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Leo Trotzki 19251214 Eine Analyse der Parolen und Differenzen

Leo Trotzki: Eine Analyse der Parolen und Differenzen

[Nach Die Linke Opposition in der Sowjetunion, Band III. Westberlin 1976, S. 235-237]

Weder Klassen noch Parteien können nach dem beurteilt werden, was sie von sich selber sagen, oder nach den Parolen, die sie zum gegebenen Zeitpunkt hochhalten. Dies gilt genauso gut für Gruppierungen innerhalb einer Partei. Parolen dürfen nicht isoliert betrachtet werden, sondern in Beziehung zu ihrer Umgebung, und besonders bezüglich der Geschichte einer speziellen Gruppierung, ihrer Traditionen, personellen Zusammensetzung etc.

Das heißt jedoch nicht, dass Slogans keine Bedeutung haben. Obwohl sie nicht die volle politische Komplexität einer Gruppe bestimmen, stehen sie doch eins ihrer Grundelemente dar. Wir wollen versuchen, die Schlüsselparolen aus sich selbst heraus zu analysieren und sie dann im Rahmen der gegenwärtigen politischen Situation bewerten.

Wenn man die Frage nach den Differenzierungen in der Bauernschaft präzise gestellt hat, dann ist das zweifelsohne eine positive und wichtige Entwicklung; wenn auch nur um uns von dem rein abstrakten Konzept der ,Vergenossenschaftung' der Mittelbauern wegzubringen und zurück zu den Tatsachen des Wirtschaftsablaufs. Wer die Aufmerksamkeit der Partei auf die Differenzierung in der Bauernschaft konzentriert, zwingt sie zu verstehen, dass es keinen Weg zum Sozialismus gibt und geben kann, der aus den Mitteln des Dorfes allein erwächst. Daher der Schwenk von Kamenews Position, der jetzt Bucharins Konzept „Sozialismus ist Sowjetmacht und Genossenschaften", mit einer etwas komplexeren Position entgegentritt, nämlich: „Sowjetmacht plus Elektrifizierung und Genossenschaften", wobei Elektrifizierung als industrielle Technologie im Allgemeinen zu verstehen ist. Im Vergleich mit der Position von 1923, die einer der Gründe für das systematische Nachhinken der Industrie gewesen ist, bedeutet eine solche Fragestellung zweifellos einen Schritt nach vom. Wenn man die Idee auf ihre eigene Konsequenz bringt, würde sie ungefähr wie folgt lauten:

Genossenschaftsbildung kann sowohl einen sozialistischen, wie eine kapitalistischen Charakter besitzen. Wenn der ökonomische Prozess auf dem Lande sich selbst überlassen bleibt, wird er zweifellos eine kapitalistische Richtung nehmen, wird also ein Werkzeug der Kulaken. Nur auf Basis neuer Technologie, d. h. auf Basis zunehmender Dominanz der Industrie über die Landwirtschaft, kann die Vergenossenschaftung der armen und Mittelbauern ein Voranschreiten zum Sozialismus gewährleisten. Je schneller das industrielle Tempo, je eher die Dominanz über die Landwirtschaft gewonnen wird, desto zuversichtlicher darf man einen Aufschub im Differenzierungsprozess der Bauernschaft erwarten, Schutz der Masse der Mittelbauern vor Verelendung usw.

Zur gleichen Zeit, wo Kamenew die Industrie als Grundprinzip Bucharins agrargenossenschaftlicher Perspektive entgegenstellt, geht Bucharin auf Kamenew in der Frage los, wie der soziale Charakter der Industrie selbst einzuschätzen sei. Kamenew, Sinowjew und noch andere, betrachten Industrie als Bestandteil des staatskapitalistischen Systems. Sie hielten diesen Standpunkt gemeinsam zwei, drei Jahre aufrecht und legten sich während der 1923-24er Debatte besonders hartnäckig darauf fest. Der Kern dieses Standpunkts besteht darin, dass die Industrie eine untergeordnete Rolle in einem System spielt, dass bäuerliche Wirtschaft, Staatshaushalt, Genossenschaften, staatsgelenkte Privatbetriebe usw. mit einschließt. All diese vom Staat regulierten und kontrollierten ökonomischen Prozesse konstituieren das System des Staatskapitalismus, von dem man annimmt, dass es über eine Reihe von Stadien zum Sozialismus führt.

In diesem Schema verschwindet natürlich die führende Rolle der Industrie total. Das Planungsprinzip ist durch die Finanz-Kreditregulierung fast ganz zur Seite geschoben, welche die Vermittlerrolle zwischen Bauernwirtschaft und Staatsindustrie übernahm, so, als lägen diese zwei Parteien in einem Rechtsstreit. Genau aus diesem Schema entstammte dann das Konzept des agrargenossenschaftlichen Sozialismus, gegen das Kamenew nun mit Recht auftritt. Aber dem gleichen Schema entstammte auch eine Charakterisierung der Staatsindustrie, die sie nicht als Schlüsselfaktor des Sozialismus begreift, sondern als untergeordnetes Glied des Staatskapitalismus, gegen den nun Bucharin mit Recht angeht. Wir sehen hier, dass jede Seite ihren 1923 gemeinsam eingehaltenen Standpunkt teilweise aufgegeben hat, – ein Standpunkt der einerseits zum Nachhinken der Industrie hinter die Landwirtschaft führte, andererseits zu Bucharins Schema von Mittelbauerngenossenschaften, das sich in der keineswegs zufälligen Parole ,Bereichert euch' ausgedrückt hat.

Die 1923er Position sollte nicht teilweise, sondern ganz aufgegeben werden. Es muss fest und eindeutig konstatiert werden, dass der Kern des Problems nicht in dem momentanen Stand der ländlichen Differenzierung liegt, nicht einmal im Differenzierungsgrad, sondern im industriellen Entwicklungsgrad, über den es allein möglich ist, in den grundsätzlichen Entwicklungsgang auf dem Lande eine qualitative Veränderung zu bringen. Daraus folgert weiterhin, dass die Parole, Gesicht zum Land' vor allem ,Das Gesicht zur Industrie' bedeuten muss Daraus folgert genauso, dass Planung nicht nur ein Bindeglied zwischen Industrie und Bauernwirtschaft ist, sondern das Ziel der staatlichen Wirtschaftstätigkeit, die sich zuerst und vor allem durch die Industrie vollzieht. Die Planungsachse kann und sollte ein Programm industrieller Entwicklung sein. Planung neben der Industrie her degeneriert unweigerlich zu Kinkerlitzchen, macht hier und da eine Korrektur und versucht vom einen Fall zum nächsten zu koordinieren. Das gilt für den Gosplan genauso, wie für den Rat für Arbeit und Verteidigung. Das Finanzkommissariat hat den Gosplan natürlich weggeschoben bis zu einem Grad, wo Planung zu einer halb passiven Vermittlung von Bauernwirtschaft und einer Industrie geworden ist, die hinter dem Markt her hinkt; es hat sich nämlich gezeigt, dass die Finanzen als Regulationsmittel viel praktischer und direkter sind, als die statistischen Kompilationen des Gosplan. Aber Finanz-Kreditregulierung an und für sich, umfasst überhaupt kein Planungsprinzip, und weil sie den ökonomischen Gesamtprozess nur unterstützt, enthält sie auch keinerlei innere Garantie für einen Fortschritt zum Sozialismus und kann es auch nicht.

Gegen Ende unserer ökonomischen Zusammenarbeit brachte Lenin die Idee der Elektrifizierung als Basis für einen ökonomischen Plan vor. Elektrifizierung ist ein hochentwickelter Ausdruck des industriellen Prinzips. Formal ist Elektrifizierung weiterhin als Leitidee anerkannt worden. Praktisch hat sie einen immer geringeren Platz in der allgemeine Entwicklung eingenommen. Die Elektrifizierung war eng verbunden mit dem Konzept eines ökonomischen Plans. Hier finden wir zum ersten Mal die Idee ausgedrückt, dass die Wirtschaft nur durch industrielle Technologie in eine sozialistische Richtung geplant werden kann. Ohne eine enge Verbindung von Gosplan mit dem Obersten Volkswirtschaftsrat werden wir weder ein richtig integriertes Industrieentwicklungsprogramm haben, noch überhaupt eine praktische, zweckmäßig, aktive und von der Industrie begründete Planung. Deshalb hängen Ackerbau, Transport und sogar die Stabilität des Rubels vom Grad und Charakter der industriellen Entwicklung ab. In der ökonomischen Kette ist die Industrie das grundlegende und entscheidende Glied.

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