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Leo Trotzki u a 19260700 Erklärung der Dreizehn

Leo Trotzki u a: Erklärung der Dreizehn

An die Mitglieder des ZK und der ZKK

[Nach Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-28. Band IV 1926. West-Berlin 1976, S. 71-85]

Die offensichtlich drohenden Erscheinungen, welche in der letzten Zeit immer mehr im Parteileben beobachtet werden können, erfordern eine aufmerksame und gewissenhafte Einschätzung. Trotz aller von oben kommenden Versuche, einen gewissen Teil der Partei von den Arbeitermassen zu isolieren und ihn vom rein parteimäßigen Wege abzustoßen, glauben wir unerschütterlich an die Wahrung der Einheit der Partei. Und deshalb wollen wir mit aller Geradheit, Deutlichkeit und sogar Schärfe hier unsere Ansichten über die Grundursachen der Krankheitserscheinungen auseinandersetzen, welche die Partei bedrohen, ohne etwas zu verschweigen, ohne etwas zu vertuschen oder abzuschwächen.

1. Der Bürokratismus als Quelle des Fraktionismus

Die erste Ursache der sich immer mehr verschärfenden Krise in der Partei liegt im Bürokratismus, der während der Periode nach dem Tode Lenins ungeheuerlich gewachsen ist und fortwährend weiterwächst.

Das ZK, welches die Partei regiert, besitzt zur Einwirkung auf die Partei nicht nur ideologische und organisatorische, d. h. nicht nur parteimäßige, sondern auch staatliche und wirtschaftliche Mittel. Lenin berücksichtigte stets die Gefahr, dass die Konzentration der administrativen Gewalt in den Händen des Parteiapparates zum bürokratischen Druck auf die Partei führen wird. Gerade damals entstand die Idee von Wladimir Iljitsch über die Organisation der Kontrollkommissionen, welche, ohne in ihren Händen Verwaltungsgewalt zu haben, jede notwendige Gewalt zum Kampfe gegen den Bürokratismus, zur Verteidigung der Rechte der Parteigenossen, frei heraus ihre Meinung zu sagen und ihrem Gewissen nach abzustimmen, ohne Straffolgen befürchten zu müssen, haben sollten.

Eine besonders wichtige Aufgabe der Kontrollkommissionen im gegenwärtigen Moment", so lautet ein Beschluss der Parteikonferenz vom Januar 1924, „ist der Kampf gegen die bürokratische Degeneration des Parteiapparates und der Parteipraxis und die Verantwortlichmachung von Funktionären der Partei, welche der Durchführung des Prinzips der Arbeiterdemokratie in der Praxis der Parteiorganisationen Hindernisse in den Weg legen (Einengung der freien Meinungsäußerung in den Versammlungen, nicht durch das Statut vorgesehene Beschränkung der Wählbarkeit usw.)."

In Wirklichkeit aber, und das muss hier vor allem gesagt werden, ist die zentrale Kontrollkommission selbst ein rein administratives Organ geworden, welches der Unterdrückung von Seiten der anderen bürokratischen Organe zu Hilfe kommt und für diese den meistens sich mit Strafen beschäftigenden Teil der Arbeit ausführt, indem sie jeden selbständigen Gedanken in der Partei verfolgt, jede Stimme der Kritik, jede laut ausgesprochene Besorgnis über die Schicksale der Partei, jede kritische Bemerkung über gewisse Führer der Partei.

Unter der innerparteilichen Arbeiterdemokratie", so lautet eine Resolution des 10. Parteitages [8.-16. 3. 1921], „wird eine solche Organisationsform der Durchführung der kommunistischen Parteipolitik verstanden, welche allen Mitgliedern der Partei bis zu den am meisten rückständigen die aktive Teilnahme am Parteileben garantiert, an der Besprechung aller Fragen, und ebenso die aktive Teilnahme am Aufbau der Partei. Die Form der Arbeiterdemokratie schließt aus: jegliche Art der Einsetzung von Funktionären als System und findet ihren Ausdruck in einer breiten Wählbarkeit aller Instanzen von unten bis oben, in ihrer Verantwortlichkeit, Kontrollierbarkeit usw."

Nur ein von diesen Prinzipien durchtränktes Parteiregime kann in Wirklichkeit die Partei vor Fraktionismus bewahren, welcher mit den Lebensinteressen der Diktatur des Proletariats unvereinbar ist. Den Kampf gegen das Fraktionswesen von der Frage über das Parteiregime abzutrennen, bedeutet das Wesen der Angelegenheit verzerren, die bürokratischen Perversionen nähren und folglich auch das Fraktionswesen.

Die Resolution vom 5. Dez. 1923, welche seinerzeit einstimmig angenommen wurde, weist direkt darauf hin, dass der Bürokratismus, indem er die Freiheit der Meinung unterdrückt, die Kritik tötet, unvermeidlich gewissenhafte Parteimitglieder auf den Weg der Verschlossenheit [Absonderung], des Fraktionismus stößt". Die Richtigkeit dieses Hinweises wird vollständig bestätigt durch die Ereignisse der letzten Zeit, insbesondere durch den „Fall" der Gen. Laschewitsch, Bjelenki, Tschernyschow und anderer. Es wäre eine verbrecherische Blindheit, diesen Fall darzustellen als Ergebnis eines bösen Parteiwillens einer Einzelperson oder einer Einzelgruppe. In Wirklichkeit haben wir hier eine offenkundige und unbezweifelbare Folge des herrschenden Kurses vor uns, bei welchem man nur oben redet und unten zuhört und für sich etwas anderes denkt, abgetrennt, unter der Decke. Die Unzufriedenen, die Nicht-Einverstandenen oder die Zweifelnden fürchten sich, ihre Stimme in Parteiversammlungen zu erheben. Die Parteimasse hört lediglich die Reden der Parteiobrigkeit, immer nach einem und demselben Klischee. Der gegenseitige Zusammenhang und das Vertrauen zur Leitung werden schwach.

In der Versammlung herrscht eine beamtenmäßige Stimmung und die damit unvermeidlich zusammenhängende Indifferenz. Zum Augenblick der Abstimmung bleibt häufig nur eine verschwindende Minderheit. Die Teilnehmer der Versammlung beeilen sich fortzugehen, um nicht gezwungen zu sein, für einen Beschluss zu stimmen, der von vornherein diktiert ist. Alle Resolutionen werden überall und stets nicht anders als „einstimmig" angenommen. Alles das spiegelt sich krankhaft wider im inneren Leben der Parteiorganisation. Die Parteimitglieder fürchten sich, ihre intimsten Gedanken, Wünsche und Forderungen laut auszusprechen. Hier liegt die Ursache des „Falles" der Gen. Laschewitsch usw.

2. Die Ursachen des Wachstums des Bürokratismus

Es ist vollkommen klar, dass die leitenden Zentren desto schwerer ihre Beschlüsse mit Methoden der Parteidemokratie durchführen können, je weniger die Avantgarde der Arbeiterklasse deren Politik [d. h. der Zentren] als ihre eigene begreift. Das Auseinandergehen der Richtung der Wirtschaftspolitik und der Richtung der Gefühle und Gedanken der proletarischen Avantgarde verstärkt unausweichlich das Bedürfnis, nach unten zu drücken, und gibt der ganzen Politik einen verwaltungstechnischen und bürokratischen Charakter. Alle anderen Erklärungen des Wachstums des Bürokratismus kommen erst in zweiter Linie und umfassen nicht den Kern der Frage.

Das Zurückbleiben der Industrie hinter der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes im Ganzen bedeutet, trotz des Wachstums der Anzahl der Arbeiter, eine Erniedrigung des spezifischen Gewichts des Proletariats in der Gesellschaft. Das Zurückbleiben der Industrieeinwirkung auf die Landwirtschaft und das rasche Wachstum des Kulakentums erniedrigen im Dorfe das spezifische Gewicht der Landarbeiter und der Dorfarmut, ihr Vertrauen zum Staate und zu sich selbst. Das Zurückbleiben des Arbeitslohnes hinter der Erhöhung des Lebensstandards der nichtproletarischen Elemente der Stadt und der Dorfspitze bedeutet unvermeidlicherweise eine Senkung des politischen und kulturellen Selbstgefühls des Proletariats als der herrschenden Klasse. Hieraus folgt speziell die offenkundige Verminderung der Aktivität der Arbeiter und der Dorfarmut bei den Wahlen zu den Sowjets, die eine aller ernsthafteste Warnung für unsere Partei bedeuten.

3. Lohnfragen

Während der letzten Monate wurde als Demagogie gebrandmarkt der Gedanke, dass wir mit allen Mitteln und Wegen in der Periode der wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Erhaltung des Reallohnes garantieren müssen, damit bei der ersten Verbesserung der Umstände man den Reallohn weiterhin erhöhen kann. Dabei ist eine solche Stellung der Frage für einen Arbeiterstaat in elementarer Weise obligatorisch. Die proletarische Masse in ihrem entscheidenden Kern ist genügend herangereift, um zu begreifen, was möglich und was nicht verwirklichbar ist. Wenn sie aber tagaus, tagein hört, dass wir wirtschaftlich wachsen, dass unsere Industrie eine stürmische Entwicklung durchmacht, dass alle Behauptungen über die Unzulänglichkeit des Tempos der industriellen Entwicklung falsch sind, dass die Entwicklung des Sozialismus von vornherein gesichert ist, dass jede Kritik unserer Wirtschaftsleitung auf Pessimismus und Unglauben usw. beruht, und wenn man ihr andererseits in den Kopf hämmert, dass die Forderung der Erhaltung des Reallohnes mit der Aussicht auf systematische weitere Erhöhung des Reallohnes eine Demagogie sei, so können die Arbeiter nicht begreifen, wie sich der beamtenmäßige Optimismus in den allgemeinen Perspektiven mit dem Pessimismus in den Lohnfragen verbinden lassen soll. Reden solcher Art müssen der Masse als Heuchelei erscheinen und untergraben in ihr das Vertrauen zu den offiziellen Quellen und wecken eine dumpfe Unruhe. Aus Misstrauen zu den offiziellen Mitteilungen, Versammlungen, Referaten und Abstimmungen entsteht bei vollkommen disziplinierten Parteigenossen das Bestreben, ohne und neben dem Parteiapparat zu erfahren, was eigentlich die Arbeitermasse jetzt für eine Luft atmet. Darin besteht eine ganz ernste Gefahr. Aber man muss nicht die Symptome der Krankheit kurieren, sondern die Wurzeln, insbesondere muss man die bürokratische Art der Behandlung der Lohnfragen schlagen.

Die Ablehnung des vollkommen berechtigten und absolut notwendigen Vorschlages auf dem Aprilplenum, den Reallohn zu sichern, war ein ganz offensichtlicher Fehler, der zur tatsächlichen Senkung des Reallohnes führte. Die Umlegung eines gewissen Teiles des Lohnes auf die landwirtschaftliche Steuer hat weitere Verschlechterungen herbeigeführt. Die Einwirkung dieser Tatsachen auf das alltägliche Leben und die Stimmung der Arbeiter ist noch verschlimmert durch die noch unrichtigere Durchführung des „Sparsamkeitsregimes". Der an und für sich vollkommen notwendige Kampf für ein richtigeres, gewissenhafteres, sorgfältigeres Umgehen mit Staatsmitteln hat infolge einer in der Wurzel unrichtigen Fragestellung, vor allem infolge der Abwesenheit des Auges der Arbeiter und der Bauern in dieser Sache, zu mechanischem Druck von oben nach unten geführt und letzten Endes zum Druck auf die Arbeiter, dabei auch noch auf die am wenigsten gesicherten und am schlechtesten bezahlten Schichten und Gruppen. Diesen dreifachen Fehler in Bezug auf den Lohn, die landwirtschaftliche Steuer und das Sparsamkeitsregime muss man energisch verbessern, und zwar sofort.

Man muss sofort herangehen an die Vorbereitung einer gewissen Lohnerhöhung im Herbst, angefangen bei den auf diesem Gebiete am meisten zurückgebliebenen Kategorien. Das ist bei der jetzigen Entwicklung unserer Wirtschaft und unseres Budgets durchaus möglich, trotz aller existierenden und bevorstehenden Schwierigkeiten. Mehl noch. Gerade zur Überwindung der Schwierigkeiten muss man vor allem die aktive Interessiertheit der Arbeitermassen an der Erhöhung der Produktionskraft unserer Staatsindustrie heben. Jede andere Politik würde die größte Kurzsichtigkeit bedeuten, nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich.

Man kann deshalb, ohne die Weigerung des jetzigen Plenums (des Juliplenums) als ganz großen Fehler anzuerkennen, die allgemeinen Fragen über die Lage der Arbeiter nicht stellen, ebenso wenig wie man genaue Direktiven geben kann in der äußerst wichtigen Frage über den Wohnungsbau für Arbeiter.

4. Die Frage der Industrialisierung

Das jetzige Jahr zeigt wiederum mit aller Klarheit, dass die Staatsindustrie zurückbleibt hinter der Entwicklung der Volkswirtschaft als Ganzes. Die neue Ernte trifft uns wieder ohne Warenreserven. Dabei ist aber die Entwicklung zum Sozialismus nur dann gesichert, wenn das Tempo der Entwicklung der Industrie nicht zurückbleibt hinter der allgemeinen Bewegung der Wirtschaft, sondern diese hinter sich herführt und systematisch das Land dem technischen Niveau der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder nähert. Alles muss dieser Aufgabe unterworfen sein, die in gleicher Weise für das Proletariat wie für die Bauernschaft lebenswichtig ist. Nur unter der Bedingung einer hinreichend mächtigen Entwicklung der Industrie kann man sowohl das Wachstum des Lohnes wie auch billige Waren für das Dorf garantieren. Es wäre sinnlos, einigermaßen grundlegende Berechnungen auf ausländischen Konzessionen aufzubauen, denen wir nicht nur keine leitende, sondern überhaupt keine bedeutende Stelle in unserer Wirtschaft einräumen können, ohne den sozialistischen Charakter unserer Industrie zu untergraben. Die Aufgabe besteht daher darin, mit Hilfe einer richtigen Politik der Steuern, der Preise, des Kredits usw. eine Verteilung der Akkumulation der Stadt und des Dorfes zu erreichen, bei welcher die Disproportion zwischen Industrie und Landwirtschaft möglichst rasch überwunden werden kann.

Wenn die Spitze des Dorfes die Möglichkeit hatte, das vorjährige Getreide bis zum jetzigen Frühjahr zurückzuhalten, und damit sowohl den Export wie den Import beschnitt, die Arbeitslosigkeit vergrößerte, die Detailpreise erhöhte, so heißt das, dass die Steuerpolitik wie überhaupt die Wirtschaftspolitik, welche den Kulaken die Möglichkeit gab, eine solche Linie gegen die Arbeiter und Bauern zu führen, falsch war. Eine richtige Steuerpolitik, zugleich mit einer richtigen Preispolitik, ist unter diesen Umständen der wichtigste Bestandteil einer sozialistischen Wirtschaftsleitung. Einige hundert Millionen akkumulierter Rubel, die sich schon jetzt in den Händen der Dorfspitzen konzentrieren, dienen zur wucherischen Versklavung der Dorfarmut. In den Händen von Kaufleuten, Vermittlern, Spekulanten sind bereits viele hundert Millionen von Rubeln angehäuft, die schon lange mehr als eine Milliarde ausmachen. Es ist notwendig, auf dem Wege eines energischen Steuerdruckes einen bedeutenden Teil dieser Mittel heranzuziehen zur Stärkung der Industrie, zur Befestigung des Systems des landwirtschaftlichen Kredits, zur Unterstützung der unteren Schichten des Dorfes mit Maschinen und Inventar bei Vorzugsbedingungen. Die Frage des Zusammenschlusses von Stadt und Land (Smytschka) unter den jetzigen Bedingungen ist vor allem die Frage der Industrialisierung.

Indessen sieht die Partei mit Besorgnis, wie die Resolution des 14. Parteitages [18.-31. 12. 1925] über die Industrialisierung in Wirklichkeit immer weiter zurückgeschoben wird, genauso, wie alle Resolutionen über die Parteidemokratie einfach in Nichts verwandelt worden sind. In dieser Grundfrage, von welcher Leben und Tod der Oktoberrevolution abhängen, kann und will die Partei nicht von beamtenmäßigen Traktätchen leben, welche häufig nicht von Interessen an der Sache, sondern von Interessen des Fraktionskampfes diktiert sind. Die Partei will die Sache kennen, durchdenken, nachprüfen, beschließen. Das jetzige Parteiregime hindert sie daran. Eben deshalb entsteht die heimliche Verbreitung von Parteidokumenten, der „Fall" Laschewitsch usw.

5. Die Politik im Dorfe

In den Fragen der landwirtschaftlichen Politik wird die Gefahr des Abweichens zu den Dorfspitzen hin immer deutlicher. Schon hört man einflußreiche Stimmen laut zugunsten dessen erklingen, dass die tatsächliche Leitung der landwirtschaftlichen Genossenschaften im Dorfe in die Hände des tatkräftigen Mittelbauern übergeben werden soll; dass die Sparkasseneinlagen des Kulaken unter voller Wahrung des Geschäftsgeheimnisses stehen sollen; dass bei unpünktlichen Entleihern, d. h. bei armen Bauern, das notwendigste landwirtschaftliche Inventar zwangsweise verkauft werden soll usw. usw. Das Bündnis mit den Mittelbauern verwandelt sich immer häufiger in einen Kurs auf den wohlhabendem Mittelbauern hin, der immer häufiger ein jüngerer Bruder des Kulaken ist.

Der sozialistische Staat hat als eine seiner Hauptaufgaben, die Dorfarmut auf dem Wege der Kooperation aus ihrer ausweglosen Lage zu führen. Die Unzulänglichkeit der Mittel des sozialistischen Staates selbst gibt keine Möglichkeit, auf einmal schroffe Änderungen herbeizuführen. Aber das gibt kein Recht, die Augen zu verschließen vor der wirklichen Lage der Dinge und die Dorfarmut zu füttern mit Moralpredigten über eine „Psychologie der Versorgungsberechtigung“, wobei man gleichzeitig mit dem Kulaken sich gut und friedlich stellt. Eine solche Einstellung die man in unserer Partei trifft, droht immer häufiger einen Abgrund zwischen uns und unserer Grundstütze im Dorfe zu schaffen, der Dorfarmut. Nur bei unzerreißbarer Verbindung des Proletariats mit der Dorfarmut ist ihr richtig aufgestelltes gemeinsames Bündnis mit dem Mittelbauern möglich, d. h. ein solches Bündnis, in welchem die Leitung der Arbeiterklasse gehört. Es ist aber Tatsache, dass die Beschlüsse des Oktober-Plenums des vorigen Jahres über die Organisation der Dorfarmut bis heute fast keinerlei Anwendung in der Arbeit der Provinzorganisationen gefunden haben. Tatsache ist, dass sogar in den Verwaltungsspitzen das Bestreben zu beobachten ist, nach Möglichkeit den kommunistischen und armen Teil der Kader der landwirtschaftlichen Kooperativen zurückzudrängen oder durch „wirtschaftskräftige" Mittelbauern zu ersetzen. Tatsache ist, dass wir unter dem angeblichen Bündnis der Dorfarmut mit dem Mittelbauern hier überall die politische Unterwerfung der Dorfarmut unter die Mittelbauern und durch sie unter die Kulaken sehen.

6. Die bürokratischen Degenerationen des Arbeiterstaates

Die Anzahl der Arbeiter in der Staatsindustrie erreicht bei uns jetzt keine zwei Millionen, zusammen mit dem Transportwesen weniger als drei Millionen. An Sowjet-, Gewerkschafts-, Genossenschaftsangestellten und allen übrigen Angestellten zählen wir keineswegs weniger als die gleiche Zahl. Schon diese Gegenüberstellung zeugt von der kolossalen politischen und wirtschaftlichen Rolle der Bürokratie. Es ist vollkommen klar, dass der Staatsapparat seiner Zusammensetzung und seiner Lebenshaltung nach in ungeheurem Maße bürgerlich und kleinbürgerlich ist und vom Proletariat und von der Dorfarmut wegzieht, einerseits dem Intellektuellen entgegen, der sich eingerichtet hat, andererseits dem Pächter, Kaufmann, Kulaken, neuen Bourgeois entgegen. Wie oft hat Lenin auf die bürokratischen Entartungen des Staatsapparates hingewiesen und auf die Notwendigkeit für die Gewerkschaften, die Arbeiter oft gegen den Sowjetstaat zu verteidigen. Der Parteibürokrat ist gerade auf diesem Gebiet von einer ganz gefährlichen Selbsttäuschung angesteckt, welche am schreiendsten ausgedrückt war in der Rede des Gen. Molotow auf der 14. Moskauer Gouvernements-Parteikonferenz („Prawda", 13. Dezember 1925):

„ … Unser Staat ist ein Arbeiterstaat … Da präsentiert man uns aber eine Formel, dass es viel richtiger wäre zu sagen, die Arbeiterklasse noch näher an unsern Staat heranzubringen … Was soll denn das sein?

Wir sollen uns die Aufgabe stellen, die Arbeiter unserem Staate anzunähern, und unser Staat, was ist das für einer, wem gehört denn dieser Staat, vielleicht nicht dem Arbeiter? Ist denn der Staat nicht ein Staat des Proletariats? … Wie kann man die Arbeiter dem Staate annähern, d. h. die Arbeiter selbst der Arbeiterklasse annähern, die an der Macht ist und den Staat leitet?“

In diesen erstaunlichen Worten wird sogar die Aufgabe selbst des Kampfes der proletarischen Avantgarde geleugnet, für eine wirkliche ideologische und politische Unterwerfung des Staatsapparates zu kämpfen. Welche ungeheure Entfernung besitzt diese Stellung vom Standpunkte Lenins, der in seinen letzten Artikeln schrieb, dass unser Staatsapparat „nur leicht von oben angefärbt ist und in den übrigen Beziehungen ein ganz typischer alter Staatsapparat von der alten Staatsapparats-Sorte» ist. Es ist klar und natürlich, dass ein wirklicher und ernsthafter und nicht nur ein scheinbarer Kampf gegen den Bürokratismus jetzt von manchem als eine Störung, als eine Parteizersetzung, als Fraktionismus empfunden wird.

7. Bürokratische Entartung des Parteiapparates

Im Jahre 1920 hielt eine Parteikonferenz unter der Leitung Lenins es für notwendig, hinzuweisen auf die Unzulässigkeit dessen, dass bei der Mobilisierung von Parteigenossen Parteiorganisationen und einzelne Genossen sich von irgendwelchen anderen Gründen als sachlichen leiten lassen. Welches die Maßnahmen gegen Genossen auch sein mögen, weil sie in der oder jener Frage anders denken, als die Partei beschlossen hat, so sind sie unzulässig.“

Die ganze jetzige Praxis widerspricht diesem Beschluss auf Schritt und Tritt. Eine wirkliche Disziplin wird zerrüttet und ersetzt durch Unterwerfung unter einflußreiche Personen des Apparates. Genossen, auf welche die Partei sich in den schwersten Tagen verlassen kann, werden in immer größerer Anzahl aus den Kadern heraus gestoßen, versetzt, verschickt, verfolgt und durchweg durch irgendwelche zufälligen Menschen ersetzt, die nicht erprobt sind, dafür sich aber durch schweigsamen Gehorsam auszeichnen. Gegen Genossen, welche der Partei länger als zwei Jahrzehnte als treue und disziplinierte Mitglieder bekannt sind, werden Anklageschriften verfasst. Die Anklageschrift gegen sie ist deshalb eine Anklageschrift gegen die bürokratische Entartung des Parteiapparates.

Die Bedeutung eines fest verlöteten zentralen Apparates bedarf in einer bolschewistischen Partei keiner Erklärung. Ohne dieses Skelett wäre die proletarische Revolution unmöglich. Der Parteiapparat besteht in seiner Mehrheit aus treuen und selbstlosen Parteigenossen, die keine anderen Motive besitzen als die des Kampfes für die Interessen der Arbeiterklasse. Bei einem richtigen Regime und entsprechender Verteilung der Kräfte würden dieselben Parteiarbeiter mit Erfolg dazu verheilen, die Parteidemokratie durchzuführen.

8. Der Bürokratismus und das alltägliche Leben der Arbeitermassen

Der Bürokratismus schlägt grausam auf den Arbeiter in den Bereichen der Partei, der Wirtschaft, des alltäglichen Lebens und der Kultur.

Die soziale Zusammensetzung der Partei hat sich zweifellos in den letzten Jahren verbessert. Aber gleichzeitig zeigte sich mit voller Deutlichkeit, dass die bloße Vergrößerung der Zahl der Arbeiter in der Partei, sogar der Zahl der Arbeiter aus den Betrieben, noch lange nicht die Partei vor bürokratischen Perversionen sichert. In Wirklichkeit ist das spezifische Gewicht eines gewöhnlichen Parteimitgliedes unter dem gegenwärtigen Regime äußerst gering, häufig gleich Null.

Am allerschwersten zeigt sich das bürokratische Regime im Leben der Arbeiter- und Bauernjugend. Im Milieu der NEP kann die Jugend, welche die Erfahrungen des alten Klassenkampfes nicht kennt, sich zum Bolschewismus nur auf dem Wege einer selbständigen Arbeit des Denkens, der Kritik, der Nachprüfung entwickeln. Auf die Notwendigkeit eines besonders aufmerksamen und sorgfältigen Verhaltens zu den ideologischen Prozessen in der Jugend hat Lenin wiederholt warnend hingewiesen. Der Bürokratismus nimmt umgekehrt die Entwicklung der Jugend in eine eiserne Zange, jagt alle Zweifel, ins Innere, sichelt die Kritik ab und sät dadurch den Unglauben, dekadente Stimmungen einerseits, den Karrierismus andererseits. In der Spitze des Jugendverbandes hat der Bürokratismus in der letzten Periode eine außerordentliche Entwicklung erhalten, indem ziemlich viele Beamte herausgestellt wurden, junge und frühreife. Hieraus ergibt sich immer häufiger das Hinausdrängen von Elementen aus Proletariat, Landarbeitern und Dorfarmen durch Elemente aus Intelligenz und Kleinbourgeoisie aus den Kadern des Jugendverbandes, welche Elemente sich leichter den Notwendigkeiten einer Leitung von einer Kanzlei her anpassen, aber weit entfernt sind von der Arbeiter- und unteren Bauernmasse. Um eine richtige proletarische Linie im Jugendverband nicht weniger als in der Partei zu sichern, ist eine Kursänderung zur Demokratisierung hin notwendig, d. h. die Schaffung solcher Bedingungen, unter welchen die Jugend arbeiten, denken, kritisieren, beschließen wird, wobei sie sich zur revolutionären Reife unter der sorgfältigsten Leitung der Partei erhebt.

Das bürokratische Regime frisst sich wie ein Rost ein in das Leben jedes Betriebs und jeder Abteilung. Wenn die Parteimitglieder tatsächlich nicht das Recht haben, die Bezirksleitung, die Gruppenleitung oder das ZK zu kritisieren, so haben sie im Betrieb nicht das Recht, ihre nächste Obrigkeit zu kritisieren. Die Parteigenossen sind eingeschüchtert. Der Verwaltungsmensch, welcher als „sicherer" Mensch es verstanden hat, sich die Unterstützung des Sekretärs der nächsthöheren Organisation zu sichern, sichert sich auf diese Manier vor Kritik von unten und häufig auch vor der Verantwortung für schlechte Wirtschaftlichkeit oder direkten Größenwahnsinn.

Bei dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ist die Grundbedingung einer wirtschaftlichen Verausgabung von Volksmitteln die wachsame Kontrolle der Massen, vor allem der Arbeiter in der Fabrik. Solange sie nicht offen gegen schlechte Ordnung und Missbräuche auftreten können, die Schuldigen beim Namen entlarven können, ohne dass sie zu befürchten brauchen, zur Opposition gezählt zu werden, zu den „Nicht-Einverstandenen", zu den Krawallmachern, solange sie befürchten müssen, aus der Zelle oder sogar aus dem Betrieb hinaus gejagt zu werden, solange wird der Kampf für das Sparsamkeitsregime wie auch für die Produktivität der Arbeit notwendigerweise sich auf bürokratischen Gleisen entwickeln, d. h. immer häufiger gegen die Lebensinteressen der Arbeiter sein. Gerade das kann man jetzt beobachten.

Eine nicht sachgemäße oder liederliche Arbeit der Tarifverträge, welche den Arbeiter schwer trifft, ist in neun von zehn Fällen ein direktes Resultat der beamtenmäßigen Unaufmerksamkeit den allerelementarsten Interessen der Arbeiter und der Produktion selbst gegenüber. Hierher muss auch die nicht rechtzeitige Auszahlung des Lohnes gerechnet werden, d.h. das Hintansetzen dessen, was die allererste Sorge sein müsste.

Die Frage der sogenannten Ausschweifung der Spitzen ist vollkommen verbunden mit der Unterdrückung der Kritik. Gegen Ausschweifung und Luxus werden viele Zirkulare geschrieben. In den Kontrollkommissionen werden nicht wenig „Fälle" behandelt. Aber einem derartigen kanzleimäßigen Kampf gegen Luxus und Ausschweifung kommt die Masse misstrauisch entgegen. Ein ernsthafter Ausweg ist auch hier nur dieses: Die Masse darf nicht fürchten zu sagen, was sie denkt. Wo werden alle diese brennenden Fragen diskutiert? Nicht in offiziellen Parteiversammlungen, sondern in Winkeln und Ecken, illegal, stets unter Risiko. Aus diesen unerträglichen Bedingungen wuchs der Fall des Gen. Laschewitsch u. a. hervor. Die Hauptfolgerung aus diesem Fall ist: Man muss die Bedingungen verändern.

9. Kampf für den Frieden

Die Entwicklung der weltrevolutionären Bewegung auf der Grundlage der brüderlichen Solidarität der Werktätigen ist die Grundgarantie für die Unantastbarkeit der Sowjetunion und für die Möglichkeit einer friedlichen sozialistischen Entwicklung für uns. Es wäre aber ein verderblicher Fehler, direkt oder indirekt in den Arbeitermassen die Hoffnung zu erwecken oder zu unterstützen, als ob Sozialdemokraten oder Amsterdamer, insbesondere der Generalrat mit Thomas und Purcell an der Spitze, bereit oder fähig wären, den Kampf gegen Imperialismus, militärische Interventionen zu führen. Die britischen Kompromissler, Führer, welche so schändlich ihre eigenen Arbeiter während des Generalstreiks verraten haben und jetzt ihren Verrat in Bezug auf den Bergarbeiterstreik vollenden, werden noch schmählicher das englische Proletariat und mit ihm die Sowjetunion und die Sache des Friedens verraten im Augenblick einer Kriegsgefahr. In seiner glänzenden Instruktion für unsere Delegation in Den Haag hat Lenin auseinandergesetzt, dass nur die schonungslose Entlarvung der Opportunisten vor den Massen fähig ist, die Bourgeoisie zu verhindern, die Arbeiter zu überraschen, wenn sie von Neuem einen Krieg zu provozieren versucht.

Am allerwichtigsten wird es sein, die Ansicht zu widerlegen“, so schrieb Lenin über die Amsterdamer Pazifisten in Den Haag, „als ob die Anwesenden Kriegsgegner seien, als ob sie verstünden, wie ein Krieg im allerunerwartetsten Moment über sie selbst kommen kann und muss, als ob sie irgendwie imstande wären, einen vernünftigen und den Zweck erreichenden Weg des Kampfes gegen den Krieg einzuschlagen.“

Lenin wandte die besondere Aufmerksamkeit der Partei darauf hin, dass sogar in den Reden vieler Kommunisten ungeheuerlich unrichtige, ungeheuerlich leichtsinnige Sachen in Bezug auf den Kampf gegen Krieg enthalten sind. „Ich denke“, schrieb er, „dass gegen solche Erklärungen, besonders wenn sie schon nach dem Kriege abgegeben wurden, man mit aller Entschiedenheit auftreten muss und schonungslos die Namen aller derartigen Redner nennen muss. Man kann, wie man will, besonders wenn es notwendig ist, sein Urteil über einen solchen Redner abschwächen, aber man kann nicht stillschweigend, auch nicht an einem einzigen solchen Falle, vorübergehen, weil ein leichtfertiges Verhalten zu dieser Frage ein solches Übel ist, welches alles übrige übersteigt und welchem gegenüber man absolut nicht nachsichtig sein darf."

Diese Leninschen Worte müsste man im Bewusstsein unserer eigenen Partei und des ganzen internationalen Proletariats erneuern. Man muss ganz laut sagen, dass die Thomas, MacDonald, Purcell ebenso wenig fähig sind, einen imperialistischen Überfall zu verhindern, wie die Zeretelli, Dan, Kerenski fähig waren, die imperialistische Schlächterei zu beenden.

Eine mächtige Bedingung der Verteidigung der Sowjetunion, also auch der Aufrechterhaltung des Friedens, ist die unzerreißbare Verbindung der wachsenden und erstarkenden Roten Armee mit den werktätigen Massen unseres Landes und der ganzen Welt. Alle wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Maßnahmen, welche die Rolle der Arbeiterklasse im Staate stärken, stärken auch ihre Verbindung mit den Landarbeitern und der Dorfarmut und ihr Bündnis mit den Mittelbauern, stärken auch dadurch die Rote Armee, sichern die Unantastbarkeit des Landes der Sowjets und stärken die Sache des Friedens.

10. Die Komintern

Die Gerade-Biegung der Klassenlinie der Partei bedeutet auch die Gerade-Biegung ihrer internationalen Linie. Man muss alle zweifelhaften theoretischen Neuerfindungen beiseite werfen, welche die Sache so darstellen, als ob der Sieg des sozialistischen Aufbaus in unserem Lande nicht unzerreißbar verbunden sei mit dem Gange und dem Ausgange des Kampfes des europäischen und Weltproletariats um die Macht. Wir bauen den Sozialismus auf und werden ihn weiter aufbauen. Das europäische Proletariat wird um die Macht kämpfen. Die Kolonialvölker kämpfen für ihre Unabhängigkeit. Das ist die allgemeine Front. Jede Abteilung, jeder Abschnitt muss das Maximum dessen geben, was sie geben kann, ohne abzuwarten oder ohne die Initiative der anderen abzuwarten. Der Sozialismus in unserem Lande wird siegen im unzerreißbaren Zusammenhang mit der Revolution des europäischen Proletariats und im Kampfe des Ostens gegen das imperialistische Joch.

Die Frage der Komintern über die Richtung ihrer Politik, über ihr inneres Regime ist wieder unzerreißbar verbunden ihrerseits mit dem Regime unserer Partei, die war und bleibt: die leitende Partei der Komintern. Jede Verrückung [Verzerrung] in unserer Partei wird unbedingt auf die Parteien in der Internationale übertragen. Desto obligatorischer ist die wirkliche bolschewistische Prüfung unserer Linie unter dem internationalen Gesichtswinkel.

Der 14. Parteitag hat eine selbständigere Teilnahme der ausländischen Parteien an der leitenden Arbeit der Komintern für notwendig erklärt. Aber auch dieser Beschluss bleibt ebenso wie die anderen auf dem Papier, und zwar nicht zufällig. Die Lösung der akuten Fragen der Komintern auf normalem, politischem und organisatorischem Wege ist nur dann möglich, wenn in unserer eigenen Partei ein normales Regime herrscht. Die mechanische Lösung der Streitfragen droht immer mehr die innere Geschlossenheit der Kommunistischen Partei und ihre enge Verbindung untereinander zu schwächen. Im Bereich der Komintern brauchen wir eine entscheidende Wendung zu jenen Wegen, welche von Lenin vorgezeichnet und unter ihm erprobt sind.

11. Über das Fraktionswesen

Im Laufe von zwei Jahren, vor dem 14. Parteitag, existierte ein fraktionsmäßiges „Siebenerkollegium", welches besondere Mitglieder des Politbüros und den Vorsitzenden der ZKK, Gen. Kuibyschew umfasst. Diese Fraktionsspitze entschied heimlich, vor der Partei, jede Frage die auf der Tagesordnung des Politbüros stand. Auf fraktionelle Art verteilt es die Kräfte und band ihre Mitglieder durch Fraktionsdisziplin. An der Arbeiten des Siebener-Kollegiums nahmen mit dem Gen. Kuibyschew zusammen dieselben Leiter der ZKK, wie der Gen. Jaroslawski, der Gen. Janson und andere teil, welche einen schonungslosen Kampf gegen „Fraktionen" und „Gruppierungen" führten.

Eine ebensolche Fraktionsspitze existiert zweifellos auch nach dem 14. Parteitag. In Moskau, Leningrad, Charkow und anderen großen Zentren fanden heimliche Versammlungen statt, die von einem Teil der Spitze des Parteiapparates organisiert werden, obwohl der ganze offizielle Apparat in ihren Händen sich befindet. Diese nach besonderen Mitgliederlisten organisierten Geheimversammlungen sind rein fraktionelle Versammlungen. In ihnen wird geheimes Material verlesen, für dessen bloße Mitteilung jeder, der nicht zu dieser Fraktion gehört, aus der Partei ausgeschlossen wird.

Die Behauptung, als ob die „Mehrheit" keine Fraktion sein kann, ist offensichtlich unsinnig. Die Interpretation und die Anwendung der Parteitagsbeschlüsse muss im Rahmen von normalen Parteiorganen geschehen, nicht aber auf dem Wege des vorherigen Beschlusses über alle Fragen durch die regierende Fraktion hinter den Kulissen der normalen Instanzen. In der herrschenden Fraktion existiert ihrerseits eine Minderheit, welche die Fraktionsdisziplin höher als die Parteidisziplin stellt. Die Aufgabe dieser ganzen Fraktions-Mechanik besteht darin, der Partei nicht die Möglichkeit zu geben, auf dem normalen, statutenmäßigen Wege Veränderungen im Bestand und der Politik des Parteiapparates herbeizuführen. Mit jedem Tage bedroht diese Fraktionsorganisation mehr und mehr die Einheit der Partei.

Die tiefe Unzufriedenheit mit dem Parteiregime, das nach dem Tode Lenins eingerissen ist, eine noch größere Unzufriedenheit mit den Verrückungen [Verzerrungen] der Politik erzeugt unausweichlicherweise oppositionelles Auftreten und scharfe Diskussionen. Die leitende Gruppe aber, anstatt an immer beredteren neuen Tatsachen zu lernen und die Linie gerade zu machen, vertieft systematisch die Fehler des Bürokratismus.

Jetzt kann es schon keinen Zweifel mehr daran geben, dass der Kern der Opposition des Jahres 1923, wie das die Entwicklung der jetzt leitenden Fraktion gezeigt hat, die Gefahren des Abgleitens von der proletarischen Linie und des drohenden Wachstums des Apparatregimes richtig vorhergesagt hat. Dutzende und hunderte der Führer der Opposition, darunter zahlreiche alte bolschewistische Arbeiter, die im Kampfe gestählt sind, jedem Karrierismus und jeder Speichelleckerei fremd sind, sind indessen bis zum heutigen Tage von der Parteiarbeit entfernt worden, trotz aller von ihnen gezeigten Zuverlässigkeit und Disziplin.

Die Maßregelungen der Grundkader der Leninschen Organisation nach dem 14. Parteitag mussten notwendigerweise die größte Besorgnis bei einem besten Teil der Arbeiter erwecken, die zu unserer Partei gehören und die gewöhnt sind, die Leningrader kommunistischen Arbeiter als die erprobteste proletarische Garde anzusehen … In einem Augenblick, wo die Notwendigkeit eines Gegenstoßes gegen den wachsenden Kulaken vollkommen herangereift ist, tritt die leitende Gruppe gegen die Avantgarde der Leningrader Arbeiter auf, deren Schuld nur darin besteht, dass sie die Kulakengefahr vorher signalisierten. Hunderte der besten Arbeiter sind aus Leningrad ausgewiesen. Tausende von kommunistischen Arbeitern, die den besten aktiven Teil der Leningrader Organisation bildeten, sind auf diese oder jene Art von der Parteiarbeit entfernt. Die politische Richtigkeit dieser Leningrader Arbeiter im Grundsätzlichen ist jetzt schon für jedes gewissenhafte Parteimitglied klar. Die Wunde, die der Leningrader Organisation zugefügt worden ist, kann nur als Resultat einer radikalen Änderung des innerparteilichen Regimes geheilt werden.

Wenn aber die Sache auf demselben Wege wie jetzt fortgesetzt wird, so kann man nicht daran zweifeln, dass nicht nur in Moskau und Leningrad immer neue und neue Unterdrückungen, Reinigungen und Ausweisungen sein werden, sondern dass auch andere proletarische Bezirke und Zentren, wie das Donezbecken, Baku, der Ural unter die Wirkung verzehnfachter Unterdrückung fallen müssen.

In nichts drückt sich das Fortgehen [Abweichen] von Lenin so krass aus wie im Bestreben, die bolschewistische Beurteilung der Gefahren des jetzigen Parteikurses mit Hilfe des Wörtchens „Menschewismus" loszuwerden. Gerade durch diese Methode verrät sich der ideologisch verknöchertste Teil der „Führer" mit Haut und Haaren. Der Menschewismus, der überzeugt ist von der Unvermeidlichkeit des Hineinwachsens der Sowjetunion in den Kapitalismus, baut alle seine Berechnungen auf auf den Bruch zwischen der Arbeiterklasse und dem Sowjetstaat. Ebenso wie die SRs rechnet er auf den Bruch der „starken" Bauernschaft mit dem Sowjetstaat … In Wirklichkeit könnte der Menschewismus als bürgerliche Agentur tatsächlich hoffen, zeitweilig aus seinem Nichts zu etwas zu kommen, lediglich natürlich unter der Bedingung, dass der Riss zwischen der Arbeiterklasse und dem Sowjetstaat wachsen würde. Um das nicht zuzulassen, muss man vor allem diesen Riss klar sehen, im Augenblick seines Entstehens, und nicht die Augen vor ihm verschließen, wie das die Bürokraten tun, die die Notwendigkeit selbst bestreiten, an der Aufgabe der Annäherung des Sowjetstaates an die Arbeiterklasse und die unteren Schichten des Dorfes zu arbeiten. Die Schönfärbung der Wirklichkeit, der beamtenmäßige Optimismus in den Lohnfragen, der Wunsch, den Kulaken nicht zu sehen, und die Unterstützung des Kulaken gerade dadurch, die ungenügende Aufmerksamkeit der Dorfarmut gegenüber, eine besonders große Unterdrückung der Arbeiter in den Zentren, der Wunsch, die Lehren der letzten Sowjetwahlen nicht zu verstehen, alles das bedeutet eine wirkliche, reale und nicht bloß wortgemäße Vorbereitung des Bodens für menschewistische und sozialrevolutionäre Einwirkungen.

Eine grobe Selbsttäuschung ist der Gedanke, als ob man erst mechanisch mit der sog. Opposition fertig werden und dann den Rahmen der Parteidemokratie erweitern könne. Gemäß ihrer Gesamterfahrung kann die Partei diese Einlullungslegenden nicht mehr weiter glauben. Die Kniffe einer mechanischen Erledigung bereiten neue Spalten und Risse vor, neue Absonderungen, neue Ausschlüsse, neue Unterdrückung der Parteimitglieder im Ganzen. Dieses System verengert notwendigerweise die leitende Spitze, setzt die Autorität der Leitung herab und zwingt sie zur Ersetzung einer ideologischen Autorität durch doppelte und dreifache Unterdrückung. Die Partei muss unter allen Umständen diesem verderblichen Prozess Einhalt gebieten. Lenin hat gezeigt, dass eine feste Leitung der Partei nicht bedeute, dass man der Partei die Kehle zudrückt.

12. Für die Einheit

Es kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass die Partei mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden fähig ist. Ein vollkommener Wahnsinn wäre der Gedanke, als ob die Partei keinen Ausweg auf dem Pfad der Einheit besäße. Ein Ausweg existiert und dabei nur auf dem Wege der Einheit. Hierzu ist notwendig ein aufmerksames und ehrliches bolschewistisches Verhältnis zu den gestellten Fragen. Wir sind gegen eine „Saison"-Diskussion, wir sind gegen Diskussionsfieber. Eine solche von oben aufgezwungene Diskussion kostet der Partei zu viel. Meistenteils betäubt sie die Partei, überzeugt sie aber nur in sehr geringem Maße und bereichert sie ideologisch sehr wenig.

Wir wenden uns an das Plenum des ZK mit dem Vorschlag, mit gemeinsamen Kräften in der Partei ein Regime herzustellen, welches ermöglichen wird, alle Streitfragen in voller Übereinstimmung mit allen Traditionen der Partei, mit den Gefühlen und Gedanken der proletarischen Avantgarde zu lösen. Nur auf dieser Grundlage ist Parteidemokratie möglich. Nur auf der Grundlage der Partei-Demokratie ist eine gesunde kollektive Leitung möglich. Andere Wege gibt es nicht. Im Kampfe und in der Arbeit auf diesem einzig richtigen Wege ist unsere vorbehaltlose Unterstützung für das ZK voll und ganz gesichert.

Gez.: Iwan Bakajew. G. Lisdin. M. Laschewitsch. N. Muralow. A. Peterson. K. Solowjew. G. Jewdokimow. G. Pjatakow. M. Awdeew. G. Sinowjew. N. Krupskaja. L. Trotzki. L. Kamenew.

[Juli 1926]

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