Abschließende Bemerkungen

Abschließende Bemerkungen

In meiner ganzen Darstellung bin ich durchweg auf der Basis des ökonomischen Prozesses und seiner sozusagen logischen Entwicklung geblieben. Auf diese Weise hielt ich bewusst fast alle anderen Faktoren aus dem Gesichtsfeld fern, die nicht nur die ökonomische Entwicklung beeinflussen, sondern imstande sind, ihr sogar eine ganz entgegengesetzte Richtung zu geben. Eine so einseitige ökonomische Einstellung ist methodologisch richtig und notwendig, insofern es sich um die perspektivische Beurteilung eines höchst komplizierten Prozesses handelt, der sich auf eine lange Reihe von Jahren erstreckt. Die praktischen Lösungen des Augenblicks müssen jedes Mal möglichst unter Berücksichtigung aller Faktoren in ihrer jeweiligen Konstellation gefunden weiden. Aber wenn es sich um die Perspektive der wirtschaftlichen Entwicklung auf eine ganze Epoche hinaus handelt, muss man durchaus die „Überbau"-Faktoren abtrennen, d. h. vor allem den Faktor der Politik. Ein Krieg z. B. könnte einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung nach der einen Seite, die siegreiche europäische Revolution nach der anderen Seite hin haben. Und nicht nur Ereignisse, die von außen kommen. Die inneren wirtschaftlichen Prozesse erzeugen eine komplizierte politische Reflex-Wirkung, die ihrerseits zu einem Faktor von sehr großer Bedeutung werden kann. Die wirtschaftliche Schichtung des Dorfes, die, wie wir bereits gezeigt haben, keineswegs irgendwelche unmittelbaren ökonomischen Gefahren birgt, d. h. die Gefahr rascher Zunahme der kapitalistischen Tendenzen auf Kosten der sozialistischen, kann nichtsdestoweniger unter gewissen Umständen politische Tendenzen hervorbringen, die der sozialistischen Entwicklung feindlich wären.

Die politischen Bedingungen – sowohl die inneren wie die internationalen – stellen eine komplizierte Verkettung von Problemen dar, deren jedes einzelne eine besondere Analyse erfordert, natürlich in engem Zusammenhang mit der Ökonomik. Diese Analyse kam bei den Aufgaben dieser unserer Betrachtung nicht in Frage. Die grundlegenden Tendenzen der Entwicklung der ökonomischen Basis entwerfen, heißt natürlich nicht, einen fertigen Schlüssel für alle Änderungen des politischen Überbaues – der sowohl seine eigene innere Logik, als auch seine Aufgaben und seine Schwierigkeiten hat – herstellen. Die perspektivische ökonomische Orientierung ersetzt die politische nicht, sondern erleichtert sie nur.

So ließen wir denn im Prozess unserer Analyse bewusst die Frage beiseite: wie lange wird die kapitalistische Ordnung bestehen? Welche Veränderungen wird sie durchmachen und nach welcher Richtung wird sie sich entwickeln? Hier sind einige Varianten möglich. Wir haben nicht die Absicht, sie in diesen abschließenden Zeilen zu erörtern; es genügt, sie anzuführen. Vielleicht gelingt es uns, in einem anderen Zusammenhang darauf zurückzukommen.

Die Frage des Sieges des Sozialismus lässt sich am einfachsten unter der Voraussetzung lösen, dass die proletarische Revolution sich in den allernächsten Jahren in Europa entwickeln wird. Diese „Variante" ist durchaus nicht die unwahrscheinlichste. Aber vom Gesichtspunkt der sozialistischen Prognose liegt hier überhaupt keine Frage vor. Es ist klar, dass bei der Verbindung der Wirtschaft der Sowjetunion mit der Wirtschaft eines Sowjet-Europa, die Frage der vergleichenden Koeffizienten der sozialistischen und kapitalistischen Produktion bei einem noch so starken Widerstand seitens Amerikas siegreich gelöst würde. Und man darf zweifeln, ob dieser Widerstand lange anhalten würde.

Die Frage kompliziert sich überaus, wenn man bedingt voraussetzt, dass die uns umgebende kapitalistische Welt sich noch einige Jahrzehnte hindurch halten wird. Eine derartige Voraussetzung würde aber an und für sich vollkommen inhaltslos bleiben, wenn wir sie nicht durch eine Anzahl anderer Voraussetzungen konkretisieren.

Was wird bei einer solchen Variante aus dem europäischen und dann auch aus dem amerikanischen Proletariat? Was wird aus den Produktivkräften des Kapitals? Wenn die von uns bedingt angenommenen Jahrzehnte solche einer stürmischen Ebbe und Flut, eines grausamen Bürgerkrieges, eines wirtschaftlichen Stillstandes und sogar Verfalles sein werden, d. h. einfach ein in die Länge gezogener Verlauf der Geburtsqualen des Sozialismus, dann ist es klar, dass unsere Wirtschaft in der Übergangsperiode schon allein dank der unvergleichlich größeren Beständigkeit unserer wirtschaftlichen Grundlagen das Übergewicht erlangen würde.

Setzt man dagegen voraus, dass sich im Lauf der nächsten Jahrzehnte auf dem Weltmarkt ein neues dynamisches Gleichgewicht herausbildet, etwa von der Art einer erweiterten Reproduktion der Periode, die sich zwischen 1871 und 1914 entwickelt hatte, so bekommt die Frage ein ganz anderes Aussehen. Die Voraussetzung eines derartigen von uns angenommenen „Gleichgewichts" müsste eine neue Blütezeit der Produktivkräfte ergeben, denn die verhältnismäßige „Friedensliebe" der Bourgeoisie und des Proletariats und die opportunistische Umstellung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in den dem Weltkriege vorangegangenen Jahrzehnten waren nur dank einem mächtigen Aufschwung der Industrie möglich. Es ist vollkommen klar, dass, wenn das Unmögliche möglich, das Unwahrscheinliche wirklich werden sollte: wenn der Weltkapitalismus, und in erster Reihe der europäische Kapitalismus, ein neues dynamisches Gleichgewicht (nicht für seine unbeständigen Regierungskombinationen, sondern) für seine Produktivkräfte finden sollte; wenn die kapitalistische Produktion in den nächsten Jahren und Jahrzehnten einen neuen mächtigen Aufschwung nehmen sollte, – so würde dies bedeuten, dass wir, der sozialistische Staat, zwar die Absicht haben umzusteigen und sogar wirklich vom Güterzug in den Passagierzug steigen, dabei aber einen Schnellzug einzuholen hätten. Einfacher gesagt: dies würde bedeuten, dass wir uns in den grundlegenden historischen Beurteilungen geirrt hätten; das würde bedeuten, dass der Kapitalismus seine historische „Mission" noch nicht erschöpft hat, und dass die sich entfaltende imperialistische Phase durchaus keine Phase des Verfalls des Kapitalismus, seines Todeskampfes, seiner Verwesung wäre, sondern nur die Voraussetzung einer neuen Blütezeit. Es ist vollkommen klar, dass unter den Verhältnissen einer neuen, auf viele Jahre hinaus laufenden kapitalistischen Wiedergeburt in Europa und der ganzen Welt, der Sozialismus in einem rückständigen Lande sich Aug' in Aug' mit kolossalen Gefahren befinden würde. Gefahren welcher Art? In Gestalt eines neuen Krieges, den auch diesmal das wieder durch den Aufschwung „beschwichtigte" europäische Proletariat nicht verhindern könnte, – eines Krieges, in dem der Feind ein kolossales technisches Übergewicht über uns besäße? Oder in Gestalt einer „Sintflut" der kapitalistischen Waren, die bei weitem besser und billiger wären, als die unsrigen, – von Waren, die das Monopol des Außenhandels und im Zusammenhang damit auch andere Grundlagen der sozialistischen Wirtschaft sprengen könnten? Das ist, im Grunde genommen, schon eine Frage zweiter Ordnung. Aber es ist für alle Marxisten vollkommen klar, dass der Sozialismus in einem rückständigen Lande einen schweren Stand hätte, wenn der Kapitalismus nicht nur die Chancen des Vegetierens, sondern einer auf lange Jahre hinaus laufenden Entwicklung der Produktivkräfte in den fortgeschrittenen Ländern haben sollte.

Doch es sind entschieden keinerlei vernünftige Gründe zur Annahme einer solchen, zweiten Variante vorhanden, und es wäre deshalb ein Unsinn, zuerst eine – in ihrem „Optimismus" zugunsten der kapitalistischen Welt phantastische – Perspektive zu entrollen, und sich dann den Kopf zu zerbrechen, auf welche Weise man wieder daraus herausfindet. Das europäische und Weltwirtschaftssystem stellen gegenwärtig eine solche Anhäufung von Widersprüchen dar, – die die Entwicklung nicht fördern, sondern sie auf Schritt und Tritt unterminieren, – dass die Geschichte uns in den nächsten Jahren genügend Gelegenheit zur Erlangung eines beschleunigten Tempos bieten wird, wenn wir nur alle Mittel unserer eigenen und der Weltökonomik gehörig ausnutzen. Und wir haben die Absicht, dies zu tun.

Parallel damit wird in der Zwischenzeit die europäische Entwicklung, wenn auch mit Verzögerungen und Abweichungen, auch den „Koeffizienten" der politischen Kraft in der Richtung des revolutionären Proletariats hin verschieben. Im allgemeinen muss man vermuten, dass die geschichtliche Bilanz für uns mehr als befriedigend ausfallen wird.

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