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Leo Trotzki 19260117 Die bevorstehenden Verhandlungen zwischen der Sowjetunion und Frankreich

Leo Trotzki: Die bevorstehenden Verhandlungen zwischen der Sowjetunion und Frankreich

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 6. Jahrgang Nr. 19 (26. Januar 1926), S. 263 f.]

In kurzer Zeit steht – wenn nicht in Frankreich irgendwelche Regierungsüberraschungen eintreten – die Eröffnung der offiziellen Verhandlungen zwischen der Sowjetunion und Frankreich bevor.

Die Sache hat sich bekanntlich ein wenig verzögert. Als Herr Herriot im Jahre 1923 nach Moskau reiste, spie er Feuer und Flamme gegen den Nationalen Block, der es nicht verstünde, die notwendigen Verbindungen mit der Sowjetrepublik herzustellen. Als Herr Herriot in die Regierung gelangte, sabotierte er eifrig die Entwicklung der Beziehungen zwischen Frankreich und der Sowjetunion. Herr Painlevé brachte die Sache nicht um einen Schritt weiter. Es gingen also durch die Bemühungen des Linksblocks ungefähr zwei Jahre verloren. Jetzt scheint es, dass die Sache auf das Geleise der offiziellen und zugleich sachlichen Verhandlungen gebracht wird.

Außerordentliche Hoffnungen wären natürlich unangebracht. Es besteht Grund zur Befürchtung, dass es auf Seite der Franzosen Versuche geben wird, an die Sache nicht vom Standpunkte der Wirtschaftsinteressen Frankreichs heranzugehen, sondern vom Standpunkte des Rentiers, der auf Zarismus spekuliert und sich die Finger verbrannt hat. Wir wollen jedoch auf praktische Ergebnisse der Verhandlungen hoffen. Jedenfalls tun wir alles, um sie zu erreichen. Eine notwendige Bedingung hierfür ist volle Klarheit bei der Fragestellung. Durch Verwischung der Gegensätze, durch Worte, allgemeine Redensarten, gefühlsmäßige Redereien von Freundschaft kann die Sache auch nicht einen Schritt vorwärts gebracht werden. Es ist eine genaue und konkrete Aufstellung der Ziele und eine sachliche Bestimmung der Wege, die zu ihnen führen, notwendig.

Vor allem müssen die Leute, die mit uns unterhandeln, verstehen, dass wir nach wie vor den Standpunkt des Legitimismus in Bezug auf Zarenschulden glatt abweisen. Das Dekret vom 21. Januar 1918, das die alten Schulden für annulliert erklärt hatte, verbleibt in voller Kraft, und wir sind weniger denn je gewillt, es abzuschaffen.

Wenn man aber an die Vergangenheit vom Standpunkte der materiellen Interessen der Völker der Sowjetunion und Frankreichs wird herangehen wollen, so wird es notwendig sein, hier sofort zwei große Rechnungen einander gegenüberzustellen. In der einen wird sich eine Aufzählung der Verluste befinden, die die französischen Kapitalisten infolge der Oktoberrevolution und deren sozialistischen Maßnahmen erlitten haben; in der zweiten eine Aufzählung der Verluste, die die Sowjetrepublik durch die Jahre der Intervention, des Bürgerkrieges und der Blockade unter der Leitung der Herren Clemenceau, Millerand und anderer erlitten hat. Wir haben das volle Recht, dem noch die Rechnung für den Krieg hinzuzufügen. Wenn im Jahre 1914 das zaristische Russland Frankreich und England erklärt hätte, dass es sie im Verlaufe von drei Jahren mit seinen Truppen unterstützen, dabei Millionen Leute verlieren, im Interesse der Verbündeten seine Wirtschaft verwüsten und an der Teilung der Beute keinen Anteil nehmen werde, so hätten England und Frankreich nicht nur auf alle alten Schulden Verzicht geleistet, sondern auch neue finanzielle Verpflichtungen von unbegrenzten Ausmaßen auf sich genommen.

Wenn unsere Kontrahenten, statt dass sie eine neue Seite eröffnen, die Rechnung für die Vergangenheit auszutragen beginnen wollen, wir werden uns nicht weigern! Das Aktivsaldo wird sich unstreitig um viele Millionen zu unseren Gunsten erweisen. Wer davon nicht überzeugt ist, den verweisen wir auf das vor kurzem erschienene Buch: „Wer ist der Schuldner?" (Sammelbuch von mit Dokumenten belegten Artikeln über die Frage der Beziehungen zwischen Russland, Frankreich und den anderen Ententestaaten vor dem Kriege des Jahres 1914, während des Krieges und dem Zeiträume der Intervention. Luftflottenverlag, Moskau, 1926). Wenn man es von uns verlangen wird, werden wir eine Liste der Verbrechen aufrollen, die seit dem Jahre 1914 an den Völkern Russlands im Interesse der herrschenden Klassen der Ententeländer, das heißt letzten Endes im Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika verübt worden sind. Wir sind für die Frage: Wer ist wem etwas schuldig? hinreichend gerüstet. Zugleich zweifeln wir nicht daran, dass die Fragestellung auf dieser Plattform nur ein Ergebnis haben könnte: Wir würden von neuem wegen der Vergangenheit auseinandergehen, ohne etwas für die Zukunft getan zu haben.

Wir gehen anders an die Sache heran. Die Wirtschaft der Sowjetunion wie auch die Wirtschaft Frankreichs stellen lebendige Organismen mit ihren lebendigen Bedürfnissen dar. Beim bescheidensten Vorrate von gesundem Sinne und wirtschaftlicher Voraussicht ist es möglich, solche Formen wirtschaftlicher Gegenseitigkeitsbeziehungen zu finden, die beiden Seiten große Vorteile bringen.

Wir sind durchaus nicht geneigt, auf den Ankauf von französischen Maschinen nur deshalb zu verzichten, weil 1½ Millionen russischer Soldaten wegen der schönen Augen der französischen Bourgeoisie ins Gras gebissen haben, oder deshalb, weil der vom Chauvinismus trunkene Nationale Block sich bemüht hat, unser Land im Chaos des Bürgerkrieges, des Hungers und der Epidemien zugrunde zu richten. Die französische Maschine trägt keinerlei Verantwortung für diese Verbrechen; wenn diese Maschine gut ist, und wenn die Bedingungen, unter denen sie uns verkauft werden kann, den Interessen unserer Wirtschaft entsprechen, werden wir diese Maschine kaufen und für sie jedenfalls nicht weniger zahlen als andere. Hier ist der Mittelpunkt der Frage: Kann und will die französische Regierung solche Bedingungen schaffen, unter denen der französische Maschinenbau für den Markt der Sowjetunion arbeiten würde?

Unsere Wirtschaft wächst stürmisch. Dies bedeutet gleichzeitig zwei Dinge: Erstens, dass wir Kredite benötigen; zweitens, dass wir die Möglichkeit haben, auf sie Anspruch zu erheben. Es handelt sich natürlich um langfristige Kredite, die sich aus den Lieferungen von Schwerausrüstung ergeben.

Freilich, die ebenso bösartige wie unwissende Presse unserer Feinde hat jetzt ihre Predigten über unseren „unvermeidlichen" Bankrott vertieft. Ein Nährboden für diese Prophezeiungen sind unsere Schwierigkeiten mit der Ausfuhr und der Währung. Es versteht sich, wenn irgendeine Regierung oder eine ernste Gruppe von Bankiers und Industriellen behauptet, dass wir dem Bankrott entgegengehen, so wird es das Beste sein, wenn sie weder sich noch uns mit nutzlosen Verhandlungen beschweren. Einen Kandidaten für den Bankrott gewährt man keine Kredite. Es ist aber noch aussichtsloser, von ihm Zahlungen alter Schulden zu erwarten.

Die französische Regierung ist, wie wir hoffen, nicht geneigt, den düsteren Voraussagungen zu glauben, die von den Emigrantencliquen ausgehen, von den Kellern von Scotland Yard (Sitz der englischen politischen Polizei. Die Redaktion.) und von den am meisten enttäuschten Besitzern von Papieren aus der Zarenzeit. Die französische Regierung versteht, wie wir hoffen, dass unser Wachstum gerade in unseren Schwierigkeiten mit der Ausfuhr und mit der Währung am schärfsten zutage tritt. Unsere Industrie, die schon mit der Spitze das Vorkriegsniveau erreicht hat, bleibt nichtsdestoweniger hinter der Entwicklung der Volkswirtschaft als Ganzes zurück, und die Ausfuhr von Produkten der Landwirtschaft wird durch den Mangel an Industriewaren trotz des ungeheuren Anwachsens letzterer aufgehalten.

In den kapitalistischen Ländern haben die wirtschaftlichen Schwierigkeiten einen zersplitterten Charakter, bei uns einen konzentrierten. In Deutschland z. B. gelangen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Bankrott vieler tausender Unternehmungen zum Ausdruck. Bei uns hat der Staat für 97% der großen und mittleren Industrieunternehmungen, für den Transport, für die Banken die Verantwortung, wobei er keines von ihnen zum Bankrott gelangen lässt Dies bedeutet, dass alle Schwierigkeiten unserer Werke, Fabriken, Banken, Eisenbahnen. Schächte und Bergwerke auf den Staat drücken.

Ist es zu verwundern, wenn beim Prozesse der Führung der nationalisierten, vergenossenschafteten und in gewissem Ausmaße auch der bäuerlichen Wirtschaft unser Staat Schwierigkeiten auf dem Gebiete der Währung und auf allen möglichen anderen Gebieten erfährt. Jede kapitalistische Firma, jeder blühende amerikanische Trust, jedes Monopolsyndikat kennen Zeitabschnitte großer Flauten, des Mangels an Zahlungsmitteln usw. Unser Staat aber ist eine Firma von Firmen, ein Trust von Trusts und ein Syndikat von Syndikaten. Sachkundige und ernsthafte Leute müssen sich eher darüber wundern, dass unsere Schwierigkeiten – bei dem schnellen Aufschwunge der Wirtschaft und dem Mangel an auswärtigen Krediten – einen so milden, einen so wenig krankhaften Charakter tragen. Wir wollen hoffen, dass die französische Regierung auf dem Standpunkte sachverständiger und ernsthafter Leute steht. Nur unter dieser Bedingung haben Verhandlungen einen Sinn.

Wir brauchen langfristige Kredite, Valuta- und Warenkredite. Wir wissen, dass die schwere Lage der französischen Finanzen die Möglichkeit von Geldanleihen auf das äußerste einschränkt. Wir wissen aber auch, dass die Produktivkräfte der französischen Industrie während des Krieges sehr gewachsen sind und durchaus nicht voll ausgenützt werden, und dass die Schwierigkeiten in dieser Richtung in den nächsten Jahren nur anwachsen werden. Darum werden sich jedenfalls die „Verbündeten" Frankreichs sorgen, in erster Linie die Vereinigten Staaten von Amerika. Frankreich braucht einen Hauptkäufer für die Produkte seiner Industrie. Wir benötigen für unsere Neuausrüstung Produkte des französischen Maschinenbaues unter Bedingungen langfristigen Kredites, wofür wir die Absicht haben, fristgemäß in Barem zu zahlen. Unsere Verpflichtungen erfüllen wir zu 100%.

Kredit wird nicht umsonst gegeben, das wissen wir, nicht nur aus den Lehrbüchern der Volkswirtschaft. Wir sind bereit, für den Kredit zu zahlen. Und da unsere Bedürfnisse große sind, da wir schnell anwachsen, und da wir in fünf, sieben, zehn Jahren unermesslich reicher sein werden als jetzt, so sind wir bereit, hohe Zinsen zu zahlen. Wenn die leitenden Kreise Frankreichs es für zweckmäßig halten werden, einen Teil dieser Zinsen auf die Rechnungen dieser oder jener Besitzer von ausgelosten russischen Papieren zu überführen, werden wir keine Einwände erheben. Ehrlich gestanden, das interessiert uns nicht. Wir sind bereit, für den uns nötigen Kredit pünktlich und leider auch nicht billig an die französische Bourgeoisie zu zahlen und wie sie den Tribut in ihrem eigenen Kreise verteilen wird das betrifft uns dem Wesen nach schon nicht mehr. Die Frage für uns besteht nur in der Höhe der Zinsen. Wir können nicht Verbindlichkeiten übernehmen, die unsere Wirtschaft nicht leisten kann. Wir werden nur eine solche Verständigung annehmen die uns helfen wird, den Aufschwung unserer Wirtschaft zu beschleunigen.

Um unseren Gedanken zu voller Klarheit zu bringen nehmen wir ein zahlenmäßiges Beispiel. Selbstverständlich kann es sich bei dem jetzigen Stadium nur um ein Beispiel handeln, bei dem alle Ziffern willkürlich sind. Nehmen wir an, dass wir in Frankreich einen kombinierten (Valuta- und Waren-) Kredit für die bescheidene Summe von 300 Millionen Rubel erhalten. Nehmen wir an, dass der Marktwert dieses Kredits 7% jährlicher Zinsen beträgt. Nehmen wir weiter an. dass die französische Regierung uns folgendes sagt: Unter den gegebenen konkreten Verhältnissen können wir, gebunden durch die „öffentliche Meinung" unserer Rentiers, Euch diesen Kredit nur unter Bedingungen von nicht weniger als 11% Jahreszinsen geben, wobei wir – die französische Regierung – 4% unmittelbar in unsere Hände zur Verrechnung mit den oben erwähnten Rentiers erhalten. Dies bedeutet, dass die Sowjetregierung jährlich als Zinsen und Abstattung nicht 21 Millionen, sondern 33 Millionen zu zahlen hätte, von denen die französische Regierung 12 Millionen unter den Besitzern von alten Papieren verteilen würde. 21 Millionen aber zur Entschädigung für die neu erhaltenen Kredite einlaufen würden.

Eine solche Kombination erscheint uns keineswegs ideal: Eine jährliche Belastung von 12 Millionen Rubel schließt nichts Anziehendes in sich. Da wir aber die Kredite benötigen, und da wir an einer möglichst großzügigen Entwicklung der Wirtschaftsverbindungen mit Frankreich interessiert sind, könnten wir auf einen solchen Handel eingehen. Wir würden dabei jedoch folgende Bedingung stellen: Die Jahreszahlungen müssen so verteilt werden, dass wir in den nächsten Jahren unseres, wirtschaftlichen Aufschwunges die geringsten Summen zu zahlen hätten, entsprechend dem von uns durchgemachten Zeitabschnitte des Überganges von der Verwüstung und dem Elend zum Wohlstand und zum Reichtum des Volkes.

Wir wiederholen es noch einmal: Die von uns angeführten Ziffern sind völlig willkürlich. Über sie, über diese Ziffern muss in Paris am meisten gesprochen werden. Und zugleich damit muss unsere Industrie die französische sondieren, der durchaus nicht verwehrt – im Gegenteil empfohlen – wird, darauf durch eine Gegensondierung zu antworten.

Man kann uns einwenden, dass Kredite, besonders Industriekredite, eine Frage einer privaten Verständigung mit den entsprechenden französischen Firmen sind. Die Frage über die alten „Verpflichtungen" muss den Inhalt der Regierungsverhandlungen bilden. Aber eine solche Antwort ist für uns wenig überzeugend. Die französische Regierung kann Kredite erleichtern, kann sie auch erschweren. Die französische Industrie bedarf eines Hauptabnehmers. Die französische Regierung kann nicht eine neutrale Stellung annehmen, und schon gar nicht die einer nicht wohlwollenden Neutralität gegenüber den Interessen der französischen Industrie, die – in den entsprechenden Punkten – mit den Interessen der Volkswirtschaft der Sowjetunion zusammenfallen.

Die einen Verhandlungen kann man sehr gut mit den anderen verbinden. Der französischen Regierung sind die Telefonnummern der französischen Banken und Maschinenbaufirmen bekannt. Letzteren sind, wie wir glauben, die Telefonnummern des Außenministeriums bekannt, sogar auch die Nummer des persönlichen Telefons des Herrn Briand. Die Frage lässt sich regeln. Dazu sind nur notwendig: wirtschaftlicher Weitblick (das heißt nicht der Horizont des beleidigten Rentiers) und guter Wille. Bei uns ist das Eine und das Andere vorhanden. Wenn wir diese Eigenschaften auf Seite der jetzigen Leiter Frankreichs finden werden, dann werden die Verhandlungen kurz und erfolgreich sein. Wir wünschen dies aufrichtig.

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