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Leo Trotzki 19250525 England wohin?

Leo Trotzki: England wohin?

Vorwort für Amerika

[Nach Vorwärts, Wochenblatt der New Yorker Volkszeitung, 26. September 1925]

Das vorliegende Buch widmet sich der Betrachtung der Schicksale Englands, ein Gegenstand der aus zwei Gründen für amerikanische Leser von Interesse sein muss, erstens, weil England immer noch eine überwältigende Erscheinung auf dem Weltschauplatz bildet, zweitens, weil die Vereinigten Staaten und Großbritannien als Doppelgestirn gelten können, dessen einer Stern um so schneller erbleicht, als der andere an Glanz zunimmt.

Aus meinen Studien drängt sich mir die Erkenntnis auf, dass England sich in voller Fahrt einem Zeitalter revolutionärer Umwälzungen in die Arme stürzt. Natürlich werden mich die englischen Geheimdienstler und ihre amerikanische Kollegen der Propaganda für die proletarische Revolution beschuldigen, als ob es einem Außenstehenden möglich wäre, den Kurs einer großen Nation mittelst Pamphletenschreibens zu beeinflussen! In der Tat versuche ich nur, durch eine Analyse der hauptsächlichsten Faktoren der inneren englischen Geschichtsentwicklung den historischen Pfad zu bestimmen, auf welchem England Hindernissen begegnen muss. die seine weitere Existenz bedrohen. Mich deshalb revolutionären Eingriffs in die Angelegenheiten fremder Nationen zu beschuldigen, wäre ebenso schlau, als den Astronomen für die von ihm vorausgesagten Sonnen- und Mondfinsternisse verantwortlich zu halten.

Das soll aber nicht heißen. dass ich die astronomischen Erscheinungen mit den Gesellschaftserscheinungen auf gleicher Stufe stelle. Jene erfolgen außerhalb unserer, diese durch unsere Vermittlung. Was auch nicht bedeutet, dass historische Ereignisse durch unseren einfachen Wunsch verwirklicht oder mit Hilfe von Broschüren gelenkt werden können. Es erscheinen viel mehr Bücher und Schriften in der offenen Absicht, den Kapitalismus zu verteidigen und ihn zu erhalten – und darin ist natürlich der britische Kapitalismus mit eingeschlossen – als mit dem entgegengesetzten Zweck. Wirksamkeit erlangen die Gedanken erst, wenn sie auf dem Boden der materiellen Zustande der sozialen Entwicklung begründet sind. England steuert der Revolution zu. weil es schon in das Stadium der kapitalistischen Zersetzung eingetreten ist. Wenn Schuldige überhaupt zu suchen sind, wenn man überhaupt darnach fragen sollte, welcher Faktor den eilenden Lauf Englands auf dem Pfade der Revolution beschleunigt, so lautet die Antwort: nicht Moskau, sondern New York!

Diese Antwort mag paradox klingen, doch ist sie nur die Wahrheit. Der mächtige, stets anwachsende Einfluss der Vereinigten Staaten auf die Weltpolitik macht die Stellung der britischen Industrie, der britischen Finanzen, des britischen Handels, mit jedem Tage hoffnungsloser und unmöglicher.

Die Vereinigten Staaten können nicht umhin, auf dem Weltmarkt um sich zu greifen, da sie im entgegengesetzten Falle an ihrem eigenen Blutreichtum, durch Apoplexie, zu Grunde gehen. Eine Expansion der Vereinigten Staaten ist nur auf Kosten der anderen warenausführenden Länder möglich – in erster Linie Englands. Angesichts der patentierten Dawes'schen Einziehung des ganzen ökonomischen Lebens einer großen Nation in den Rahmen der amerikanischen Aufsehung. rufen die oft gehörten Behauptungen vom Einfluss dieser oder jener „Moskauer" Broschüre fast ein mitleidiges Lächeln hervor. Unter dem Vorwand einer Beruhigung, eines Wiederaufbaues Europas, werden bedeutende revolutionäre und militärische Konflikte auf den Morgen vorbereitet. Herr Julius Barnes, der dem Washingtoner Handelsministerium sehr nahe steht, schlägt vor, Schuldnern solche Teile des Weltmarkts freizulassen, in denen diese verarmten und verschuldeten europäischen Vettern dem überseeischen Gläubiger nicht durch ihre Konkurrenz lästig fallen. Indem sie das europäische Valutensystem wieder aufbauen helfen, lassen die Vereinigten Staaten einfach eine aufgeblasene Illusion nach der andern zum Platzen kommen: sie ermöglichen es den Europäern, ihre Armut und ihre Abhängigkeit in der Sprache einer festen Wahrung auszudrucken. Indem sie ihren Schuldnern die Schraube aufsetzt, oder ihnen Frist erlaubt, indem sie europäischen Ländern Kredit gewährt oder versagt, stellen die Vereinigten Staaten diese Länder in die Lage einer immer strafferen Abhängigkeit im ökonomischen Sinne, letzten Endes also in eine unentrinnbare Situation, die notwendige Bedingung unerbittlicher sozialer und revolutionärer Störungen. Von diesem Standpunkt betrachtet, mag die Kommunistische Internationale beinahe als eine im Vergleich mit Wall Street konservative Macht gelten. Morgan, Dawes. Julius Barnes – das sind mit die Schöpfer der herannahenden europäischen Revolution.

In ihrer europäischen – und auch in ihrer anderweitigen – Tätigkeit, handeln die Vereinigten Staaten gewöhnlich im Einvernehmen mit England, durch Vermittlung Englands. Dieses Zusammenwirken bedeutet aber für England einen immer wachsenden Unabhängigkeitsverlust: England führt gleichsam die Vereinigten Staaten in die Hegemonie ein. Ihre Weltherrschaft fahren lassend, empfehlen Englands Diplomaten und Geldkönige ihren früheren Kunden, mit dem neuen Herrn der Welt Geschäfte zu machen. Das Zusammenwirken der Vereinigten Staaten und Englands birgt einen tiefen Widerspruch von Weltmaßstab zwischen beiden Mächten in sich, wodurch die heranrückenden Zusammenstöße der vielleicht nicht so fernen Zukunft in die Wege geleitet werden.

Die Geschicke Amerikas selber zu besprechen, ist hier nicht der Ort. Zweifellos fühlt sich das Kapital nirgends so fest im Sattel wie in Amerika. Unglaublich rasch wuchs der amerikanische Kapitalismus heran, zuerst auf Kosten der europäischen Kriegsführenden, jetzt auf Grund ihrer „Friedensbestrebungen", ihrer „Wiederherstellung". Aber trotz seiner ungeheuren Stärke, ist der amerikanische Kapitalismus kein alleinstehender Faktor, sondern ein Teil der allgemeinen Weltwirtschaft. Weiter, je mehr die amerikanische Industrie erstarkt, desto mehr verwickelt und vertieft sich ihre Abhängigkeit vom Weltmarkt. Indem er die europäischen Völker immer tiefer in ihre Sackgasse hineintreibt, baut der amerikanische Kapitalismus das Fundament für Kriege und Revolutionen, die in ihrem entsetzlichen Rückschlag das ökonomische System der Vereinigten Staaten furchtbar erschüttern werden.

So stehen die Aussichten für Amerika. Was revolutionäre Entwicklung betrifft, so gehört dieses Land nicht unter die vorgeschrittensten Nationen: die amerikanische Bourgeoisie wird das Vorrecht genießen, der Zerstörung ihrer älteren europäischen Schwestern als Augenzeuge beizuwohnen. Aber dann schlägt auch dem amerikanischen Kapitalismus die unabwendbare Stunde des Schicksals: die amerikanischen Petroleum- und Stahlmagnaten, die Trust- und Exportfürsten, die Milliardäre von New York. Chicago und San Francisco, arbeiten schon jetzt – obgleich völlig unbewusst – an ihrer vorbestimmten revolutionären Rolle. Und schließlich wird auch das amerikanische Proletariat die seinige erfüllen.

Moskau, im Kreml, den 25. Mai 1925.

Leo Trotzki.

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