Vorwort

Vorwort

An den deutschen Leser!

Dieses Büchlein versucht die Hauptmomente unseres Wirtschaftsprozesses aufzuzeigen. Die Schwierigkeiten einer solchen Analyse ergeben sich aus dem in jähen Wendungen verlaufenden Gang unserer Entwicklung. Verläuft eine Bewegung in gerader Linie, so genügen zwei Punkte, um die Richtung festzustellen. Beschreibt aber die Entwicklung an einem Wendepunkt eine komplizierte Kurve, so ist es schwierig, diese nach einzelnen Abschnitten zu beurteilen. Und acht Jahre einer neuen Ordnung – sind eine kurze Spanne.

Aber unsere Gegner und Feinde haben ja schon mehr als einmal über unsere Wirtschaftsentwicklung ihre „unfehlbaren" Urteilssprüche gefällt, und das längst vor dem achten Jahrestag der Oktoberumwälzung. Diese Urteile erfolgen in zwei Richtungen: erstens sagen sie, dass wir, indem wir die sozialistische Wirtschaft aufbauen, das Land ruinieren; zweitens aber heißt es über uns: indem wir die Produktivkräfte entwickeln, kämen wir in Wirklichkeit zum Kapitalismus.

Die erste Art der Kritik ist kennzeichnend für das Denken des Bürgertums. Die zweite Art der Kritik ist der Sozialdemokratie eigen, d. h. dem sozialistisch maskierten bürgerlichen Denken. Eine strenge Grenze zwischen beiden Arten der Kritik gibt es nicht, und häufig vertauschen die beiden gut nachbarlich untereinander das Rüstzeug dieser Argumente und merken es kaum, berauscht vom heiligen Kriege gegen die „kommunistische Barbarei".

Das vorliegende Büchlein wird hoffentlich dem unvoreingenommenen Leser zeigen, dass beide schwindeln, sowohl die unverhüllten großen Bourgeois, wie die kleinen Spießbürger, die Sozialisten zu sein vorgeben. Sie lügen, wenn sie sagen, dass die Bolschewiki Russland ruiniert hätten. Durchaus unbestrittene Tatsachen bezeugen, dass in dem – vom imperialistischen und Bürgerkrieg zerrütteten – Russland die Produktivkräfte in Industrie und Landwirtschaft dem Vorkriegsniveau nahekommen, das während des laufenden Jahres erreicht sein wird. Jene lügen, wenn sie sagen, dass die Entwicklung der Produktivkräfte in der Richtung zum Kapitalismus geht: in Industrie, Transport- und Verkehrswesen, Handel, Finanz- und Kreditsystem verringert sich nicht etwa die Rolle der Staatswirtschaft, je mehr die Produktivkräfte wachsen, sondern sie nimmt im Gegenteil innerhalb der Gesamtwirtschaft des Landes zu. Das bezeugen Zahlen und Tatsachen unzweifelhaft.

Weit komplizierter steht es hierin in der Landwirtschaft. Für einen Marxisten kommt dies nicht unerwartet: der Übergang von der „atomisierten" Einzelbauernwirtschaft zur sozialistischen Landbearbeitung ist nur denkbar nach Überwindung einer Reihe von Stufen in Technik, Wirtschaft und Kultur. Grundbedingung für diesen Übergang ist, dass die Macht in den Händen der Klasse, bleibt, die die Gesellschaft zum Sozialismus führen will und die in immer höherem Maße fähig wird, die bäuerliche Bevölkerung zu beeinflussen vermittels der Staatsindustrie, indem sie die Technik der Landwirtschaft auf eine höhere Stufe hebt und damit die Voraussetzung für die Kollektivierung des Landbaues schafft.

Überflüssig zu sagen, dass wir diese Aufgabe noch nicht gelöst haben; wir schaffen erst die Vorbedingungen für ihre konsequente, allmähliche Durchführung. Mehr als das, diese Vorbedingungen selbst entwickeln neue Widersprüche, neue Gefahren. Worin bestehen diese?

Der Staat liefert heute für unseren inneren Markt vier Fünftel der Industrieproduktion. Etwa ein Fünftel wird von Privatproduzenten geliefert, d. h. vorwiegend vom hausgewerblichen Kleinbetrieb. Der Eisenbahn- und Schifffahrtsverkehr ist zu hundert Prozent in Händen des Staates. Staats- und Genossenschaftshandel betragen heute fast drei Viertel des Handelsumsatzes. Der Außenhandel wird zu etwa 95 Prozent vom Staat betrieben.

Die Kreditinstitute sind ebenfalls zentralisiertes Staatsmonopol. Aber diesen mächtigen, in sich geschlossenen Staats„trusts" stehen 22 Millionen Bauernwirtschaften gegenüber! Die Verknüpfung von Staats- und Bauernwirtschaft – bei gleichzeitig allgemeinem Anwachsen der Produktivkräfte – stellt somit das gesellschaftliche Hauptproblem des sozialistischen Aufbaues unseres Landes dar.

Ohne Wachstum der Produktivkräfte kann keine Rede von Sozialismus sein. Auf dem Wirtschafts- und Kulturniveau, auf dem wir gegenwärtig stehen, ist die Entwicklung der Produktivkräfte nur dann erreichbar, wenn in das System der gesellschaftlichen Wirtschaft die persönliche Interessiertheit der Produzenten selbst einbezogen wird.

Bei den Industriearbeitern geschieht das dadurch, dass der Arbeitslohn abhängig wird von der Produktivität der Arbeit. Auf diesem Wege sind schon große Erfolge erzielt. Beim Bauern ergibt sich das persönliche Interesse schon durch die Tatsache, dass er Privatwirtschaft treibt und für den Markt arbeitet. Aber aus diesem Umstand erwachsen auch Schwierigkeiten. Die Verschiedenheiten der Lohnstufen, wie groß sie auch seien, tragen keine soziale Differenzierung ins Proletariat hinein: Die Arbeiter bleiben Arbeiter der Staatswerke. Anders steht es mit der Bauernschaft. Die Arbeit der 22 Millionen Bauernwirtschaften (unter denen die staatlichen Sowjetgüter, die bäuerlichen Kollektivwirtschaften und Landkommunen" vorläufig eine geringfügige Minderheit bilden) für den Markt führt unvermeidlich dazu, dass an einem Pol der Bauernmasse sich nicht nur wohlhabende, sondern geradezu ausbeuterische Wirtschaften herausbilden, während am Gegenpol eine Umwandlung eines Teiles der heutigen mittleren in arme Bauern und dieser letzteren – in Landarbeiter vor sich geht.

Als die Sowjetregierung, unter Führung unserer Partei, die Neue Ökonomische Politik einführte und dann ihren Wirkungskreis auf das flache Land erweiterte, war sie sich völlig klar, sowohl über diese unvermeidlichen sozialen Folgen des Marktsystems, wie über die damit verknüpften politischen Gefahren. Diese Gefahren aber erscheinen uns nicht als ein unabwendbares Verhängnis sondern als Probleme, die es in jeder Phase aufmerksam zu erforschen und praktisch zu lösen gilt.

Die Gefahr wäre kaum zu beseitigen, wenn die Staatswirtschaft in Industrie, Handel und Finanzen ihre Positionen räumte, während gleichzeitig die Klassendifferenzierung des Dorfes voranschritte. Denn: in diesem Falle könnte das Privatkapital seinen Einfluss auf den Markt, vor allem den bäuerlichen Markt, verstärken, den Differenzierungsprozess im Dorfe beschleunigen und somit die ganze wirtschaftliche Entwicklung in kapitalistische Bahnen drängen. Deshalb eben ist es für uns so wichtig, als Erstes festzustellen, in welcher Richtung sich das Kräfteverhältnis der Klassen auf dem Gebiet der Industrie, des Verkehrs, der Finanzen, des Innen-und Außenhandels verschiebt. Das wachsende Übergewicht des sozialistischen Staates auf allen genannten Gebieten (von der Staatsplan-Kommission unbestreitbar dargetan) schafft ein ganz anderes Verhältnis zwischen Stadt und Land. Unser Staat hat das Steuer der Wirtschaft viel zu fest in der Hand, als dass das Anwachsen der kapitalistischen und halb-kapitalistischen Tendenzen in der Landwirtschaft uns in absehbarer Zukunft über den Kopf wachsen könnten. In dieser Frage Zeit gewinnen, heißt alles gewinnen.

Soweit in unserer Wirtschaft ein Kampf kapitalistischer und sozialistischer Tendenzen stattfindet (und sowohl Zusammen- wie Gegeneinanderwirkung dieser Tendenzen bildet ja das Wesen der NEP), insoweit kann man sagen, dass der Ausgang des Kampfes vom Entwicklungstempo jeder dieser Tendenzen abhängt. Mit anderen Worten: Wenn die Staatsindustrie sich langsamer als die Landwirtschaft entwickeln würde, wenn diese mit wachsender Beschleunigung jene polar entgegengesetzten Gruppen: kapitalistische Farmer „oben", Proletarier „unten", abscheiden würde, – so würde ein solcher Prozess natürlich zur Restauration des Kapitalismus führen.

Aber unsere Feinde sollen nur versuchen, die Unvermeidlichkeit dieser Perspektive zu beweisen. Auch wenn sie weit geschickter ans Werk gehen, als der arme Kautsky (oder MacDonald), werden sie sich die Finger verbrennen. Ist nun aber die eben angedeutete Perspektive ausgeschlossen? Theoretisch ist sie es nicht. Wenn die herrschende Partei einen Fehler nach dem andern begehen würde, sowohl in der Politik, als auch in der Wirtschaft, wenn sie dadurch das Wachstum der Industrie, die sich jetzt so vielversprechend entfaltet, bremsen würde, wenn sie die Kontrolle über den politischen und wirtschaftlichen Prozess im Dorfe aus der Hand geben würde, dann natürlich wäre die Sache des Sozialismus in unserem Lande verloren. Wir haben jedoch bei unserer Prognose durchaus nicht nötig, von derartigen Voraussetzungen auszugehen. Wie man die Macht verliert, wie man die Errungenschaften des Proletariats preisgibt, wie man für den Kapitalismus arbeitet, das haben Kautsky und seine Freunde, das internationale Proletariat, nach dem 9. November 1918 glänzend gelehrt. Dem braucht keiner etwas hinzuzufügen.

Unsere Aufgaben, unsere Ziele, unsere Methoden sind andere. Wir wollen zeigen, wie man die eroberte Macht behauptet und befestigt und wie die Form des proletarischen Staates mit dem ökonomischen Inhalt des Sozialismus zu erfüllen ist. Wir haben allen Grund darauf zu rechnen, dass bei richtiger Leitung das Wachstum der Industrie den Differenzierungsprozess im Dorfe überholen, ihn neutralisieren und damit die technischen Voraussetzungen und ökonomischen Möglichkeiten für die allmähliche Kollektivierung der Landwirtschaft schaffen wird.

In meinen vorliegenden Ausführungen fehlt die statistische Charakteristik der Differenzierung des Dorfes. Das hängt davon ab, dass Daten, die eine allgemeine Beurteilung dieses Prozesses erlaubten, überhaupt noch nicht vorhanden sind. Das erklärt sich nicht so sehr aus Mängeln unserer Sozialstatistik, als durch die Besonderheiten des sozialen Prozesses selbst, der die „molekularen" Veränderungen von 22 Millionen Bauernwirtschaften umfasst. Die Staats-Planwirtschafts-Kommission (Gosplan), auf deren Berechnungen die vorliegende Schrift fußt, ist der Frage der wirtschaftlichen Differenzierung unserer Bauernschaft sehr nahe gekommen. Die Schlüsse, zu denen sie hierbei kommen wird, werden zur gegebenen Zeit veröffentlicht werden und für die staatlichen Maßnahmen auf dem Gebiet der Steuern, des ländlichen Kredits, der Genossenschaften usw. zweifellos von größter Bedeutung sein. In keinem Falle aber können diese Angaben die in dieser Schrift umrissene Grundperspektive ändern.

Es ist klar, dass diese Perspektive mit den Geschicken des Westens und Ostens wirtschaftlich und politisch aufs Engste verknüpft ist. Jeder Schritt, um den das Weltproletariat vorwärts kommt, jeder Erfolg der unterdrückten Kolonialvölker festigt uns materiell und moralisch und bringt die Stunde des allgemeinen Sieges nahe.

Kislowodsk, den 7. November 1925 am achten Jahrestag der Oktoberrevolution.

L. Trotzki.

Kommentare