Leo Trotzki‎ > ‎1925‎ > ‎

Leo Trotzki 19250917 Naturwissenschaft und Marxismus

Leo Trotzki: Naturwissenschaft und Marxismus1

[Nach Vorwärts. Wochenblatt der New Yorker Volkszeitung, 21. November 1925, Section II, S. 1 f.]

Die Ursache der chemischen Reaktionen besteht in den physischen und mechanischen Eigenschaften der Teilchen", sagt der Chemiker Mendelejew. Diese Mendelejewsche Formel hat einen durch und durch materialistischen Charakter. Die Chemie greift nicht zur Erklärung der Ursachen zu irgend einer neuen über-mechanischen oder überphysikalischen Kraft, sondern führt das Wesen der chemischen Prozesse auf die mechanischen und physikalischen Eigenschaften der Partikel, der Stoffteilchen zurück.

In demselben Verhältnis steht auch die Biologie und die Physiologie zur Chemie. Die wissenschaftliche, d. h. materialistische Physiologie bedarf keiner besonderen, über der Chemie stehenden Lebenskraft (wie nach der Lehre der Vitalisten und Neovitalisten) zur Erklärung ihrer Erscheinungen. Die physiologischen Prozesse laufen letzten Endes auf chemische hinaus, wie diese letzten auf mechanische und physikalische hinauslaufen.

Dasselbe Verhältnis besteht zwischen Psychologie und Physiologie. Nicht umsonst wird die Physiologie als angewandte Chemie der lebendigen Organismen bezeichnet. Ebenso, wie es keine besondere physiolologische Kraft gibt, so bedarf auch die wissenschaftliche, d. h. materialistische Psychologie zur Erklärung ihrer Erscheinungen keiner unerklärlichen Seelenkraft und führt diese letzten Endes auf Erscheinungen der Physiologe zurück. Nach der Lehre des Akademikers Pawlow ist die sogenannte Seele ein kompliziertes System bedingter Reflexe, die ganz und gar in primären Reflexen der Physiologie wurzeln, die ihrerseits, durch die Chemie, ihre Wurzeln in der Physik und Mechanik hat.

Dasselbe kann man auch von der Soziologie sagen. Zur Erklärung der gesellschaftlichen Erscheinungen bedarf es keiner Heranziehung von irgendwelchen ewigen oder jenseitigen Prinzipien. Die Gesellschaft ist ebenso ein Produkt der Entwicklung zu der primären Materie wie die Erdrinde oder die Amöbe.

Doch das bedeutet natürlich nicht, dass jede Erscheinung der Chemie unmittelbar zurückgeführt werden kann auf Mechanik, und noch weniger, dass jede gesellschaftliche Erscheinung unmittelbar zurückgeführt werden kann auf physiologische und fernhin auf chemische und mechanische Gesetze. Das ist, kann man sagen, das Grenzziel der Wissenschaft. Die Chemie hat ihre eigenen Methoden der Behandlung der Materie, ihre eigenen Gesetze. Wenn ohne Kenntnisse dessen, dass die chemische Reaktion letzten Endes auf Entfaltung von mechanischen Eigenschaften der Elementarteilchen der Materie besteht, keine vollendete Welterkenntnis bestehen kann, die sämtliche Erscheinungen zu einem geschlossen System verbindet, so gibt anderseits allein die Kenntnis dessen, dass die Erscheinungen der Chemie in der Physik und Mechanik wurzeln, noch nicht den Schlüssel zu irgendeiner chemischen Reaktion.

Dasselbe lässt sich von jeder Wissenschaft sagen. Die Chemie bildet eine mächtige Stütze der Physiologie, mit der sie unmittelbar verbunden ist. Doch die Chemie ersetzt die Physiologie nicht. Jede Wissenschaft sucht Stützpunkte in den Gesetzen anderer Wissenschaften. Doch zugleich wird die Abgrenzung der Wissenschaften voneinander eben dadurch bestimmt, das jede Wissenschaft ein so eigentümliches Gebiet von Erscheinungen, d. h. ein Gebiet mit einer so komplizierten Verknüpfung von Elementarerscheinungen und Gesetzen umfasst, dass dieses Gebiet eine besondere Methode, besondere Hypothesen und Forschungsarten erheischt.

Diesen Gedanken in Bezug auf die mathematischen und naturwissenschaftlichen Gedanken unterstreichen, heißt, offene Türen einrennen. Doch anders verhält es sich mit der Wissenschaft von der Gesellschaft. Die bedeutendsten Gelehrten – Naturwissenschaftler, die, sagen wir, in der Psychologie keinen Schritt vorwärts machen würden ohne genaue Erfahrung, Untersuchung, hypothetische Verallgemeinerung, Kontrollierung usw. –, diese Gelehrten packen Erscheinungen den gesellschaftlichen Lebens mit einem viel größeren Mut, mit dem Mut der Unwissenheit an. Da wird stillschweigend vorausgesetzt, dass in dieser kompliziertesten Sphäre von Erscheinungen allein der Riecher, die tägliche Erfahrung, Alltagsbeobachtungen, Familientraditionen und die vorhandenen gesellschaftlichen Vorurteile ausreichend sind.

Die menschliche Gesellschaft hat sich nun nicht nach einem bestimmten Plan, nach einem voraus gezeichneten System entwickelt, sondern entwickelte sich in einem Prozess des langwierigen, komplizierten und widerspruchsvollen Kampfes der menschliche Spezies ums Dasein, und dann um eine immer größere Beherrschung der Natur. Die Ideologie der menschlichen Gesellschaft bildete sich heraus als Widerspiegelung und als Werkzeug dieses Prozesses – mit Verspätungen, skizzenhaft, stückweise, sozusagen unter bedingten gesellschaftlichen Reflexen, die letzten Endes auf Bedürfnisse des Kampfes des Kollektivmenschen gegen die Natur hinauslaufen. Wollte man die Gesetze, die die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft regieren, nach den ideologischen Spiegelbildern, nach dem Zustand der sogenannten öffentlichen Meinung usw. beurteilen, so wäre es dasselbe, als wollte man nach den Empfindungen der Eidechse, die sich in der Sonne wärmt oder vor der Feuchtigkeit sich in eine Ritze verkriecht, über ihre anatomische und physiologische Struktur urteilen. Zwischen den Empfindungen der Eidechse und ihrer organischen Struktur besteht freilich der unmittelbarste Zusammenhang. Doch dieser Zusammenhang unterliegt der Forschung. In Bezug auf die menschliche Gesellschaft verfallen wir in den größten Subjektivismus, wenn wir nach der sogen. Selbsterkenntnis der Gesellschaft, d. h. nach ihrer widerspruchsvollen, zerrissenen, konservativen nicht überprüften Ideologie, ihre Struktur und die Gesetze ihrer Entwicklung beurteilen. Man kann freilich erwidern, dass die Ideologie der Gesellschaft höher steht aIs die Empfindungen einer Eidechse. Doch es kommt darauf an, von welcher Seite man in die Sache herangeht. Ich glaube, es wäre nicht paradox, zu sagen, dass man nach den Empfindungen der Eidechse (wenn man sie feststellen könnte) unmittelbarer über ihre Struktur und die Funktionen ihrer Organe folgern könnte, als über die Struktur der Gesellschaft und deren Dynamik nach den ideologischen Widerspiegelungen, in der Art der religiösen Vorstellungen, die eine so gewaltige Stelle im Leben der menschlichen Gesellschaft einnahmen und einnehmen, oder nach den widerspruchsvollen und heuchlerischen Gesetzkodexen der offiziellen Moral, oder schließlich nach den idealistischen philosophischen Auffassungen, die zur Erklärung der komplizierten organischen Prozesse die Verantwortung schieben auf ein trübes, dampfartiges Etwas, das als „Seele" bezeichnet und mit dm Attributen der Unverständlichkeit und der Ewigkeit bekleidet wird.

Der Chemiker Mendelejew hatte für das Problem der gesellschaftlichen Umgestaltung nur ein Gefühl der Ablehnung und sogar der Verachtung, da er glaubte, dass von alledem von alters her ja nichts geworden sei. An Stelle dessen erwartete Mendelejew eine bessere Zukunft von der positiven Wissenschaft, in erster Linie der Chemie, die alle Geheimnisse der Natur enthüllen sollte.

Man muss da auch den Standpunkt des bekannten Physiologen Pawlow anführen, der die Kriege und Revolutionen als etwas Zufälliges, als die Folge der menschlichen Unwissenheit betrachtet und glaubt, dass nur die Erkenntnis der „menschlichen Natur" sowohl die Kriege, wie die Revolutionen beseitigen würde.

Hierbei Ist auch Darwin zu nennen. Dieser geniale Biologe, der nachwies, wie die größten quantitativen Abweichungen in ihrer Anhäufung eine ganz neue biologische „Qualität" ergeben, und der dadurch die Entstehung der Arten erklärte, wandte, ohne es zu wissen, die Methode des dialektischen Materialismus auf dem Gebiete des organischen Lebens an. Das Hegelsche Gesetz des Umschlagens der Quantität in Qualität fand bei Darwin eine geniale, wenn auch philosophisch noch nicht beleuchtete Anwendung. Aber zu gleicher Zeit finden wir ziemlich oft bei Darwin selbst, und um so mehr bei den Darwinisten. ganz naive und unwissenschaftliche Versuche der Übertragung der Schlüsse der Biologie auf die Gesellschaft. Wenn man die Konkurrenz als „Spielart" des biologischen Kampfes ums Dasein deutet, so ist es dasselbe, als wenn man z. B. in der Physiologie ist Paarung nur die Mechanik sieht.

In allen diesen Fällen nehmen wir einen und denselben Fehler wahr: Die Methoden und Errungenschaften der Chemie oder der Ideologie werden durch Überspringen aller Instanzen auf die menschliche Gesellschaft übertragen. Die historisch bedingte Struktur der Gesellschaft wird von vielen Naturforschern aus der Rechnung gestrichen, der Atomstruktur des Stoffes oder der physiologischen Struktur der Reflexe oder dem biologischen Kampf ums Dasein zuliebe. Gewiss, das Leben der menschlichen Gesellschaft, das unter materiellen Verhältnissen verläuft, ist von allen Seiten von chemischen Prozessen umgeben und stellt letzten Endes selbst eine Kombination von chemischen Prozessen dar. Doch die Gesellschaft besteht aus menschlichen Individuen, deren psychischer Mechanismus aus einem System von Reflexen besteht. Das gesellschaftliche Leben ist kein chemischer Prozess und kein physiologischer, sondern ein sozialer und wird von Gesetzen regiert, die objektiv soziologisch erforscht werden müssen, damit die Geschicke der Gesellschaft vorausgesehen und beherrscht werden können.

1 Aus einer Rede, gehalten auf dem IV. Allrussischen (Mendelejewschen) Kongress für reine und angewandte Chemie.

Kommentare