2. Wir und die kapitalistische Welt

Wir und die kapitalistische Welt

Die Erreichung des Vorkriegsniveaus – nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ – wird unter den gegebenen geschichtlichen Bedingungen ein gewaltiger Erfolg sein. Dieser Frage war unser erstes Kapitel gewidmet. Doch dieser Erfolg führt uns an den „Start"-punkt erst heran, von dem aus unser eigentliches ökonomisches Wettrennen mit dem Weltkapital beginnt.

Die Schlusszeilen des Kommentars der Staatsplan-Kommission formulieren die Gesamtaufgabe folgendermaßen: „… die eroberten Positionen festhalten und überall dort, wo es die Wirtschaftskonjunktur erlaubt, konsequent von Jahr zu Jahr, sei es auch nur um einen Schritt, zum Sozialismus vordringen." Diese Zeilen, nimmt man sie allzu buchstäblich, könnten zu falschen Schlüssen verleiten. Die Worte, es genüge jährlich „sei es auch nur um einen Schritt" sich zum Sozialismus vorwärts zu bewegen, könnten so verstanden werden, als sei das Tempo nahezu gleichgültig: wenn nur die Diagonale der Kräfte zum Sozialismus zustrebe, dann kämen wir ja schließlich doch zum Ziel. Ein solcher Schluss wäre von Grund auf falsch, und die Staatsplan-Kommission hat natürlich so etwas niemals sagen wollen. Denn in Wirklichkeit entscheidet hier gerade das Tempo! Nur der Vorsprung des Entwicklungstempos von Staatsindustrie und -handel dem Privatkapital gegenüber hat für die abgelaufene Periode eine „sozialistische" Kräfte-Diagonale gesichert. Dasselbe Tempoverhältnis muss auch in Zukunft erhalten bleiben. Aber noch wichtiger ist das Verhältnis des Tempos unserer Gesamtentwicklung zu dem der Weltwirtschaft. Diese Frage wird im Memorandum der Staatsplan-Kommission zunächst nicht berührt. Für umso wichtiger halten wir es, sie recht ausführlich zu behandeln, da dieses neue Kriterium im selben Maße zur Feststellung unserer Erfolge und Misserfolge in der nächsten Epoche dienen wird, wie das Kriterium des „Vorkriegsniveaus" dazu gedient hat, die Erfolge unserer Wiederaufbauperiode festzustellen.

Es liegt ganz klar zutage, dass mit unserer Einfügung in den Weltmarkt nicht nur die Aussichten wachsen, sondern auch die Gefahren. Die Grundlage dafür ist immer dieselbe: die atomisierte Form unserer Bauernwirtschaft, unsere technische Rückständigkeit und die vorläufige ungeheure Produktionsüberlegenheit des Weltkapitalismus uns gegenüber. In diesem einfachen „Aussprechen dessen, was ist", liegt natürlich gar kein Widerspruch dazu, dass die sozialistische Produktionsweise – ihren Methoden, Tendenzen und Möglichkeiten nach – unvergleichlich kraftvoller ist als die kapitalistische. Der Löwe ist stärker als der Hund, – ein ausgewachsener Hund kann jedoch stärker sein, als ein Löwenjunges. Die beste Sicherung für den jungen Löwen ist sein Mannbarwerden, die Erstarkung seiner Zähne und Klauen. Das braucht – nur Zeit.

Worin besteht die bis auf weiteres wichtigste Überlegenheit des alten Kapitalismus dem jungen Sozialismus gegenüber? Nicht in vorhandenen Werten, in Kellern voll Gold, nicht in der Gesamtmasse des angehäuften und zusammengeraubten Reichtums. Angehäuften Werten der Vergangenheit kommt zwar große Bedeutung zu, sie sind aber nicht das Entscheidende. Eine lebendige Gesellschaft kann von alten Vorräten nicht lange leben, sie deckt ihre Bedürfnisse aus Erzeugnissen der lebendigen Arbeit. Trotz aller seiner Reichtümer konnte das alte Rom den andrängenden „Barbaren" nicht standhalten, als diese letzteren zu Trägern einer – im Vergleich zu der verfaulten Sklavenherrschaft – höheren Arbeitsproduktivität geworden waren. Die durch die Große Revolution erweckte bürgerliche Gesellschaft Frankreichs raubte einfach die seit dem Mittelalter angehäuften Reichtümer der italienischen Stadtstaaten. Würde die Arbeitsproduktivität in Amerika unter das europäische Niveau sinken, so wäre Amerika mit den neun Milliarden Gold, die in dortigen Bankgewölben lagern, in keiner Weise geholfen. Die grundlegende ökonomische Überlegenheit der bürgerlichen Staaten besteht darin, dass der Kapitalismus zunächst noch billigere und dabei bessere Waren produziert als der Sozialismus. Mit anderen Worten: es ist die Arbeitsproduktivität in Ländern, die nach dem Gesetz der Trägheit der alten kapitalistischen Kultur leben, zunächst noch bedeutend höher, als in dem Lande, das unter Verhältnissen ererbter Kulturlosigkeit die sozialistischen Methoden eben erst anzuwenden beginnt.

Wir kennen das Grundgesetz der Geschichte: der Sieg fällt letzten Endes dem Regime zu, das der menschlichen Gesellschaft das höhere Wirtschaftsniveau sichert.

Die geschichtliche Streitfrage wird entschieden – freilich: nicht auf einen Schlag – durch den Vergleichskoeffizienten der Arbeitsproduktivität.

Die ganze Frage läuft augenblicklich darauf hinaus, nach welcher Seite hin und in welchem Tempo sich in den nächsten Jahren das Wechselverhältnis zwischen unserer Wirtschaft und der kapitalistischen ändern wird.

Man kann unsere Ökonomik mit der kapitalistischen in verschiedenen Richtungen vergleichen und auf verschiedene Weise. Die kapitalistische Wirtschaft selbst ist ja überaus ungleichartig. Der Vergleich kann einen statischen Charakter tragen, d. h. er kann von dem ökonomischen Zustand im gegenwärtigen Moment ausgehen und er kann auch dynamisch sein, d. h. auf einer Gegenüberstellung der Entwicklungstempi fußen. Man kann das Nationaleinkommen der kapitalistischen Länder mit dem unsrigen vergleichen. Man kann aber auch die Koeffiziente der Produktionserweiterung vergleichen. Alle derartigen Vergleiche und Gegenüberstellungen werden ihren Sinn haben – die einen mehr, die anderen weniger; man muss nur ihren Zusammenhang und ihre gegenseitige Abhängigkeit verstehen. Wir werden weiter unten einige Beispiele anführen, nur zur Illustrierung unseres Gedankens.

In den Vereinigten Staaten von Nordamerika hat der kapitalistische Prozess einen Höhepunkt erreicht. Um das heute vorhandene materielle Übergewicht des Kapitalismus dem Sozialismus gegenüber festzustellen, ist es lehrreich, dieses Übergewicht gerade dort zu nehmen, wo es am ausgeprägtesten zutage tritt.

Der „Rat (Council) der nordamerikanischen Industriekomitees" hat unlängst eine Tabelle veröffentlicht, der wir einige Daten entnehmen. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten beträgt ca. 6% der Erd-Gesamtbevölkerung und produziert 21% des Getreides, 32% sonstiger Vegetabilien, 53% der Forsterzeugnisse, 62% des Gusseisens, 60% des Stahls, 57% des Papiers, 60% des Kupfers, 46% des Bleis und 72% des Erdöls der gesamten Weltproduktion. Auf die Vereinigten Staaten entfällt ein Drittel des Weltreichtums. Sie besitzen 38% der hydraulischen Kraft der Erde, 59% der Telegraphen- und Telefonlinien, 40% aller Eisenbahnen und 90% der Autos.

Die Stromstärke der öffentlichen Kraftwerke unserer Union beträgt im nächsten Jahr bis 775.000 Kilowatt; in den Vereinigten Staaten hat die Stromstärke bereits im vorigen Jahre 15 Millionen Kilowatt erreicht. Was die Kraftwerke der Fabriken betrifft, so beziffert sich bei uns nach der Zählung des Jahres 1920 ihre Gesamtstromstärke auf fast 1 Million Kilowatt; in den Vereinigten Staaten wurden zur selben Zeit etwa 10½ Millionen gezählt.

Summarisch drückt sich die Arbeitsproduktivität im Nationaleinkommen aus, dessen Berechnung bekanntlich große Schwierigkeiten bereitet. Nach den Angaben unseres Statistischen Zentralamts betrug im Jahre 1923/24 das Nationaleinkommen der Sowjetunion im Durchschnitt ungefähr 100 Rubel pro Kopf der Bevölkerung, das der Vereinigten Staaten dagegen ungefähr 550 Rubel pro Kopf. Andere, ausländische Statistiken geben jedoch die Ziffer des Nationaleinkommens der Vereinigten Staaten nicht mit 550, sondern sogar mit 1000 Rubel pro Kopf an. Das besagt, dass die durchschnittliche Arbeitsproduktivität, die bedingt wird durch Maschinerie, Organisation, Arbeitsroutine und anderes, in Nordamerika eine zehn- oder zumindest sechs Mal höhere ist als bei uns.

Diese Daten, so wichtig sie auch sein mögen, machen unsere Niederlage im geschichtlichen Kampf durchaus nicht von vornherein sicher; und das nicht nur nicht deshalb, weil die kapitalistische Welt sich nicht nur auf Amerika beschränkt; nicht nur nicht darum, weil am geschichtlichen Kampf mächtige politische Kräfte teilnehmen, die durch die gesamte vorangegangene Wirtschaftsentwicklung geschaffen sind; sondern vor allem auch deswegen, weil die weitere Kurve der wirtschaftlichen Entwicklung in Nordamerika selbst eine große Unbekannte darstellt. Die Produktivkräfte der Vereinigten Staaten sind bei weitem nicht voll beschäftigt und das Sinken des Beschäftigungsgrades bedeutet gleichzeitig das Sinken der Produktivkräfte. Mit Absatzmärkten sind die Vereinigten Staaten durchaus nicht versorgt. Das Problem des Absatzes tritt vor sie in immer unverhüllterer Schärfe. Es ist keineswegs ausgeschlossen, das in der nächsten Periode der Vergleichskoeffizient der Arbeitsproduktivität von zwei Seiten her einem Ausgleich zustreben wird: durch Steigen des unsrigen und Sinken des amerikanischen. In weit größerem Maße dürfte das auf Europa zutreffen, dessen Produktionsniveau bereits jetzt dem amerikanischen um ein Vielfaches nachsteht.

Eines ist klar: das Übergewicht der kapitalistischen Technik und Ökonomik bleibt zunächst noch gewaltig; ein steiler Aufstieg steht bevor; die Aufgaben und Schwierigkeiten sind wahrhaft grandios. Einen sicheren Weg finden kann man nur mit den Messinstrumenten der Weltwirtschaft in der Hand.

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