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Leo Trotzki 19261126 Thesen über Revolution und Konterrevolution (Auszug)

Leo Trotzki: Thesen über Revolution und Konterrevolution (Auszug)

[Nach Die Linke Opposition in der Sowjetunion, Band V. Westberlin 1977, S. 24-26]

1.) Auf Revolutionen folgten in der Geschichte immer Konterrevolutionen. Konterrevolutionen haben die Gesellschaft immer zurückgeworfen, jedoch niemals bis zum Ausgangspunkt der Revolution zurück. Die Aufeinanderfolge von Revolutionen und Konterrevolutionen ist das Produkt gewisser grundlegender Züge im Mechanismus der Klassengesellschaft, der einzigen Gesellschaft, in der Revolutionen und Konterrevolutionen überhaupt möglich sind.

2.) Die Revolution ist ohne Beteiligung der Massen unmöglich. Diese Beteiligung ist ihrerseits nur möglich, wenn die unterdrückten Massen ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft mit dem Gedanken der Revolution verbinden. In gewisser Hinsicht sind die durch die Revolution hervorgerufenen Hoffnungen immer übersteigert. Dies ist den Mechanismen der Klassengesellschaft geschuldet, der erbärmlichen Lage der überwältigenden Mehrheit der Volksmassen, der objektiven Notwendigkeit, die größten Hoffnungen und Anstrengungen zusammenzufassen, um wenigstens den bescheidensten Fortschritt zu erlangen, usw.

3.) Aus denselben Bedingungen aber erwächst eines der wichtigsten – und, darüber hinaus, eines der alltäglichsten – Elemente der Konterrevolution. Die im Kampf gewonnenen Errungenschaften entsprechen nicht – und können das der Natur der Sache nach auch nicht unmittelbar – den Erwartungen der breiten, rückständigen Massen, die im Verlauf der Revolution zum ersten Mal erwacht sind. Die Ernüchterung dieser Massen, ihre Rückkehr zu Routine und Aussichtslosigkeit, ist genauso integraler Bestandteil der nachrevolutionären Periode wie das Überwechseln jener nun „zufriedengestellten" Klassen oder Schichten, die von der Revolution profitiert haben, ins Lager von „Ruhe und Ordnung".

4.) Eng mit diesen Veränderungen verknüpft, finden parallele Prozesse von unterschiedlichem, in großem Maße entgegengesetztem Charakter im Lager der herrschenden Klasse statt. Das Erwachen der breiten, rückständigen Massen wirft die herrschenden Klassen aus ihrem vertrauten Gleichgewicht, beraubt sie der direkten Unterstützung und des Selbstvertrauens und befähigt auf diese Weise die Revolution, weit mehr in Angriff zu nehmen, als später gehalten werden kann.

5.) Die Enttäuschung eines beträchtlichen Teils der unterdrückten Massen über die unmittelbaren Errungenschaften der Revolution und – in direktem Zusammenhang damit – das Nachlassen der politischen Energie und Aktivität der revolutionären Klasse ruft eine Wiederbelebung der Zuversicht bei den konterrevolutionären Klassen hervor – sowohl bei denen, die von der Revolution überwältigt, aber nicht völlig geschlagen wurden, als auch bei jenen, die die Revolution eine Zeitlang unterstützten, durch deren weitere Entwicklung aber ins Lager der Reaktion zurückgeworfen wurden. (…)

20.) Es wäre verhängnisvoll, die Tatsache zu übersehen, dass das Proletariat heute (1926) für revolutionäre Perspektiven und umfassende Verallgemeinerungen weit weniger empfänglich ist, als während der Oktoberrevolution und in den Jahren unmittelbar danach. Die revolutionäre Partei kann sich nicht passiv jedem Stimmungswandel der Massen anpassen. Sie darf aber auch nicht aus tiefgreifenden historischen Ursachen herrührende Veränderungen ignorieren.

21.) Die Oktoberrevolution weckte in größerem Ausmaß als irgendeine andere Revolution in der Geschichte die stärksten Hoffnungen und Leidenschaften der Volksmassen, vor allem der proletarischen Massen. Nach den unermesslichen Leiden der Jahre 1917-21 hat sich das Los der Arbeiter beträchtlich verbessert. Voller Hoffnung in eine Weiterentwicklung wissen sie diese Verbesserung hoch einzuschätzen. Aber gleichzeitig haben sie die außerordentliche Schwerfälligkeit erfahren, mit der dieser Fortschritt eintrat, der ihnen bisher lediglich wieder den Lebensstandard der Vorkriegszeit beschert hat. Diese Erfahrung ist von unermesslicher Bedeutung für die Massen, besonders für die ältere Generation. Sie ist vorsichtiger und skeptischer geworden, weniger direkt empfänglich für revolutionäre Losungen, weniger aufnahmebereit für allzu starke Verallgemeinerungen. Diese Stimmungen, die sich nach den schweren Prüfungen des Bürgerkriegs und nach den Erfolgen des ökonomischen Wiederaufbaus ausbreiteten und die bis heute noch nicht durch einen neuerlichen Umschwung im Kräfteverhältnis der Klassen zerstreut worden sind, bilden den fundamentalen politischen Hintergrund des Parteilebens. Dies sind die Stimmungen, auf die der Bürokratismus – als ein Element von „law and order" und „Ruhe" – baut. Der Versuch der Opposition, neue Fragen in die Partei zu tragen, richtet sich genau gegen diese Stimmungen.

22.) Die ältere Generation der Arbeiterklasse, die an zwei Revolutionen, wenigstens aber an der letzten, die 1917 begann, teilgenommen hat, ist heute nervös, erschöpft und großenteils voller Furcht vor allen Erschütterungen, die mit der Aussicht auf Krieg, Verwüstung, Hunger, Epidemien usw. verbunden sind.

Die Theorie der Permanenten Revolution wird nun zu dem Zweck missbraucht, gerade auf diese psychologische Verfassung eines beträchtlichen Teils der Arbeiter zu spekulieren, die zwar keineswegs Spießer geworden sind, sich aber doch eingerichtet und Familien gegründet haben. Die Version der Theorie, die dazu benutzt wird, steht natürlich nicht im geringsten Zusammenhang mit den alten Auseinandersetzungen, die seit langem in den Archiven verschwunden sind, sondern beschwört lediglich das Gespenst neuen Aufruhrs – heroischer „Überfälle", Verletzungen von „law and Order", einer Bedrohung der Errungenschaften der Aufbauperiode, einer neuerlichen Epoche großer Anstrengungen und Opfer. Indem die Permanente Revolution solcherart missbraucht wird, spekuliert man auf die Stimmungen jener in der Arbeiterklasse, einschließlich der Parteimitglieder, die selbstgefällig, satt und halb konservativ geworden sind. (…)

24.) Der jungen Generation, die jetzt heranwächst, fehlt es an Erfahrung im Klassenkampf und am notwendigen revolutionären Temperament. Sie braucht nicht ihren eigenen Weg zu suchen, wie die vorhergehende Generation, sondern wächst direkt in ein Milieu mächtigster Partei- und Regierungsinstitutionen, Parteitradition, Autorität, Disziplin, usw. hinein. Diese Umstände erschweren es der jungen Generation, eine unabhängige Rolle zu spielen. Der Frage einer richtigen Orientierung dieser jungen Generation von Partei und Arbeiterklasse kommt eine immense Bedeutung zu.

25.) Parallel zu den oben aufgezeigten Prozessen fand eine außerordentliche Aufwertung der Rolle statt, die eine besondere Sorte alter Bolschewiki in Partei und Staatsapparat spielt; diese waren während der 1905er Periode Parteimitglieder oder nahmen aktiv an der Parteiarbeit teil; sie verließen in der darauffolgenden Phase der Reaktion die Partei, passten sich dem bürgerlichen Regime an und spielten in ihm eine mehr oder weniger herausragende Rolle; sie waren wie die gesamte bürgerliche Intelligenz Abwiegler und wurden gemeinsam mit letzterer in die Februarrevolution hineingezogen (von der sie zu Beginn des Krieges nicht einmal träumten); sie waren beharrliche Gegner des Leninschen Programms und der Oktoberrevolution; sie kehrten dann aber in die Partei zurück, nachdem deren Sieg gesichert war und sich das neue Regime gefestigt hatte – zu der Zeit etwa, als auch die bürgerliche Intelligenz ihre Sabotage beendete. Diese Elemente … sind selbstverständlich Elemente des konservativen Typs. Sie sind im allgemeinen für eine Stabilisierung und gegen jedwede Opposition. Die Erziehung der Parteijugend befindet sich weitgehend in ihrer Hand.

So sieht die Kombination jener Umstände aus, die in der jüngsten Periode der Parteientwicklung den Wechsel in der Parteiführung und den Umschwung der Parteipolitik nach rechts verursachten.

26.) Die offizielle Annahme der Theorie des „Sozialismus in einem Lande" signalisiert die theoretische Absegnung dieses bereits vorher stattgefundenen Umschwungs und den ersten offenen Bruch mit der marxistischen Tradition.

27.) Die Elemente bürgerlicher Restauration liegen a) in der Lage der Bauern begründet, die zwar nicht die Rückkehr der Grundbesitzer wollen, aber gleichzeitig noch nicht materiell am Sozialismus interessiert sind (daher die Bedeutung unserer politischen Bande zur armen Bauernschaft); b) in den Stimmungen bedeutender Schichten der Arbeiterklasse, im Rückgang der revolutionären Energie, in der Erschöpfung der älteren Generation und im wachsenden spezifischen Gewicht der konservativen Elemente.

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