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Leo Trotzki 19251207 Kulturkampf und Mutterschutz

Leo Trotzki: Kulturkampf und Mutterschutz

[Nach Das neue Russland, 3. Jahrgang, Heft 3-4, S. 10-12]

Die Lage der Mutter und des Kindes hängt erstens von der Entwicklung der Arbeitsleistung ab, vom allgemeinen wirtschaftlichen Niveau des Landes, und zweitens von der Gemeinschaft, von der Art und der Ausnutzung des Reichtums des Landes. Die Technik steht unter dem Druck des Westens. Wir beteiligen uns am europäischen Markt, d. h. wir kaufen und verkaufen, als Kaufleute sind wir, d. h. unser Land, darauf bedacht, möglichst teuer zu verkaufen und billig einzukaufen. Kaufen und verkaufen kann derjenige günstig, welcher selbst billig erzeugt und das ist nur dann möglich, wenn die Technik und die Organisation der Erzeugung auf der Höhe ist. In Sowjet-Russland haben wir einen neuen Maßstab auf dem wirtschaftlichen Gebiete, der zu einem Ausgleich mit der europäischen und amerikanischen Technik führen muss. Alsdann muss unser Bestreben sein, sie zu überflügeln. Als neulich 130 km von Moskau eine elektrische Station – Schaturskaja Stantzia – eröffnet wurde, durften wir darin die größte technische Errungenschaft erblicken. Die Schaturskaja Stantzia ist auf einem Torffeld errichtet worden. Es sind genügend Torffelder vorhanden und wenn wir es erlernen werden, die schlummernden Energien dieser Moore in Elektrizität umzuwandeln, so wird sich das auch günstig auf die Mutterschaft und die Säuglinge auswirken. Die Ehrungen der Erbauer dieser Station gab uns ein deutliches Bild unserer Kultur mit all ihren Widersprüchen. Wir fuhren gemeinsam von Moskau nach Schaturka. Was bedeutet Moskau? Die Provinzabgeordneten sehen, wenn sie zum ersten Male nach Moskau kommen, dass es das Sowjet-Union-Zentrum ist, das ideelle Weltzentrum, von welchem die Leitung der Arbeiterbewegung ausgeht. Schaturka (etwas über 100 Werst von Moskau entfernt) ist nach Größe und Konstruktion die einzige Station der Welt, in welcher ausschließlich aus Torf Elektrizität gewonnen wird.

Auf der Fahrt nach Schatura sahen wir zum Coupéfenster hinaus: wie im 17. Jahrhundert muteten die vorüberziehenden Dörfer und der dichte undurchdringliche Wald an. Die Revolution hat natürlich auch in den in der Umgebung von Moskau liegenden Dörfern das kulturelle Niveau gehoben. Jedoch sind noch viele Merkmale der mittelalterlichen furchtbaren Rückständigkeit vorhanden, besonders in der Mutterschutz- und Säuglingsfrage. Dennoch ist die Säuglingssterblichkeit erheblich zurückgegangen. Man muss Moskau und Schatura näher bringen, denn letzteres verkörpert die hohe Technik, als Symbol des Fortschritts. Hier kann man die Worte W. I. Lenins anführen, die besagen: der Sozialismus ist die Sowjetmacht plus Elektrifizierung. Man muss Sorge tragen, dass die Lebensart nicht hinter den technischen Errungenschaften zurückbleibt. Das ist eine sehr wichtige Aufgabe, denn die Sitten und Gebräuche sind viel konservativer als die Technik. Der Bauer und die Bäuerin, der Arbeiter und die Arbeiterin, sehen keine unmittelbaren Beispiele des Neuen vor

sich, sie sehen keine zwingende Notwendigkeit, sich diesen Neuen anzupassen. In technischer Beziehung ruft uns Amerika zu: erbaut Schatura, sonst fressen wir euren Sozialismus mit Haut und Haaren! Die Lebensart hat sich in sich selbst verkapselt und empfindet nicht unmittelbar den gegen sie geführten Schlag; daher ist hier besonders eine initiative Gemeinschaftsarbeit notwendig.

Große fortschrittliche Arbeit wurde auch in den Dörfern geleistet. Die Thesen weisen darauf hin, dass in den Dörfern die Notwendigkeit für Säuglingsheime vorliegt und dass die Bauern deren Gründung verlangen, während sie vor gar nicht langer Zeit noch in den Städten den Säuglingsheimen Misstrauen entgegenbrachte. Die Sinnesänderung in bäuerlichen Kreisen ist schon ein großer Fortschritt, denn nach und nach wird sich die Bauernfamilie umstellen. Wenn unser Proletariat, das aus dem Bauernstand hervorging, in 30 bis 50 Jahren dem europäischen Proletariat gleichkam und es nachher überholte, so ist in der Lebensart der Familie und des Proletariats noch vieles von der früheren Leibeigenschaft übrig geblieben. In der intelligenten kleinbürgerlichen Familie sind noch viel mehr Anzeichen der früheren Leibeigenschaft zu finden als beim Proletariat. Wir müssen uns zur Aufgabe machen, die althergebrachte Form der Familie zu ändern.

Der Kampf um die Mutterschaft und die Säuglinge unter den bestehenden Bedingungen heißt im besonderen gegen den Alkoholismus kämpfen. Man kann nicht für die Verbesserung der Lage der Mutter und Säuglings kämpfen, ohne offen gegen den Alkoholismus vorzugehen. Wenn wir die Mutter- und Säuglingsfrage in eine Reihe von Fragen zerlegen, im besonderen den Kampf gegen den Alkohol hervorheben, so legen wir uns deutlich Rechenschaft darüber ab, dass die Formen des Kampfes für die Beständigkeit der ehelichen Verbindungen und Beziehungen darin bestehen, das Kulturniveau des Volkes bedeutend zu heben. Mit allgemeiner Propaganda und mit Predigten kann an der Sache nicht nützen. Es sind Gesetze unerlässlich, die die Mutter in ihrer schwersten Zeit schützen und für den Säugling sorgen und wenn wir irgendein Zugeständnis machen, so keinesfalls zugunsten des Vaters, denn die Rechte der Mutter, juristisch gesichert, sind auf das Leben übertragen, doch nicht genügend, solange wir nicht den weitesten sozialistischen Kommunismus haben werden; also muss man den Kampf auf verschiedenen Gebieten führen, inbegriffen den Kampf gegen den Alkohol, der nicht an letzter Stelle stehen darf. Die Hauptsache ist, wiederhole ich, die Hebung der Individualität. Je höher der Mensch geistig steht, desto höher sind seine Ansprüche an seine Mitmenschen; je höher die gegenseitigen Anforderungen sind, desto fester das Band. Die gestellten Aufgaben unserer Gemeinschaftsarbeit lösen sich durch die Hebung des Handels, der Landwirtschaft, der Wohlhabenheit, der Kultur und der Bildung.

Vor einiger Zeit besuchte ich zwei große landwirtschaftliche Dorfkommunen. Selbstverständlich sind sie keine „Schatura" unseres Zeitalters, aber man konnte dort große kulturelle Fortschritte bemerken, so z. B. sind dort Krippen vorhanden, die auf der gemeinsamen Arbeitskooperative aufgebaut sind als ein Bestandteil einer großen Familie. Diese Kinderheime bestehen aus Abteilungen für Knaben und Mädchen, sie besitzen eine Klubbibliothek usw. Diese Einrichtungen bedeuten einen großen Schritt vorwärts im Vergleich mit der Bauernfamilie. Die Frau fühlt sich in der Kommune als gleichberechtigter Mensch.

Natürlich bin ich mir darüber klar, dass das Gesagte nur eine kleine Oase ist und dann ist es noch nicht erwiesen, dass diese Oase aus sich selbst heraus sich erweitern kann, denn die Arbeitsleistung in diesen Kommunen ist noch lange nicht gesichert. Man kann nur die Lage der Mutter und des Säuglings verbessern, wenn die Volkswirtschaft sich fortentwickelt. Der Keim der neuen Möglichkeiten in den landwirtschaftlichen Kommunen ist vorhanden und ist besonders wertvoll, weil ab und zu in der Handelswirtschaft ein Aufflackern der kapitalistischen Regung zu beobachten ist. Um so wertvoller sind alle möglichen Formen der Kooperative in den Dörfern, alle Formen kollektiver Art der Lösung wirtschaftlicher, kultureller oder anderer Lebensfragen. Die Tatsache, dass das Dorf die Errichtung von Krippen verlangt, ist von großer Bedeutung, besonders wenn wir zugleich mit den Kinderasylen kleine Landwirtschaftskommunen errichten.

Ich interessierte mich für die Beziehungen der Bauernschaft zu der Kommune „der kommunistische Leuchtturm". Dieser „Leuchtturm" weist hauptsächlich in den Kosakengebieten und teilweise unter den Sekten und Baptisten, d. h. unter ziemlich konservativen Elementen den Weg. Die alte Feindschaft zur Kommune ist verschwunden. Die Kommune ist ein Keim der Zukunft. Die Zukunftsarbeit besteht in der Entwicklung des Handels, die dem Dorfe eine technische Basis für die Industrialisierung der Landwirtschaft geben wird. Wenn diese Pläne durchgeführt sein werden, dann werden sich im Zusammenhang mit ihnen neue Beziehungen zur Frau und zum Kinde entwickeln.

Die Bedeutung der Volksgemeinschaft wird durch die Entwicklung der Erzeugungskraft bestimmt. Man kann aber auch an diese Frage von einer anderen Seite herantreten. Nicht zuletzt benötigen wir der Erzeugungskraft, um eine Persönlichkeit heranzubilden, einen bewussten Menschen, der keinen Herrn über sich hat auf der Erde, der sich nicht vor den sogenannten Herren fürchtet, sondern einen Menschen, der alles Schöne und Gute, das die verflossenen Jahrhunderte schufen, in sich aufnimmt, der solidarisch mit allen anderen vorwärtsschreitet, neue kulturelle Kostbarkeiten schafft, neue persönliche Beziehungen anknüpft und die bestehenden in der Familie neu orientiert, höhere, vornehmere als die, die auf dem Boden der Versklavung der Klassen entstanden sind. Für uns ist die Entwicklung der Arbeitsleistung wichtig als materielle Voraussetzung für das höhere menschliche Individuum, einen nicht in sich verschlossenen, sondern kooperativen Menschen. Aus der Beziehung der menschlichen Gemeinschaft zur Frau und zum Kinde wird man vieles beurteilen können.

Die menschliche Psyche entwickelt sich nicht gleichzeitig in allen ihren Teilen. Wir leben in einem politischen und revolutionären Zeitalter. Wenn der Arbeiterstand sich im Kampfe entwickelt, so formt sich alles erst in revolutionär-politischer Hinsicht. Die Zellen des Bewusstseins, wo die Ansichten über Familie und Tradition, die Beziehungen der Menschen zueinander, zu der Frau und zu dem Kinde entstehen, diese Zellen bleiben oft unberührt. Deshalb werden wir noch lange beobachten können, dass trotz der Entwicklung der Volkswirtschaft, noch sehr viel Mittelalterliches in den persönlichen Beziehungen der Menschen zueinander vorhanden sein wird. Daher wird das Kriterium für die Beurteilung unserer Kultur die Beziehung zur Frau und zum Kinde sein.

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