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Leo Trotzki 19251222 Über die Leningrader Opposition

Leo Trotzki: Über die Leningrader Opposition

[Nach Die Linke Opposition in der Sowjetunion, Band III. Westberlin 1976, S. 237-239]

Die Prawda und die Sprecher der Parteitagsmehrheit charakterisieren die Leningrader Organisation als Fortsetzung und Entwicklung der 1923-24er Opposition. Wir müssen offen zugeben, dass diese Gleichsetzung nicht nur ein polemischer Ausfall ist, sondern auch ein Element von Wahrheit enthält. Es ist nur notwendig, dieses Element zu spezifizieren.

Das zentrale Thema der Leningrader Opposition ist die Anschuldigung, dass die offizielle Politik bzw. ihre rechten Repräsentanten dafür verantwortlich sind, dass die Bauernschaft das Proletariat in den Hintergrund zu drängen beginnt, und dass in den Reihen der Bauernschaft der Kulak den Mittelbauern und der Mittelbauer den armen Bauern ausbootet.

Gegenwärtig kann kein Zweifel daran bestehen, dass die sogenannte Pro-Kulaken-Abweichung seit dem zwölften und besonders dem dreizehnten Parteitag einen großen Schub nach vorn erhalten hat. Die Hauptlinie im Kampf gegen den Trotzkismus ist der Vorwurf der Unterschätzung der Bauernschaft gewesen. Worauf beruhte dieser Vorwurf? Auf der Tatsache, dass die Opposition der Industrie und ihrer Entwicklung übergeordnete Bedeutung beimesse, und eine Beschleunigung des industriellen Entwicklungstempos verlange, d. h. eine entsprechende Ansammlung von Industriekapital, die Einführung des Planungsprinzips in die Ökonomie etc. Diese Position wurde zur Revision des Leninismus erklärt, und die Smytschka – das Bündnis von Arbeitern und Bauern – zu dessen Hauptmerkmal erkoren. Bei der älteren Generation, die die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte nicht vergessen hat, stoßen solche simplifizierten Formeln wenigstens auf die Kenntnisse, die im Kampf gegen die Narodniki und für eine proletarische Klassenpolitik gesammelt wurden. Aber in den Augen breiter Schichten der Jugend, die nicht im Klassenkampf gehärtet wurden, erscheint die Diskussion der letzten Jahre abzüglich aller Verwicklung und Entstellung wie folgt: Auf der einen Seite Betonung der „Diktatur der Industrie", sowie der unaufhörlichen Förderung der Weltrevolution; auf der anderen Seite die Smytschka mit der Bauernschaft, das Bündnis mit den Mittelbauern, den Genossenschaften als alternative Entwicklungsrichtung usw.

Im Grund ist die junge Generation nicht vom Klassenkampf, sondern auf Basis dieser Polemik geformt worden. Man darf mit Sicherheit annehmen, dass mit Hilfe dieses Prozesses eine breite und fruchtbare Grundlage für eine Bauernabweichung hergestellt worden ist. Auch gibt es keinen Zweifel, dass das ganze öffentliche Leben des Landes durch die Verzögerung der Weltrevolution und den industriellen Rückstand eine günstige materielle Basis für eine solche Abweichung abgibt. So nahmen unter dem Banner des Kampfes gegen die Opposition Elemente einer Sowjet-Narodnikibewegung Gestalt an, besonders bei der jungen Parteigeneration und der Kommunistischen Jugend. Diese Basisbewegung wartete nur auf ihren offiziellen theoretischen Ausdruck. Bucharins Schule kam dem, wenn auch sehr ängstlich und halbherzig, nach.

Es ist keineswegs zufällig, dass sich die Leningrader Organisation am empfänglichsten für die Warnrufe zeigte, genauso wenig, wie es zufällig ist, dass die Führer dieser Opposition im Kampf zu ihrer Selbsterhaltung gezwungen waren, sich dem Klasseninstinkt des Leningrader Proletariats anzupassen. Das Resultat ist paradox; oberflächlich erschreckend, doch gleichzeitig vollkommen mit den zugrundeliegenden Triebkräften übereinstimmend: Die Leningrader Organisation, die im Kampf gegen die Opposition am weitesten gegangen ist, die gegen die Unterschätzung der Bauernschaft zu Felde gezogen ist und am lautesten von allen die Parole ,Gesicht zum Land' gerufen hat, – sie ist die erste, die vor den Konsequenzen des spürbaren Umschwungs in der Partei zurückschreckt, der die ideologische Quelle im Kampf gegen den sogenannten Trotzkismus ist.

Was das unaufhörliche Geschrei über die Unterschätzung der Bauern angeht, die Forderung das ,Gesicht zum Land' zu drehen, die Lancierung der Idee einer geschlossenen Volkswirtschaft und eines Aufbaus des Sozialismus in einem Lande, – so hat die Opposition bereits 1923 -24 davor gewarnt, dass eine solche ideologische Orientierung ein graduelles Zurückgleiten in einen Thermidor bäuerlicher Art begründen und erleichtern könne. Und nun hören wir die Leningrader vor derselben Gefahr warnen, obwohl ihre Führer in Schlüsselpositionen den Weg dahin ideologisch gepflastert haben.

Die Leningrader Methoden der Partei- und Wirtschaftsführung, der schrille Agitationsstil, die Lokalarroganz usw., haben ein enormes Maß Unzufriedenheit mit der Leningrader Führungsgruppe angehäuft. Die vielen hundert Arbeiter, die von Zeit zu Zeit aus Leningrad hinausgeworfen und über das Land verstreut worden sind, empfinden und verstärken die Unzufriedenheit, das heftige Ressentiment gegen das Leningrader Regime; diese Tatsachen sind absolut unanfechtbar und dürfen in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden. In diesem Sinne sind das Auswechseln der Führungspositionen in Leningrad und die Annahme eines weniger arroganten Tones gegen die Partei als Ganze eindeutig positive Anzeichen.

Aber man müsste blind sein, um zu übersehen, dass auf dem 14. Parteitag hinter der Feindseligkeit gegenüber den speziellen Manieren der Leningrader Führung, noch feindliche Gefühle hinsichtlich der ideologischen Diktatur der Stadt über das Land auftauchten. Die Zentren haben zu hohe Budgets, sie haben die Industrie, die Presse, die stärksten Organisationen und ein ideologisches Übergewicht. Sie zahlen nicht genug für die Produkte vom Land und betäuben es stattdessen mit hohlen Phrasen; dies waren die Themen, die in sehr, sehr schwacher Form in vielen Parteitagsreden nachhallten. Heute ist Leningrad an der Reihe, morgen vielleicht Moskau, Moskaus und Leningrads wechselseitige Angriffe aufeinander erleichtern diese Möglichkeit. Die Provinzen sind Leningrad wegen seiner Opposition gegen Moskau und zu dem Zwecke an die Kehle gefahren, einen Angriff gegen die Städte allgemein vorzubereiten. Was wir vorliegen haben, ist natürlich nur der Schatten eines Prozesses, der fatal für die Rolle des Proletariats werden kann, falls er sich entwickelt.

Die Tatsache, dass Sokolnikow heute als einer der Führer der Leningrader Opposition auftritt, ist eine prinzipienlose Politik rein persönlicher Art und gleichzeitig eine außerordentliche Merkwürdigkeit. Er war, ist und bleibt der Theoretiker der ökonomischen Entwaffnung des Proletariats zugunsten der Landgebiete.

Man geht nicht fehl darin, die Provinzen Tambow, oder Woronesch oder Georgien ins Auge zu fassen. Die Bauernabweichung resultiert aus der objektiven Notwendigkeit für die Partei, auf die Bauernschaft aufzupassen. Aber dies ist absolut eine Frage des Grades und eines aktiven Gegengewichts. Das wirksamste Gegengewicht, das gegen das Land möglich ist, wäre das Vorhandensein energischer, machtvoller Arbeiterorganisationen in den Industriezentren wie Leningrad und Moskau. Eine Demokratisierung des inneren Lebens dieser Organisationen ist die unumgängliche Voraussetzung dafür, dass dem verstärkten politischen Gewicht des Landes energisch und erfolgreich entgegengetreten werden kann. Tatsächlich ist aber das Gegenteil eingetreten. Die Herrschaft des Apparates hat das Bewusstsein dieser beiden Organisationen abgestumpft. Jede Forderung nach einer Lockerung des Regiments, wird als Kapitulation vor der kleinbürgerlichen Wankelmütigkeit gebrandmarkt. Fest im Griff seines Apparates, diente Leningrad unter der Parole: „Gesicht zum Land" hundertprozentig dem Kampf gegen die Linke Opposition und verhalf so den Tendenzen mit einer nationalen und agrarischen Perspektive zur Entwicklung und genügend lebhaftem Ausdruck, selbst auf dem gegenwärtigen Parteitag. Obwohl formal niemand mit dem „Extremismus" der Bucharinschen Schule übereinstimmt, ist das ,Feuer' momentan in eine andere Richtung gezielt: nach Leningrad.

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