ein, dass wir die Revolution gütlich-gemütlich durchführen können. Wo haben denn die gelernt? Was verstehen sie denn unter Diktatur? Was für eine Diktatur kann es schon werden, wenn man ein Waschlappen ist?"

Solche Ergüsse konnte man zehnmal am Tage hören, und sie waren immer auf irgend einen der Anwesenden gezielt, der des „Pazifismus" verdächtig erschien. Lenin ließ keine einzige Gelegenheit vorüber, wenn man in seinem Beisein auf die Revolution oder die Diktatur zu sprechen kam, insbesondere, wenn dies in den Sitzungen des Rats der Volkskommissare oder in Anwesenheit von linken Sozialrevolutionären oder wankelmütigen Kommunisten der Fall war, ohne dass er sofort bemerkte: „Aber wo haben wir denn eine Diktatur? Zeigen Sie sie doch! Einen Brei haben wir, aber keine Diktatur." Das Wort „Brei" benutzte er gern. „Wenn wir nicht einen weißgardistischen Saboteur über den Haufen schießen können, was ist denn das für eine große Revolution? Schauen Sie mal, was diese bürgerliche Meute bei uns in den Zeitungen schreibt! Wo ist da die Diktatur? Nichts als bloßes Geschwätz und Brei ."

Diese Reden gaben seine wirkliche Stimmung wieder, obwohl sie zu gleicher Zeit einen betont gewollten Charakter trugen: Lenin hämmerte – seiner Methode treu – das Bewusstsein der Notwendigkeit besonders harter Maßnahmen um der Rettung der Revolution willen in die Köpfe ein.

Die Kraftlosigkeit des neuen Staatsapparates kam in dem Augenblick der deutschen Offensive besonders krass zum Vorschein. „Gestern saßen wir noch fest im Sattel," sagte Lenin unter vier Augen, „und heute halten wir uns nur noch an der Mähne. Das ist aber auch eine Lehre! Diese Lehre wird auf unsere verdammte Nachlässigkeit wirken müssen. Schaffe Ordnung, fasse die Sache an, wie es sich gehört, wenn du kein Sklave sein willst! Es wird eine gute Lehre sein, wenn … wenn nur die Deutschen und die Weißen es inzwischen nicht fertig bringen, uns zu erledigen."

Was wird sein," fragte mich einmal Wladimir Iljitsch ganz unerwartet, „wenn die Weißgardisten uns beide niedermachen? Werden dann Bucharin und Swerdlow es schaffen?"

Vielleicht wird man uns auch nicht umbringen", antwortete ich scherzend.

Der Teufel weiß es!" meinte Lenin und lachte auch selber darüber. Die Unterhaltung fand damit ihren Abschluss.

Die alten Offiziere.

In einem der Räume des Smolny tagte der Stab. Das war die chaotischste von allen Behörden. Man konnte niemals herausfinden, wer dort verfügte, wer zu befehlen hatte und worüber. Hier wurde zum ersten Mal, zunächst noch ganz allgemein, die Frage der Kriegsspezialisten zur Debatte gestellt. Wir hatten in dieser Beziehung bereits eine gewisse Erfahrung aus dem Kampf mit Krasnow, in dem wir den Oberst Murawjew zum Befehlshaber bestellten, er aber seinerseits die Leitung der militärischen Operationen bei Pulkow dem Oberst Walden übertrug. Murawjow waren vier Matrosen und ein Soldat mit der Instruktion beigegeben, tüchtig aufzupassen und die Hand am Revolver zu halten. Das war das Embryo des Kommissarensystems. Diese Erfahrung wurde auch in gewissem Maße bei der Neubildung des Obersten Kriegsrats zugrunde gelegt.

Ohne seriöse und erfahrene Militärs werden wir aus diesem Chaos nicht herauskommen!" sagte ich Wladimir Iljitsch jedes Mal nach meinem Besuch im Stab.

Das stimmt anscheinend. Aber werden sie uns auch nicht verraten?"

Stellen wir jedem von ihnen einen Kommissar zur Seite."

Noch besser zwei," rief Lenin, „und kräftige Kerle! Es kann ja nicht möglich sein, dass wir keine Kommunisten mit einer kräftigen Faust hätten."

So entstand der Aufbau des Obersten Kriegsrats.

Die Übersiedlung nach Moskau.

Die Frage der Überführung der Regierung nach Moskau rief keine geringen Reibungen hervor. Es hieß, das sähe wie eine Fahnenflucht aus Petersburg aus, dem die Oktoberrevolution ihre Geburt verdankte. Die Arbeiter, meinte man, würden das nicht verstehen. Smolny sei zum Kennwort der Sowjetmacht geworden, und jetzt wolle man es liquidieren usw., so würde man sagen.

Lenin geriet bei der Erörterung dieser Fragen buchstäblich außer sich: „Kann man denn mit solchen sentimentalen Kleinigkeiten die Frage des weiteren Schicksals der Revolution erledigen? Wenn die Deutschen mit einem Sprung Petersburg erobern und uns darin gefangen nehmen, dann ist die Revolution vernichtet. Wenn aber die Regierung sich in Moskau befindet, dann wäre Petersburgs Fall nur ein einzelner, obwohl schwerer Schlag. Wie können Sie das nicht sehen, nicht begreifen? Mehr noch, wenn wir unter den gegenwärtigen Bedingungen in Petersburg bleiben, dann steigern wir die Kriegsgefahr für die Stadt, da wir dadurch die Deutschen zur Eroberung Petersburgs direkt anspornen. Wenn aber die Regierung in Moskau sitzt, dann müsste sich die Versuchung, von Petersburg Besitz zu ergreifen, außerordentlich verringern: Was kann das schon für ein großer Vorteil sein, eine hungernde revolutionäre Stadt zu besegen, wenn diese Besegung nicht das Schicksal der Revolution und des Friedens mit einem Schlage zu entscheiden vermag? Was plaudern Sie von der symbolischen Bedeutung des Smolny! Smolny ist deshalb Smolny, weil wir im Smolny sitzen. Wenn wir im Kreml sein werden, dann wird Eure ganze Symbolik auf den Kreml übergehen."

Die Opposition wurde schließlich gebrochen. Die Regierung siedelte nach Moskau über. Ich blieb noch einige Zeit in Petersburg, ich glaube, in der Eigenschaft des Vorsitzenden des Petersburger Militärischen Revolutionskomitees. Nach meinem Eintreffen in Moskau fand ich Wladimir Iljitsch im Kreml, in dem sogenannten Kavaliersflügel. „Brei", das heißt Unordnung und Chaos, gab es hier keinesfalls weniger als im Smolny. Wladimir Iljitsch schimpfte gutmütig auf die Moskauer, die von einem großen Lokaldünkel durchdrungen waren, und straffte allmählich, Schritt für Schritt die Zügel.

Die Regierung, die recht häufig in einzelnen Teilen erneuert wurde, hatte inzwischen eine fieberhafte Dekret-Tätigkeit entfaltet. Jede Sitzung des Rats der Volkskommissare in der ersten Periode bot das Bild der größten gesetzgeberischen Improvisation.

Alles musste man von Anfang an beginnen, alles in einem leeren Raum neu aufbauen. „Präzedenzfälle" konnte man nicht finden, weil die Geschichte sie nicht vorrätig hatte, sogar die einfachsten Auskünfte konnte man des Zeitmangels wegen nicht einziehen. Die Fragen wurden nicht anders als auf dem Wege der revolutionären Dringlichkeit gestellt, das heißt, auf dem Wege des unglaublichsten Chaos. Das Große wurde auf bizarre Weise mit dem Kleinen durcheinandergewürfelt. Nebensächliche praktische Aufgaben führten zu den kompliziertesten prinzipiellen Fragen.

Nicht alle, bei weitem nicht alle Dekrete waren untereinander koordiniert, und Lenin ironisierte mehrfach sogar öffentlich die Unausgeglichenheit unserer Dekret-Schöpfungen. Diese Widersprüche, wie akut sie auch vom Standpunkt der praktischen Augenblicksaufgaben gewesen sein mögen, versanken aber letzten Endes in jener Arbeit des revolutionären Denkens, das durch eine gesetzgeberische Linie neue Wege für eine neue Welt der menschlichen Beziehungen absteckte.

Lenins Arbeitsweise.

Es erübrigt sich, zu sagen, dass die Leitung dieser ganzen Arbeit bei Lenin lag. Er präsidierte unermüdlich fünf und sechs Stunden hinter einander im Rat der Volkskommissare, dessen Sitzungen in der ersten Periode täglich stattfanden. Er ging von einer Frage zur anderen über, leitete die Debatten und bemaß die Redezeit der Redner streng nach der Taschenuhr, die später durch einen Sekundenmesser ersetzt wurde.

Die Fragen wurden in der Regel ohne Vorbereitung und stets, wie gesagt, auf dem Wege der Dringlichkeit gestellt. Sehr häufig war nicht einmal der Kernpunkt der Frage den Mitgliedern des Rats der Volkskommissare und dem Vorsitzenden vor Beginn der Debatte bekannt. Die Debatte aber war stets sehr kurz, für den einleitenden Vortrag wurden nicht mehr als fünf bis zehn Minuten gewährt. Und trotzdem verstand es der Vorsitzende, die Debatte auf das richtige Gleis zu schieben.

Wenn die Sitzung sehr viele Teilnehmer hatte, darunter Sachverständige und überhaupt unbekannte Personen, dann gebrauchte Wladimir Iljitsch seine beliebte Geste: die rechte Hand schirmartig vor die Stirn haltend, blickte er durch die Finger auf den Vortragenden und auf die Mitglieder der Sitzung überhaupt. Entgegen dem Sinne des Ausdrucks: „durch die Finger blicken", schaute er dabei sehr scharf und aufmerksam, das erspähend, was er brauchte.

Auf einem schmalen Papierstreifen, mit der kleinsten Schrift (Ökonomie!), wurde die Rednerliste geführt, das eine Auge auf die Uhr gerichtet, die von Zeit zu Zeit über den Tisch gezeigt wurde, um den Redner zu erinnern, dass er seine Ausführungen beenden müsse. Zur gleichen Zeit machte der Vorsitzende rasch auf dem Papier Notizen über die resolutionsmäßigen Schlussfolgerungen aus den Argumenten, die er in der Debatte für bedeutsam hielt.

Gewöhnlich schickte Lenin der Zeitersparnis wegen den Versammlungsteilnehmern kurze Zettel, auf denen er die eine oder andere Auskunft verlangte. Diese Zettel bildeten ein sehr umfangreiches und sehr interessantes briefliches Element in der Technik der Sowjet-Gesetzgebung. Der größte Teil der Zettel ist leider abhanden gekommen, da die Antwort sehr häufig auf der Rückseite erfolgte und der Zettel von dem Vorsitzenden sofort sorgfältig vernichtet wurde. Zu einem gewissen Zeitpunkt gab Lenin seine Resolutionspunkte bekannt. Sie waren stets mit gewollter Schärfe und pedantisch gründlich formuliert – um zu unterstreichen, hervorzuheben, nicht verwischen zu lassen –, worauf die Debatte entweder ganz aufhörte oder aber in das konkrete Gleis praktischer Vorschläge und Ergänzungen hinüber glitt Die Leninschen „Punkte" lagen dann meist dem Dekret zugrunde.

Eine ungeheure schöpferische Phantasie war neben anderen Eigenschaften erforderlich, um diese Arbeit zu leiten. Dieses Wort könnte auf den ersten Blick unangebracht erscheinen, es entspricht aber nichtsdestoweniger dem Kern der Sache. Die menschliche Phantasie kann verschiedener Art sein, sie ist ebenso unentbehrlich für den Ingenieur und Konstrukteur wie für den ungezügelten Romantiker. Eine der wertvollsten Arten der Phantasie ist die Fähigkeit, sich Leute, Dinge und Erscheinungen so vorzustellen, wie sie in Wirklichkeit sind, selbst wenn man sie niemals gesehen hat. Auf Grund seiner ganzen Lebenserfahrung und theoretischen Überzeugung einzelne, im Fluge aufgegriffene, kleine Tatsachen zu verbinden, sie durchzuarbeiten, in Einklang zu bringen, durch irgendwelche unformulierte Analogiegesetze zu ergänzen und auf diese Weise ein gewisses Gebiet des menschlichen Lebens in seiner ganzen Gegebenheit zu rekonstruieren, – das ist die Phantasie, deren der Gesetzgeber, der Administrator, der Führer namentlich in der Epoche der Revolution bedarf. Lenins Stärke war in enormem Maße die Stärke der realistischen Phantasie.

Lenins Zielstrebigkeit.

Lenins Zielstrebigkeit war stets konkret, anders wäre sie übrigens auch keine echte Zielstrebigkeit. Lenin hat, ich glaube zum ersten Male in der „Iskra", den Gedanken geäußert, dass man verstehen müsse, in der komplizierten Kette der politischen Handlung das für den gegebenen Augenblick zentrale Glied herauszufinden, sich daran zu halten und so der ganzen Kette die Richtung zu geben.

Später kehrte Lenin wiederholt zu diesem Gedanken zurück, bisweilen auch zu dem Bilde von der Kette und dem Glied. Diese Methode schien bei ihm aus der Sphäre des Bewusstseins in das Unterbewusstsein übergegangen zu sein, sodass sie letzten Endes zu seiner zweiten Natur wurde. In den kritischsten Augenblicken, wenn es sich um eine verantwortungsvolle oder riskante taktische Schwenkung handelte, fegte Lenin gleichsam alles Nebensächliche oder Aufschiebbare fort.

Das ist aber nicht in dem Sinne zu verstehen, dass er die zentrale Aufgabe nur in ihren Grundzügen nahm, ohne die Einzelheiten zu beachten. Im Gegenteil. Die Aufgabe, die er als dringend erachtete, stellte er ganz konkret, behandelte sie von allen Seiten, durchdachte die Einzelheiten – bisweilen selbst die allernebensächlichsten –, suchte einen Anlass für immer neue und neue Anregungen und Impulse, erinnerte, unterstrich, kontrollierte und drängte. Das alles war aber jenem „Glied" untergeordnet, das er als das entscheidende im gegebenen Moment betrachtete.

Er schob dabei nicht nur alles, was unmittelbar oder mittelbar der zentralen Aufgabe zuwider lief, beiseite, sondern auch das, was nur geeignet war, die Aufmerksamkeit zu zerstreuen und die Spannung zu schwächen. In den kritischsten Augenblicken wurde er gleichermaßen taub und blind allem gegenüber, was nicht in den Rahmen des ihn jeweilig beherrschenden Interesses gehörte. Schon das bloße Aufrollen von anderen, sozusagen neutralen Fragen wurde von ihm als Gefahr empfunden, die er instinktiv abwehrte.

War die kritische Etappe glücklich überwunden, dann rief Lenin zu wiederholten Malen aus dem einen oder anderen Anlass aus: „Wir haben aber ganz vergessen, das und das zu tun .… Wir haben aber hier einen Bock geschossen, als wir uns mit der Hauptfrage befassten ." Und wenn man ihm manchmal entgegnete: „Aber diese Frage wurde ja gestellt und genau derselbe Vorschlag wurde eingebracht; Sie wollten aber damals nichts davon hören." – „Wirklich? ich kann mich gar nicht mehr entsinnen", antwortete er mit einem schlauen, etwas „schuldbewussten" Lachen und einer besonderen, ihm eigenen Handbewegung von oben nach unten, die besagen sollte: Alles kann man wohl nicht richtig machen. Dieser „Mangel" war nur die Kehrseite seiner Fähigkeiten zur größten inneren Mobilisierung aller Kräfte, und gerade diese Fähigkeit hat ihn zum größten Revolutionär aller Zeiten gemacht.

Lenins Zeitmaß.

In den Leninschen Friedens-Thesen, die Anfang Januar 1918 geschrieben wurden, hieß es, dass „für den Erfolg des Sozialismus in Russland eine gewisse Zeitspanne, mindestens einige Monate", notwendig sei. Jetzt scheinen diese Worte ganz unbegreiflich; war es ein Schreibfehler? Sollte es nicht einige Jahre oder Jahrzehnte heißen? Aber nein, – das war kein Schreibfehler.

Man kann wahrscheinlich eine ganze Reihe anderer Erklärungen Lenins in der gleichen Art finden. Ich entsinne mich sehr gut, wie Lenin in der ersten Periode, im Smolny, in den Sitzungen des Rats der Volkskommissare immer wiederholte: Nach einem halben Jahr werden wir den Sozialismus haben und der mächtigste Staat der Erde sein. Die linken Sozialrevolutionäre, und nicht nur sie allein, hoben fragend und mit Befremden die Köpfe und sahen einander verstohlen an; sie schwiegen aber.

Das war ein System der Suggerierung. Lenin brachte jedem bei, alle Fragen im Rahmen des sozialistischen Aufbaus zu betrachten, und zwar nicht in der Perspektive des „Endziels", sondern in der Perspektive des heutigen und morgigen Tages. Bei diesem schroffen Übergang nahm er Zuflucht zu der ihm eigenen Methode der Überspannung des Bogens: Gestern sprach man von dem Sozialismus als „Endziel", heute aber gilt es so zu denken, zu sprechen und zu handeln, dass die Herrschaft des Sozialismus innerhalb von wenigen Monaten sichergestellt werden kann.

Handelte es sich also nur um einen pädagogischen Kniff? Nein, es handelte sich nicht nur darum. Man muss zu der pädagogischen Beharrlichkeit noch eines hinzufügen: Lenins großen Idealismus, seinen zähen Willen, der auf dem schroffen Wendepunkt zweier Epochen die Etappen zusammendrängte und die Fristen verkürzte. Er glaubte an das, was er sprach. Und diese phantastische halbjährige Frist für den Sozialismus stellt eine ebensolche natürliche Funktion des Leninschen Geistes dar wie seine realistische Handhabung jeder einzelnen Tagesfrage. Die tiefe, unbezwingbare Überzeugung von den mächtigen Entfaltungskräften der menschlichen Entwicklung, für die jeder Preis an Opfern und Leiden gezahlt werden kann und muss, bildete immer die Haupttriebfeder des Leninschen Geistes.

Die Sowjetverfassung

Unter den schwierigsten Verhältnissen, inmitten all der anstrengenden Alltagsarbeit, inmitten der Verpflegungs- und sonstigen Schwierigkeiten jeglicher Art, umringt vom Bürgerkrieg, arbeitete Lenin mit der größten Sorgfalt an der Sowjetverfassung, aufs Peinlichste bedacht, zwischen den sekundären und drittrangigen Erfordernissen des staatlichen Apparates und den grundsätzlichen Aufgaben der proletarischen Diktatur in einem bäuerlichen Lande einen Ausgleich zu schaffen.

Die Verfassungskommission hatte aus irgend einem Grunde beschlossen, die Leninsche „Deklaration der Rechte der Werktätigen" umzuarbeiten und sie mit dem Text der Verfassung zu „koordinieren". Von der Front nach Moskau gekommen, erhielt ich von der Kommission neben anderem Material auch den Entwurf der umgearbeiteten „Deklaration" oder wenigstens eines Teiles davon. Mit dem Material machte ich mich in Lenins Arbeitszimmer, in seiner sowie Swerdlows Anwesenheit, vertraut. Die Vorbereitung zum V. Kongress der Sowjets war im Gange.

Wozu soll man eigentlich die ,Deklaration' umarbeiten?" fragte ich Swerdlow, der die Arbeiten der Verfassungskommission leitete.

Wladimir Iljitsch horchte mit Interesse auf.

Ja, die Kommission fand, dass die ,Deklaration' in manchen Punkten nicht ganz mit der Verfassung übereinstimmt und unpräzise Formulierungen enthält", erwiderte Jakow Michailowitsch.

Meines Erachtens ist es zwecklos", widersprach ich. „Die ,Deklaration' war bereits angenommen, sie ist ein historisches Dokument geworden, – welchen Sinn hätte es, sie noch umzuarbeiten?"

Ganz richtig", schloss sich Wladimir Iljitsch an. „Ich bin auch der Ansicht, dass man die ganze Sache unnütz angefangen hat. Möge schon dieses Baby, ungekämmt und struppig, wie es ist, weiterleben. Wie es auch aussehen mag, es ist immerhin ein Kind der Revolution. Es wird kaum besser werden, wenn man es zum Friseur bringt."

Swerdlow machte den Versuch, den Beschluss seiner Kommission „pflichtgemäß" zu verteidigen, erklärte sich aber bald mit uns einverstanden. Es wurde mir klar, dass Lenin, der verschiedentlich gegen den einen oder den anderen Vorschlag der Verfassungskommission Stellung zu nehmen gezwungen war, keine Lust hatte, die Redigierung der „Deklaration der Rechte" – deren Urheber er selber war – zum Gegenstand eines Streites zu machen. Er war aber sehr erfreut über die Unterstützung von „dritter Seite", die ihm unerwartet im letzten Augenblick zuteil wurde. Wir kamen zu dritt überein, die „Deklaration" nicht zu ändern, und das ausgezeichnete struppige Baby entging auf diese Weise der Barbierstube.

Das Studium der Sowjetgeseggebung in ihrem Entwicklungsgang unter Hervorhebung der grundsätzlichen Momente und Wendepunkte, wie sie sich aus dem Entwicklungsgang der Revolution und ihrer Klassenbeziehungen ergaben, ist eine Aufgabe von größter Wichtigkeit, weil die praktischen Schlussfolgerungen für das Proletariat anderer Länder eine enorm praktische Bedeutung erhalten können und müssen.

Die Sammlung der Sowjet-Dekrete bildet in gewissem Sinne einen Teil – und einen keineswegs unwesentlichen Teil – der Gesammelten Werke von Wladimir Iljitsch Lenin.

* Genosse Miljutin hat diese Episode etwas anders erzählt. Mir scheint aber, dass die oben wiedergegebene Lesart eher zutrifft. Lenins Worte: „Das riecht nach Revolution", bezogen sich in jedem Falle auf meinen Vorschlag, die Regierung im ganzen als Rat der Volkskommissare zu bezeichnen. Anmerkung des Verfassers.

1 Eine erzreaktionäre Zeitung auf der äußersten Rechten.

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