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Leo Trotzki 19260119 Dem Andenken Sergej Essenins

Leo Trotzki: Dem Andenken Sergej Essenins

[Nach Das neue Russland, 3. Jahrgang, Heft 1-2, S. 28 f.]

Wir haben Essenin verloren – diesen prachtvollen, frischen, ursprünglichen Poeten. Und auf welch tragische Weise verloren wir ihn! Er verließ uns freiwillig, sich mit seinem Herzblut von dem ungenannten Freunde – vielleicht von uns allen, verabschiedend. Verblüffend zart und weich sind seine letzten Zeilen. Er schied aus dem Leben ohne Wehklagen, ohne Pose des Protestes – lautlos mit der blutenden Hand hinter sich die Tür schließend. Diese Geste beleuchtet die poetische und menschliche Erscheinung Essenins, die uns stets unvergesslich bleiben wird.

Essenin verfasste sarkastische Vagabundenlieder und verlieh ein besonderes Gepräge den Liedern, deren Text die trunkenen, zänkischen Menschen in den Moskauer Schänken karikierte. Oft versuchte er durch äußere Rauheit und Grobheit seine zarte, hilflose Seele zu verbergen und sich gegen die Härte des Zeitalters, in welchem er lebte, zu schützen, jedoch gelang ihm letzteres nicht ganz. Die Härte der Wirklichkeit besiegte ihn. Am 27. Dezember 1925 gestand er sich seine Unterlegenheit ein, ohne Herausforderung oder Vorwurf. – Von der angenommenen äußeren Form müssen wir hier einiges sagen, weil Essenin die raue, derbe Art, sich zu geben, nicht einfach aus Gefallen an dieser Art annahm, sondern sie aus dem alles andere als zarten und weichen Zeitalter in sich aufsog. Sich unter der Maske des Händelsuchenden verbergend, und ihr den inneren, d. h. nicht zufälligen Tribut zollend, war das Wesen Essenins weltfremd. Nicht zu seinem Lobe sei letzteres gesagt, denn,diese Weltfremdheit war der Grund, weshalb wir Essenin verloren haben. Aber wir wollen ihm auch das Weltfremde nicht zum Vorwurf machen; ist es denn möglich, dem Lyrischsten aller Dichter, den wir nicht für uns zu erhalten verstanden haben, noch hinterher Vorwürfe zu machen!

Unsere Zeit ist eine herbe, vielleicht die herbste in der Geschichte, der sogenannten zivilisierten Menschheit. Der Revolutionär, für diese Jahrzehnte geboren, ist von einem fanatischen Patriotismus seiner Epoche beherrscht. Essenin war kein Revolutionär. Der Autor von „Pugatschow" und der „Ballade der 26" war der intimste Lyriker. Unsere Epoche ist keine lyrische. Das ist der Hauptgrund, warum Sergej Essenin freiwillig und so früh uns und seine Epoche verließ.

Der Keim in ihm war volkstümlich und wie alles an ihm, war seine Volkstümlichkeit eine unverfälschte. Davon zeugt nicht das Poem vom Volksaufstand, sondern wiederum seine Lyrik. Verschiedene Beispiele derselben muten uns zuallererst wie unmotivierte Herausforderung an. Der Dichter zwang uns, das in ihm wurzelnde Bäurische zu fühlen und es in uns aufzunehmen. Die in ihm stark entwickelte, bäurische Veranlagung spiegelt sich verfeinert in seinen Dichtungen wider.

Aber aus dieser Veranlagung entsteht der Zwiespalt, die persönliche Schwäche Essenins; aus dem Alten ist er entwurzelt und in dem Neuen konnte er keine Wurzeln schlagen. Die Stadt hat ihn nicht gefestigt, sondern ihn innerlich verwundet und haltlos gemacht. Die Reisen in andere Länder, in Europa und übers Meer haben ihn nicht ausgeglichen. Teheran hat auf ihn einen viel tieferen Eindruck gemacht als New York. In der persischen volkstümlichen Lyrik fand er viel mehr Wesensverwandtes, als in den Kulturzentren Europas und Amerikas. Essenin war der Revolution nicht feindlich gesinnt und keinesfalls ihr fremd.

Die Revolution drückte ihren Stempel auch auf die Struktur und die Form seiner Gedichte auf. Mit dem Niedergang des Alten verlor er nichts und trauerte der Vergangenheit nicht nach. Nein, der Dichter war der Revolution nicht fremd, er war ihr nur nicht wesensverwandt. Essenin war innerlich, zart und lyrisch – die Revolution öffentlich, episch und katastrophal. Daher brach das kurze Leben des Poeten mit einer Katastrophe ab!

Jemand sagte, dass jeder in sich die Feder, die Spirale seines Schicksals trägt, und dass das Leben diese Spirale bis zu Ende aufrollt. Darin liegt nur eine teilweise Wahrheit. Die schaffende Feder Essenins stieß, sich aufrollend, auf die Grenzen der Epoche und sprang.

Er hat eine Anzahl Gedichte, die von der Epoche inspiriert sind, hinterlassen. Sein ganzes Schaffen ist von ihr beeinflusst. Und gleichzeitig erscheint er uns wie aus einer anderen Welt. Er ist nicht der Poet der Revolution.

Seine lyrische Spirale hätte sich nur unter harmonischen Bedingungen bis zu Ende entfalten können, wenn er unter glücklichen unbeschwerten Menschen, die nur Freundschaft, Liebe und Anteilnahme kennen, hätte leben können.

Nach der gegenwärtigen Epoche, in deren Innerem sich noch viel unerbittliche und erlösende Kämpfe der Menschen untereinander verbergen, werden andere Zeiten kommen, und zwar solche Zeiten, die durch den herrschenden Kampf vorbereitet werden. Die menschliche Persönlichkeit wird neu erstehen und mit ihr die Lyrik. Die Revolution wird für jeden Menschen das Recht nicht nur auf Brot, sondern auch auf Lyrik erkämpfen.

Wem schrieb Essenin mit seinem Blute in seiner letzten Stunde? Vielleicht dachte er an den Freund, der noch nicht geboren ist, an den Menschen der Zukunft, welchen die einen durch Kampf gestalten, Essenin – durch seine Lieder. Der Dichter ging unter, weil er der Revolution wesensfremd war, aber im Namen der Zukunft wird sie ihn stets als ihr Kind betrachten.

Seiner innerlichen Hilflosigkeit sich bewusst, sehnte sich Essenin schon in seinen ersten Schaffensjahren nach dem Tode. Nur jetzt, nach seinem Sterben können wir alle, die wir ihn wenig oder gar nicht kannten, seine verinnerlichte, aufrichtige Lyrik schätzen, deren Gedichte fast alle mit dem Blute seiner verwundeten Seele geschrieben sind. Um so schwerer ist der Verlust. Unser tiefer Schmerz findet in dem Bewusstsein Trost, dass dieser prachtvolle, einzige Dichter unsere Epoche auf seine Weise festgehalten und bereichert hat.

Die Ehrung des Dichters soll durch nichts getrübt werden.

Die Spirale, die vom Schicksal in unsere Epoche hineingelegt wurde, ist unvergleichlich mächtiger, als die, die in jedem Menschen ist. Die Spirale der Geschichte wird sich ganz und gar aufrollen. Man soll sich ihr nicht entgegenstellen, sondern bewusst und durchdacht die Zukunft vorbereiten.

Der Poet ist tot. Es lebe die Poesie! Ein hilfloses Menschenkind stürzte in den Abgrund! Es lebe das schaffende Leben, in das bis zum letzten Atemzug Sergej Essenin die kostbaren Fäden seiner Poesie verwob.

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