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Leo Trotzki 19270516 Der Kampf um den Frieden und das anglorussische Komitee

Leo Trotzki: Der Kampf um den Frieden und das anglorussische Komitee

[Nach dem Sammelband „Der Kampf um die Kommunistische Internationale. Dokumente der russischen Opposition, nicht veröffentlicht vom Stalinschen ZK, veröffentlicht vom Verlag der ,Fahne des Kommunismus'“, Berlin 1927, S. 110-125]

Das ganze internationale Milieu und alle Tendenzen seiner Entwicklung machen die Frage des Kampfes gegen den Krieg und der Verteidigung der UdSSR, als des ersten Arbeiterstaates, zur zentralen Aufgabe des internationalen Proletariats. Aber gerade die Gespanntheit der Lage erfordert volle Klarheit der Linie und feste Verbesserung der gemachten Fehler. 1920 schrieb Genosse Lenin:

Das Verhalten einer politischen Partei zu ihren Fehlern ist eins der wichtigsten und zuverlässigsten Kriterien dafür, ob die Partei ernst zu nehmen ist und ob sie durch Taten ihre Verpflichtungen ihrer Klasse gegenüber und den werktätigen Massen gegenüber erfüllt. Offen den Fehler anerkennen, die Umstände durchanalysieren, die ihn erzeugt haben, aufmerksam die Mittel zur Verbesserung des Fehlers beraten – das ist das Kennzeichen für eine ernste Partei, das ist die Erfüllung ihrer Pflichten, das ist Erziehung und Belehrung der Klasse, dann aber auch der Masse." (Bd. XVII.. Seite 147 der russische« Ausgabe.) Was aber sehen wir heute?

Berufungen auf die „heutige gespannte Lage" dienen zur Rechtfertigung und Verdeckung aller Arten von Fehlern, von ideologischer Verwirrung, gröbster Abweichungen vom Bolschewismus, empörender Kapitulationen. Dabei kann der Opportunismus keineswegs durch die gegenwärtige Lage gerechtfertigt werden, denn gerade er macht die Lage um das Hundertfache gefährlicher. Unter schwierigen Bedingungen ist eine richtige Führung besonders notwendig. Über die Fehler der Führung angesichts drohender Gefahren zu schweigen, wäre das größte Verbrechen der Partei und der Revolution gegenüber. Gegen die Kritik der Fehler als gegen eine „Spekulation auf die Schwierigkeiten" hetzen, das bringen nur traurige Beamte zustande, die das Gestern vergessen haben und an das Morgen nicht denken. Mit derartigen Tendenzen haben wir nichts gemein. Je größer die Gefahr, desto energischer entlarven wir die Fehler, desto schärfer stellen wir die Grundfragen.

1. Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Der Kampf gegen den Krieg ist eine Fortsetzung der revolutionären Politik gegen das kapitalistische Regime. Diesen Gedanken begreifen, das heißt den Schlüssel für alle Fehler des Opportunismus in den Fragen des Krieges finden. Der Imperialismus ist kein äußerer, an und für sich bestehender Faktor, sondern der höchste Ausdruck der Grundtendenzen des Kapitalismus. Der Krieg ist das höchste Mittel der Politik des Imperialismus. Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg kann und muss der höchste Ausdruck des internationalen Proletariats sein.

Der Opportunismus oder der Radikalismus, der sich zum Opportunismus hinwendet, hat stets die Neigung, Kriege als eine so ausnahmsmäßige Erscheinung zu werten, dass die revolutionäre Politik und ihre Grundprinzipien dadurch eine Aufhebung erfordern Der Zentrismus söhnt sich mit den revolutionären Methoden aus, glaubt aber nicht an sie. Daher ist er in kritischen Momenten stets geneigt, sich auf die Eigenartigkeit der Lage zu berufen, auf Ausnahmeumstände usw., um die revolutionären Methoden durch opportunistische zu ersetzen. Besonders heftig wird ein solcher Umschwung in der Politik des Zentrismus oder des Scheinradikalismus natürlich durch die Kriegsgefahr hervorgerufen. Mit umso größerer Unversöhnlichkeit muss man an diesem Prüfstein die Haupttendenzen der Kommunistischen Internationale nachprüfen.

2. Jetzt ist es schon für alle klar, dass das anglorussische Komitee nicht als eine Gewerkschaftsorganisation betrachtet werden darf, in welche die Kommunisten zum Kampfe um den Einfluss auf die Massen eintreten, sondern als einen „eigenartigen" politischen Block, dessen Ziel in erster Linie der Widerstand gegen die Kriegsgefahr ist. An den Erfahrungen und am Beispiel des a.-r.-Komitees muss man daher mit verzehnfachter Aufmerksamkeit die Methoden des Kampfes gegen den Krieg überprüfen, um offen und genau dem revolutionären Proletariat sagen zu können, was man nicht tun darf, wenn man nicht die Komintern zugrunde richten will und dem Imperialismus seine blutige Arbeit gegen das internationale Proletariat und die UdSSR, nicht erleichtern will.

3. Gen. Bucharin hat im Präsidium des EKKI am 11. Mai eine neue Deutung unserer Kapitulation vor dem Generalrat in Berlin aufgestellt. Es stellt sich heraus, dass man diese Kapitulation nicht vom Standpunkt des internationalen revolutionären Kampfes des Proletariats betrachten darf, sondern vom Standpunkt einer „diplomatischen" Gegenaktion gegen die Offensive des Imperialismus gegen die UdSSR. Uns stehen verschiedene Kampfmittel der internationalen Aktion zur Verfügung: die Partei (Komintern), die Gewerkschaften, die Diplomatie, die Presse usw. Unsere Handlungen in den Gewerkschaftsfragen müssen von den Aufgaben des Klassenkampfes diktiert sein. Das aber nur „in der Regel". In einigen Fällen, als Ausnahme, müssen wir – nach Bucharin – die Organe der Gewerkschaftsbewegung als Mittel der diplomatischen Aktion ausnützen. So geschah es mit dem anglorussischen Komitee. Wir haben vor dem Generalrat kapituliert, aber nicht vor dem Generalrat als dem Generalrat, sondern vor ihm als vor der Agentur der englischen Regierung. Wir haben uns nicht parteimäßig verpflichtet, uns nicht einzumischen, sondern aus staatlichen Gründen. Das ist der Inhalt der neuen Interpretation der Berliner Kapitulation, der, wie wir gleich zeigen werden, sie nur noch gefährlicher macht.

4. Die Berliner Abmachung der Gewerkschaftszentrale der Sowjetunion (WZSPS) mit dem Generalrat wurde vor kurzer Zeit auf dem Aprilplenum des Zentralkomitees unserer Partei besprochen. Die Beschlüsse der Berliner Konferenz wurden verteidigt von den Gen. Tomski, Andrejew, Melnitschanski, d. h. unseren angesehensten Gewerkschaftlern, nicht aber Diplomaten.

Alle diese Genossen verteidigen die Berliner Kapitulation und beschuldigen die Opposition, sie begriffe nicht die Aufgaben und Methoden der Gewerkschaftsbewegung. Man könne nicht auf die Masse der Gewerkschaftler einwirken, wenn man mit dem Apparat einen Bruch herbeiführe. Auf den Apparat könne man nicht einwirken, wenn man mit seiner Spitze einen Bruch herbeiführe. Und eben von diesen Motiven sei das Verhalten unserer Gewerkschaftler in Berlin diktiert worden. Jetzt erläutert Gen. Bucharin, dass die Beschlüsse der Berliner Konferenz, genau umgekehrt, einen Ausnahmefall vorstellen. Eine Ausnahme von den prinzipiellen bolschewistischen Methoden der Einwirkung auf die Gewerkschaftsbewegung, eine Ausnahme im Namen zeitweiliger, aber akuter diplomatischer Aufgaben. Warum hat Genosse Bucharin das nicht uns, gleichzeitig aber auch dem Gen. Tomski auf der letzten Plenarsitzung unseres Zentralkomitees erklärt? Die Stenogramme des Aprilplenums werden doch, sollte man hoffen, als instruktives Material in der Partei verbreitet werden. Die neue Theorie des Genossen Bucharin wird ebenso, sollte man meinen, zum Besitz mindestens der Parteikader werden. Wir werden folglich in gleicher Weise offizielle, in gleicher Weise autoritative Erklärungen haben: nach der einen von ihnen ist unsere BerIiner Politik eine prinzipielle bolschewistische Politik In der Gewerkschaftsbewegung. Nach der anderen ist unsere Berliner Politik ein zeitweiliger Verzicht auf prinzipielle bolschewistische Politik.

5. Woher ergab sich im Verlaufe weniger Wochen ein so ungeheuerlicher Widerspruch? Er wuchs aus der Unmöglichkeit, sich, wenn auch nur einen Monat lang, auf den Aprilpositionen zu halten. Als unsere Delegation nach Berlin fuhr, besaß sie nicht die Bucharinsche Erklärung ihrer künftigen Handlungen. Der Genosse Bucharin selbst besaß damals kaum diese Erklärung. Jedenfalls wurde sie nirgends und in nichts geäußert. Auf dem Aprilplenum schwieg der Gen. Bucharin. Der Opposition gelang es trotz der Kürze der ihr zugemessenen Zeit, die vollkommene Unvereinbarkeit unserer Berliner Politik mit den elementarsten Grundsätzen des Bolschewismus nachzuweisen. Der Referent, Gen. Tomski. hat nicht einmal den Versuch gemacht, in seinem Schlusswort unsere Argumente zu beantworten. Das Stenogramm des Aprilplenums hat noch nicht Gelegenheit gehabt, gedruckt zu werden (wir; wollen hoffen, dass es immerhin erscheinen wird), und wir haben schon eine neue frisch fabrizierte Erklärung unserer Berliner Kapitulation. Es ist vollkommen klar: diese Erklärung ist hintennach ausgedacht worden.

6. Die Sache wird noch klarer, wenn wir weiter zurückgehen, sozusagen bis an die Quellen der Frage. Nach dem äußerst schuftigen Abbruch des Generalstreiks durch den Generalrat, wo die „Linken" mit den Rechten um die Palme rangen, forderte die Opposition der WKP(B), dass man sofort einen Bruch mit dem Generalrat herbeiführen solle, um dadurch die Befreiung der proletarischen Avantgarde von dem Einfluss von Verrätern zu erleichtern und zu beschleunigen. Die Mehrheit des ZK stellt uns den Standpunkt entgegen. dass trotz der gegenrevolutionären Politik des Generalrates während des Streikes die Beibehaltung des anglorussischen Komitees angeblich von den Interessen unserer revolutionären Einwirkung auf das englische Proletariat gefordert wurde. Gerade in diesem Moment stellte Gen. Stalin eine Theorie der Stufen auf, über welche man nicht springen könne. Unter einer „Stufe" wird in diesem Falle nicht das politische Niveau der Massen verstanden, das bei verschiedenen Schichten verschieden ist, sondern die konservative Spitze, welche den Druck der Bourgeoisie auf das Proletariat abspiegelt und einen unversöhnlichen Kampf gegen die fortgeschrittenen Schichten des Proletariats führt.

Im Gegensatz hierzu behauptete die Opposition, dass die Beibehaltung des anglorussischen Komitees nach seinem offenen und allgemein sichtlichen Verrat, der die vorangegangene Periode der „Linksentwicklung" abschloss, als unvermeidliche Folge eine unzulässige Abschwächung unserer Kritik an den Führern des Generalrates mit sich bringen würde, mindestens aber seines „linken" Flügels. Man erwiderte uns, vor allem derselbe Bucharin, dass das eine niederträchtige Verleumdung sei, dass die organisatorische Verbindung nicht im Geringsten unsere revolutionäre Kritik einschränken würde; dass wir uns auf keinerlei prinzipielle Konzessionen einlassen würden; dass das anglorussische Komitee für uns nur eine organisatorische Brücke zu den Massen sein würde. Keinem Menschen fiel es damals ein, die Beibehaltung des anglorussischen Komitees durch Hinweise auf Gründe diplomatischen Charakters zu rechtfertigen, welche angeblich einen zeitweiligen Verzicht auf die revolutionäre Linie erfordern sollen. Noch mehr: Wenn jemand aus der Opposition eine solche Vermutung ausgesprochen hätte, so wäre er auf der Stelle jenen groben und vergifteten Methoden der „Kritik" unterworfen worden, die in der letzten Periode immer mehr Mode werden, wodurch man das verlorene ideologische Gepäck ersetzen will.

7. Die Opposition hat schriftlich vorausgesagt, dass die Beibehaltung des anglorussischen Komitees immer mehr die politische Position des Generalrates verstärken würde, und dass dieser aus einem Angeklagten unvermeidlicherweise sich in einen Ankläger verwandeln würde. Diese Prophezeiungen wurden für eine Frucht unserer „Ultralinksheit" erklärt. Es wurde eine besondere, nebenbei gesagt, lächerliche Theorie geschaffen, dass nämlich die Forderung der Sprengung des anglorussischen Komitees gleichbedeutend sei mit der Forderung auf Austritt der Arbeiter aus den Gewerkschaften. Hierdurch sollte die Politik der Beibehaltung des anglorussischen Komitees den Charakter einer ganz besonderen prinzipiellen Wichtigkeit erhalten.

8. Schon sehr bald jedoch zeigte sich, dass man wählen muss zwischen der Beibehaltung der organisatorischen Verbindung mit dem Generalrat und dem Recht. Verräter Verräter zu nennen. Die Mehrheit des Politbüros neigte sich immer mehr der Beibehaltung der organisatorischen Verbindungen um jeden Preis zu. Zur Erreichung dieses Zieles brauchte man freilich keinerlei „Überspringen von Stufen", dafür musste man aber politisch von Stufe zu Stufe sinken. Das kann man am deutlichsten an den drei Konferenzen des anglorussischen Komitees verfolgen: In Paris (Juli 1926), in Berlin (August 1926) und von neuem in Berlin (April 1927). Jedes Mal wurde unsere Kritik am Generalrat immer vorsichtiger, und ging vollkommen der Frage der „Linken" aus dem Wege, d. h. der gefährlichsten Verräter der Arbeiterklasse.

9. Der Generalrat merkte auf dem Wege konsequenten Drucks, dass er die Vertreter des WZSPS in seinen Händen hält. Aus einem Angeklagten wurde er zum Ankläger. Er begriff, dass, wenn die Bolschewiki nicht aus Anlass des Generalstreiks, der eine ungeheure internationale Bedeutung hatte, den Bruch herbeigeführt hatten, dass sie dann auch fernerhin keinen Bruch herbeiführen würden, was für die Forderungen man auch an sie stellen würde. Wir sehen, wie der Generalrat immer energischer seine Offensive gegen den WZSP führte, unter dem Druck der englischen Bourgeoisie auf den Generalrat. Der WZSPS machte Rückzüge und gab nach. Diese Rückzüge wurden motiviert durch Gründe revolutionärer Strategie in der Gewerkschaftsbewegung, keineswegs aber durch diplomatische Motive. Will man sich davon überzeugen, so genügt es, die Berichte des Gen. Tomski, Andrejew Andrejew und anderer durchzulesen, ebenso die Diskussionen auf den Plenarsitzungen unseres Zentralkomitees und des Politbüros. Wir sprechen schon gar nicht von hunderten von Artikeln unserer und der internationalen kommunistischen Presse anlässlich unserer „Ultralinksheit" in der anglorussischen Frage. Man sollte, als eine Art Lesebuch, ausgewählte Stellen aus diesen Reden und Artikeln herausgeben und sie chronologisch anordnen.

Die Linie des Politbüros endet naturgemäß und unvermeidlicherweise mit der Berliner Konferenz des anglorussischen Komitees Anfang April. Die Kapitulation des WZSP in den Grundfragen der internationalen Arbeiterbewegung war so weder ein unerwarteter Seitensprung, noch ein schroffes Manöver, nein, sie war die unvermeidliche und rechtzeitig von uns vorausgesagte Krönung der ganzen Linie in dieser Frage. Aus dem allein ist klar, dass der Hinweis auf ein diplomatisches Manöver hintennach bei den Haaren herbeigezogen ist.

10. Im Anfang Juni des vorigen Jahres war Gen. Bucharin, wie gesagt, der Schöpfer einer Theorie, nach welcher die Notwendigkeit, in reaktionären Gewerkschaften zu arbeiten, angeblich die Notwendigkeit mit sich bringt, unter allen Umständen das anglorussische Komitee beizubehalten. Entgegen den offenkundigen Tatsachen hat Bucharin damals rundweg bestritten, dass das anglorussische Komitee ein politischer Block und keine „Gewerkschaftsorganisation" ist.

Jetzt schafft Bucharin eine neue Theorie, nach welcher unser Verbleiben im anglorussischen Komitee, welches um den Preis einer vollkommen prinzipienlosen Kapitulation erkauft ist, nicht durch Bedürfnisse einer Gewerkschaftsorganisation hervorgerufen wird, sondern durch die Notwendigkeit, gerade einen politischen Block mit dem Generalrat im Namen diplomatischer Ziele beizubehalten.

Die heutige Theorie Bucharins steht in direktem Gegensatz zu seiner gestrigen Theorie. Gemeinsam haben sie nur das, dass sie beide um volle hundert Prozent heuchlerisch sind, und dass sie beide bei den Haaren herbeigezogen sind, um hintennach auf zwei verschiedenen Etappen, das Herunterrutschen von einer bolschewistischen Linie zu einer kompromisslerischen zu rechtfertigen.

11. Dass die Rechten im Falle eines Krieges Verrat üben werden, das wird sogar von Bucharin als unbestreitbar anerkannt. Was die Linken anbetrifft, so werden sie „wahrscheinlich" Verrat üben. Aber, wenn sie Verrat üben werden, so werden sie, nach Bucharin, das „auf ihre Art" tun, indem sie uns nicht unterstützen, aber die Rolle von Ballast in Bezug auf die englische Regierung spielen werden. So traurig auch diese Motivierung ist, so muss man sie doch hinnehmen.

Nehmen wir für einen Augenblick an. dass das alles wirklich so ist. Aber wenn uns die Linken „auf ihre Art" verraten werden, d. h. weniger aktiv, mehr maskiert als die Rechten, so doch sicher nicht um der schönen Augen der Delegation des WZSPS willen, sondern der englischen Arbeiter wegen. So ist die allgemeine Linie der Politik der „Linken" in allen Fragen, den inneren, wie den äußeren: „auf ihre Art" Verrat zu üben. Diese Politik ist für sie selbst vorteilhaft. Warum sind wir dann verpflichtet, „den Linken" zu zahlen durch Verzicht auf unsere Politik für die Politik, die sie sowieso im eigenen Interesse zu führen gezwungen sind?

12. In welchem Sinne aber werden die „Linken" ein Ballast für die Regierung sein? Offenbar in demselben Sinne, in welchem sie zur Zeit des imperialistischen Krieges „Ballast" waren oder jetzt sind, während des Krieges England gegen das revolutionäre China und während des Feldzuges der Konservativen gegen die Trades Union. Die „Linken" kritisieren die Regierung in solchen Grenzen, dass sie sie nicht in ihrer Rolle eines Ausbeuters und Räubers stören. Die „Linken" geben der Unzufriedenheit der Massen Ausdruck in solchen Grenzen, dass sie die Massen vor revolutionären Aktionen zurückhalten. In den Fällen, wo die Unzufriedenheit der Massen sich nach außen Durchbruch verschafft, bemühen sich die „Linken", die Bewegung zu beherrschen, um sie abzuwürgen. Wenn die „Linken" die Bourgeoisie nicht kritisieren, nicht entlarven, nicht angreifen würden, so könnten sie ihr nicht „auf ihre Art" dienen.

Wenn man also zugibt, dass die Linken ein Ballast sind, so gibt man zu, dass sie ein nützlicher, zweckmäßiger, notwendiger, rettender Ballast sind, ohne welchen das Schiff des britischen Imperialismus längst zu Grunde gegangen wäre.

Freilich brüllen die Diehards gegen die Linken. Das aber geschieht, damit sie in der Furcht Gottes erhalten werden; idamit sie nicht die ihnen vorgeschriebene Grenze überschreiten; damit man keine unnötigen Unkosten für seinen „Ballast" bekommt. Die Diehards stellen in der Mechanik des Imperialismus einen ebenso notwendigen Bestandteil vor, wie die „Linken".

13. Aber unter dem Druck der Massen können die Linken doch auch die ihnen von dem bürgerlichen Regime vorgeschriebene Grenze überschreiten! Dieses unerwartete Argument wird auch losgelassen.

Dass ein revolutionärer Druck der Massen das Spiel der Chamberlain – Thomas – Purcell zerstören kann, das steht außer Zweifel; aber der Streit geht doch nicht darum, ob für einen Arbeiterstaat die internationale revolutionäre Bewegung des Proletariats vorteilhaft ist, sondern darum, ob wir durch unsere Politik ihr helfen oder sie stören.

Der Druck der Massen wird, alle übrigen Bedingungen als gleich angenommen, desto stärker sein, je mehr die Massen beunruhigt sein werden durch die Perspektive eines Krieges, je weniger sie sich auf den Generalrat verlassen werden und je weniger sie den linken „Verrätern" (Verrätern „auf ihre Art") vertrauen werden. Wenn wir zusammen mit der Delegation des Generalrates „einmütig" eine klägliche, lügnerische, heuchlerische Deklaration über den Krieg unterschreiben, so beruhigen wir damit die Massen, dämpfen ihre Unruhe, schläfern sie ein und setzen folglich ihren Druck auf die „Linken" herab.

14. Die Berliner Konferenz kann durch die „internationalen Interessen der UdSSR" gerechtfertigt werden! Hier wird der Fehler von Bucharin besonders himmelschreiend. Am meisten und unmittelbarsten werden infolge der falschen Politik des Politbüros in Bezug auf den Generalrat gerade die Interessen der UdSSR leiden. Nichts kann uns einen solchen Schaden zufügen, wie Lüge und Heuchelei im revolutionären Lager des Proletariats. Unsere Feinde, erfahrene und scharfsichtige Imperialisten, werden wir nicht betrügen.

Den schwankenden Pazifisten wird die Heuchelei helfen, auch fernerhin zu schwanken. Und unsere wirklichen Freunde, die revolutionären Arbeiter, kann die Politik der Illusionen und der Heuchelei nur beitrügen und schwächen.

Eben deshalb hat Lenin in der Instruktion für unsere Delegation zum pazifistischen Kongress in Den Haag, wo wir es mit den gleichen Gewerkschaftlern, Genossenschaftlern usw. zu tun hatten, geschrieben:

Mir scheint, wenn wir auf der Haager Konferenz einige Mann haben werden, die fähig sind, in dieser oder jener Sprache eine Rede gegen den Krieg zu halten, so wird es am Wichtigsten sein, die Anschauung zu widerlegen, dass die Anwesenden Gegner des Krieges sind, dass sie verstehen, wie der Krieg im allerunerwartesten Moment auf sie herabstürzen kann und wird, dass sie auch nur im geringsten die Methode des Kampfes gegen den Krieg begreifen, dass sie auch nur im geringsten fähig sind, einen vernünftigen und das Ziel erreichenden Weg des Kampfes gegen den Krieg anzunehmen." (Bd. XX, Ergänzungsband, Teil 2, S. 530.)

Welche Interessen verfolgte Lenin mit diesen Worten? Die internationalen Interessen der UdSSR oder die revolutionären Interessen des internationalen Proletariats? Bei einer solchen Grundfrage setzte Lenin nicht eins gegen das andere und konnte es nicht einander gegenüberstellen. Lenin war der Meinung, dass die geringste Nachgiebigkeit pazifistischen Illusionen der Gewerkschaftler gegenüber den wirklichen Kampf gegen die Kriegsgefahr erschweren wird und also in gleicher Weise Schaden bringen wird dem Internationalen Proletariat und der UdSSR.

Dabei hatte Lenin gewissenhafte Pazifisten im Auge, nicht aber abgestempelte Streikbrecher, welche durch ihre ganze Lage nach dem Mai 1926 zu einer weiteren Kette von Verräterei verurteilt sind.

15. Hierauf wird Bucharin erwidern: Die Berliner Beschlüsse würden unzulässig sein, wenn wir nur durch die Gewerkschaften wirken würden; wir können aber doch mit Parteimitteln das ergänzen oder verbessern, was wir in Berlin gemacht haben. Seht doch: wir kritisieren ja den Generalrat in Artikeln der „Prawda", in Reden englischer Kommunisten usw.

Diese Argument ist eine wahre Vergiftung des revolutionären Bewusstseins. Die Worte von Bucharin bedeuten nur, dass wir den Generalrat „auf unsere Art" unterstützen, während dieser „auf seine Art" den imperialistischen Staat unterstützt. Dass wir den Generalrat „kritisieren", ist unter den gegebenen Umständen eine notwendige Deckung unserer Unterstützung des Generalrates, unseres politischen Blocks mit ihm.

Die Artikel der „Prawda" (die im höchsten Grade läppisch sind in der Frage der Purcell u. Co.), lesen die englischen Arbeiter nicht. Die Beschlüsse der Berliner Konferenz aber sind von der Presse der ganzen Welt veröffentlicht worden. Von den Artikeln der englischen Kommunisten weiß vorläufig nur eine geringe Minderheit des englischen Proletariats etwas. Das aber, dass Purcell und Tomski in „herzlichen Beziehungen" zueinander sind, „gegenseitiges Verständnis" und „Einmütigkeit" besitzen, das weiß jeder englische Arbeiter. Das Benehmen der Delegation des WZSPS, welche das siegreiche Proletariat der Sowjetunion repräsentiert, ist viel schwerwiegender als die Reden englischer Kommunisten und desavouiert daher deren Kritik, die nebenbei gesagt ungenügend ist, da auch ihre Freiheit durch das anglorussische Komitee beschränkt wird.

Mit einem Wort: die Kapitulation des WZSPS im Namen des Blocks mit Purcell ist eine Grundtatsache der internationalen Arbeiterbewegung im gegenwärtigen Moment. Die „kritischen" Artikel der „Prawda", die immer neuen „Theorien" Bucharins sind nur eine Sauce zu dieser Tatsache.

16. Auf welche Art kann die durch und durch faule, pseudopazifistische Abmachung mit Verrätern, die wir in einem Aufwasch schon als die „einzigen Vertreter" des englischen Proletariats erklärt haben, unsere internationale Lage befestigen? Auf welche Art? Die Berliner Konferenz ging doch vor sich in der Periode der Eröffnung der Kriegshandlungen der englischen Regierung gegen China und der Vorbereitung solcher Handlungen gegen uns. Die Interessen unserer internationalen Lage forderten vor allem, dass man diese Tatsachen offen beim Namen nannte. Wir aber haben sie verschwiegen. Chamberlain kennt diese Tatsachen und hat es notwendig, dass man sie verschweigt. Die englischen Massen kennen diese Tatsachen nicht richtig und haben es notwendig, sie kennen zu lernen. Ehrliche Pazifisten aus den Arbeitern können angesichts dieser Tatsachen zur revolutionären Linie übergehen. Die gemeinen Krämer des Pazifismus vom Generalrat können nicht laut über Tatsachen reden, die ihre unzweifelhafte und im besten Falle stillschweigende Verschwörung mit Chamberlain gegen die englischen Arbeiter, gegen China, gegen die UdSSR, gegen das Weltproletariat entlarven.

Was haben nun wir in Berlin gemacht? Wir haben mit der ganzen Autorität eines Arbeiterstaates den „pazifistischen" Lakaien des Imperialismus geholfen, ihre Diebesgeheimnisse zu behüten. Noch mehr, wir haben die Verantwortung für diese Geheimnisse auf uns genommen. Wir haben vor der ganzen Welt proklamiert, dass in der Sache des Kampfes und gegen den Krieg wir „einmütig" sind, mit den Agenten Chamberlains im Generalrat. Wir haben damit die Widerstandskraft der englischen Arbeiter gegen den Krieg geschwächt. Wir haben damit die Freiheit der Handlungen Chamberlains vergrößert. Wir haben damit der internationalen Lage der UdSSR Schaden zugefügt.

Man muss konkreter sagen: die Berliner Kapitulation des WZSPS vor dem Generalrat hat dem Chamberlain den Überfall auf die Sowjetinstitutionen in London mit allen möglichen Folgen dieses Akts außerordentlich erleichtert.

17. Man darf nicht vergessen, dass dank speziell der Insellage Englands und dem Fehlen einer unmittelbaren Gefahr für seine Grenzen, die englischen Reformisten schon im vorigen Krieg sich etwas größere „Freiheit" in Worten leisten konnten, als ihre Brüder im Verrat auf dem Festlande. Aber im Allgemeinen haben sie die gleiche Rolle gespielt. Jetzt, mit der Erfahrung des imperialistischen Krieges, werden die Reformisten, insbesondere die „Linken", sich im Falle eines neuen Krieges bemühen, den Arbeitern noch mehr Sand in die Augen zu streuen, als in den Jahren 1914/18. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass anlässlich des Überfalles auf die Sowjetinstitutionen in London, den sie durch ihre ganze Politik vorbereitet haben, die „Linken" um zwei Töne höher als die Liberalen protestieren werden. Aber wenn das anglorussische Komitee irgendwie fähig wäre, nicht Chamberlain, sondern uns zu helfen, müssten dann nicht beide Seiten schon während der ersten 24 Stunden zu der Einigung kommen, dass man Alarm schlagen muss, und mit den Massen in der Sprache reden muss, die dem Ernst der Umstände entspricht? Aber davon gab es nichts und wird es nichts geben: das anglorussische Komitee existierte nicht während des Generalstreiks, als der Generalrat es ablehnte, das „verfluchte Geld" von WZSPS anzunehmen: das anglorussische Komitee existierte nicht während des Bergarbeiterstreiks; das anglorussische Komitee existierte nicht während der Zerstörung von Nanking, und das anglorussische Komitee wird nicht existieren im Falle des Abbruches der diplomatischen Beziehungen zwischen England und der UdSSR. Diese harte Wahrheit muss man den Arbeitern sagen. Man muss sie ehrlich warnen. Das wird die UdSSR, stärken!

18. Man kann entgegnen: aber es sind doch Konzessionen unsererseits an die Bourgeoisie zulässig, und wenn man den jetzigen Generalrat als eine Agentur der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung betrachtet, warum darf man da nicht Konzessionen an den Generalrat aus den gleichen Erwägungen machen, aus denen wir Konzessionen an den Kapitalismus machen? Einige Genossen fangen an, sich um diese Formel herumzudrehen, die ein klassisches Muster für die Verfälschung und Umstülpung des Leninismus zu Zwecken einer opportunistischen Politik ist.

Wenn wir gezwungen sind, dem Klassenfeind Konzessionen zu machen, so machen wir sie dem Herrn selbst, nicht aber seinem menschewistischen Kommis gegenüber. Wir maskieren niemals und verdecken niemals unsere Konzessionen. Als wir dem Ultimatum Curzons Konzessionen machten, erklärten wir den englischen Arbeitern, dass wir, mit ihnen zusammen, vorläufig noch nicht stark genug sind, um die Herausforderung Curzons unmittelbar anzunehmen. Wir haben uns von dem Ultimatum losgekauft, d. h. von dem diplomatischen Bruch, haben aber durch eine klare Fragestellung die realen Beziehungen der Klassen bloßgelegt, haben die Reformisten geschwächt, haben unsere internationale Lage befestigt, ebenso wie die Lage des internationalen Proletariats. In Berlin haben wir aber absolut nichts von Chamberlain bekommen. Die Konzession, die wir im Interesse des englischen Kapitalismus gemacht haben (neue Krönung des Generalrats, Prinzip der „Nichteinmischung usw.), haben wir nicht im Austausch gegen irgendwelche Konzessionen seinerseits gemacht (kein Abbruch der Beziehungen, kein Krieg), sondern einseitig, dabei maskiert, wobei wir unsere Konzessionen an den Kapitalismus als Triumph der Einheit der Arbeiterklasse darstellen. Chamberlain hat vieles gratis bekommen. Die Verräter des Generalrats haben viel bekommen. Wir haben eine – Kompromittierung bekommen. Das internationale Proletariat hat – Verwirrung und Durcheinander bekommen. Der englische Imperialismus ist nach der Berliner Konferenz gestärkt. Wir sind geschwächt.

19. Aber, sagt man, der Bruch mit dem Generalrat würde in einem so zugespitzten Augenblick bedeuten, dass wir nicht einmal mit den Arbeiterorganisationen Englands in Frieden leben können, das würde ein Triumpf für die Imperialisten sein usw. usw.

Dieses Argument ist in der Wurzel selbst falsch. Natürlich wäre es unvergleichlich viel vorteilhafter gewesen, wie das die Opposition gefordert hat, mit dem Generalrat sofort nach seinem Verrat des Generalstreiks zu brechen. Dieses Jahr würde dann nicht mit traurigen Liebenswürdigkeiten den Verrätern gegenüber vertrödelt worden, sondern zur erbarmungslosen Entlarvung dieser gebraucht worden sein. An Anlässen dazu hat das verflossene Jahr keinen Mangel gehabt. Eine solche Politik hätte die „Linken" Kapitulanten des Generalrats gezwungen, im Kampfe um die Reste ihres Rufes sich von den Rechten abzugrenzen, Chamberlain halb zu entlarven, mit einem Wort, den Arbeitern zu beweisen, dass sie, die „Linken", gar nicht so schlecht sind, wie die Moskowiter sie darstellen. Das würde die Spaltung im Generalrat vertieft haben. Und wenn die Gauner des Reformismus sich hauen, so kommen viele Heimlichkeiten ans Tageslicht, und die Arbeiter gewinnen davon. Ein solcher Kampf gegen den Generalrat würde die schärfste Form des Kampfes gegen die Politik Chamberlains in der Arbeiterbewegung sein. In diesem Kampfe würden die Arbeiterkader Englands, in einem Jahre lernen, die Gauner des Generalrats viel geschickter bei ihren Gaunereien zu stellen und die Politik Chamberlains zu entlarven. Der englische Imperialismus würde heute auf viel größere Schwierigkeiten stoßen. Mit anderen Worten: wenn im Juni des vorigen Jahres die Politik angenommen worden wäre, die von der Opposition vorgeschlagen wurde, so würde die Lage der UdSSR jetzt stärker sein.

Mit einer Verspätung musste man diesen Bruch mindestens während des Bergarbeiterstreiks herbeiführen, was sowohl der Million Bergarbeiter, wie einigen Millionen der im Generalstreik Betrogenen vollkommen klar gewesen wäre. Unsere diesbezüglichen Vorschläge wurden aber abgelehnt als unvereinbar mit den Interessen der internationalen Gewerkschaftsbewegung. Die Folgen sind bekannt. Sie sind in Berlin fixiert worden. Heute behaupten sie dass die in der Wurzel falsche Linie, die schon so einen Haufen Schaden angerichtet hat, auch fernerhin gehalten werden muss infolge der Schwierigkeiten der internationalen Lage, das würde dem Wesen nach bedeuten, dass man die internationale Lage der UdSSR opfert, um die Fehler der Führung zu verbergen. Die ganze neue Theorie Bucharins hat keinen anderen Sinn.

20. Eine Verbesserung des Fehlers würde auch jetzt, mit einjähriger Verspätung, nur Vorteile und keine Nachteile geben. Natürlich wird Chamberlain sagen, dass die Bolschewiken nicht einmal mit seinen Trade-Unionisten Frieden zu halten fähig sind. Aber jeder ehrliche und einigermaßen bewusste englische Arbeiter wird sagen: „Die viel zu geduldigen russischen Bolschewiki, die mit dem Generalrat sogar während unseres Streiks nicht gebrochen haben, konnten keine Freundschaft mit ihm weiterhin halten, als er es ablehnte, gegen die Niederschlagung der chinesischen Revolution und gegen den von Chamberlain eingefädelten neuen Krieg kämpfen." Die faulen Dekorationen des anglorussischen Komitees werden bei Seite geworfen werden. Die Arbeiter werden reale Tatsachen sehen, reale Verhältnisse. Wer wird dabei verlieren? Der Imperialismus, der faule Dekorationen braucht. Gewinnen werden die UdSSR, und das internationale Proletariat.

21. Kehren wir aber nochmals zurück zur neuesten Theorie von Bucharin. Im Gegensatz zu Tomski sagt Bucharin, wie wir wissen, dass die Berliner Beschlüsse nicht eine Politik der Einheitsfront sind, sondern eine Ausnahme von ihr, hervorgerufen durch ausnahmsweise Umstände.

Was sind das für Umstände? Die Kriegsgefahr, d. h die wichtigste Frage der Politik des Imperialismus und der Politik des Weltproletariats. Schon diese Tatsache allein müsste jeden Revolutionär zur Achtsamkeit zwingen. Es kommt folgendes heraus: revolutionäre Politik taugt für mehr oder weniger „normale" Bedingungen; wenn aber vor uns die Frage auf Leben oder Tod steht, dann muss man die revolutionäre Politik durch eine kompromisslerische ersetzen.

Als Kautsky den Sündenfall der zweiten Internationale im Jahre 1914 rechtfertigte, dachte er sich hintennach die Theorie aus, dass die Internationale ein Instrument des Friedens, nicht aber des Krieges sei. Mit anderen Worten, Kautsky proklamierte, dass der Kampf gegen den bürgerlichen Staat normal ist, dass man aber unter den „Ausnahmebedingungen" des Krieges eine Ausnahme machen müsse und einen Block mit der bürgerlichen Regierung schließen müsse, dabei aber fortfahren kann, sie in der Presse zu kritisieren.

Jetzt handelt es sich für das internationale Proletariat nicht nur um den Kampf gegen den bürgerlichen Staat, wie im Jahre 1914, sondern um die unmittelbare Verteidigung eines Arbeiterstaats. Aber gerade dieses Interesse der Verteidigung fordert vom internationalen Proletariat nicht eine Abschwächung, sondern eine Zuspitzung des Kampfes gegen den bürgerlichen Staat. Die Kriegsgefahr für das Proletariat abwenden oder aufschieben vermag nur die reale Gefahr für die Bourgeoisie, dass dieser Krieg in den Bürgerkrieg verwandelt werden kann. Mit anderen Worten, die Kriegsgefahr fordert nicht Übergang von der revolutionären Politik zu kompromisslerischer, sondern umgekehrt eine festere, energischere, unversöhnlichere Durchführung der revolutionären Politik. Der Krieg stellt alle Fragen hart. Er lässt in viel geringerem Umfange als friedliches Milieu Ausweichen und Halbheit zu. Wenn in friedlicher Zeit der Block mit den Purcells, die den Generalstreik verraten haben, ein Hindernis war, so ist bei Kriegsgefahr dieser ein Mühlstein am Halse der Arbeiterklasse:

Lässt man den Gedanken zu, dass die Wendung vom Bolschewismus zum Opportunismus durch Umstände gerechtfertigt wird, von denen Leben und Tod des Arbeiterstaates abhänge, so kapituliert man prinzipiell vor dem Opportunismus: denn was ist die revolutionäre Politik wert, auf die man unter den kritischsten Umständen verzichten muss?

22. Kann man überhaupt einmal die Gewerkschaften im Interesse der internationalen Klassenpolitik benutzen, ein anderes Mal aber zu irgendwelchen angeblichen diplomatischen Zielen? Kann man ein solches Regime einführen, dass die gleichen Vertreter der KPdSU der Komintern des WZSPS einmal vom Generalrat sagen, dass das Verräter und Gauner sind, ein anderes Mal aber, dass das Gesinnungsgenossen und Freunde sind? Genügt es dann, geheimnisvoll zu wispern, das erstere müsse man im revolutionären und klassenmäßigen Sinne verstehen, das zweite aber im diplomatischen, kann man ernsthaft über eine solche Politik reden? Kann man ernsthaft sprechen mit Menschen, die eine solche Politik vorschlagen und verteidigen?

Nach der Berliner Konferenz ist das Wort „Verräter" in Bezug auf einen menschewistischen Agenten der Bourgeoisie furchtbar billig geworden. Aber ebenso billig geworden sind auch solche Worte wie „herzliche Beziehungen", „gegenseitiges Verständnis" und „Einmütigkeit" (Worte des Genossen Tomski). Für wen berechnet man diese ungewöhnlich schlaue Kombination der Mittel? Sie wird keinen Augenblick lang die Feinde betrügen. Sie wird nur die Freunde verwirren und das Gewicht unserer eigenen Worte und Taten vermindern.

23. Die neue Theorie Bucharins ist nicht isoliert. Einerseits sagt man uns, dass die prinzipienlose Abmachung mit dem bekanntlich verräterischen Generalrat angeblich die Verteidigung der UdSSR, erleichtert, andererseits hören wir immer häufiger, dass die Schaffung von Arbeiter- und Bauernräten in China eine Drohung für die Verteidigung der UdSSR wäre. Bedeutet das nicht, dass man die Grundlagen der bolschewistischen Politik auf den Kopf .stellt? Arbeiter- und Bauernräte in China würden eine grandiose Verlängerung der Sowjetfront und Verstärkung unserer Weltposition bedeuten. Die Abmachung mit dem Generalrat bedeutet umgekehrt eine Abschwächung der inneren Widersprüche in England und eine Erleichterung der Räuberarbeit Chamberlains gegen China und gegen uns.

Gibt man zu, dass Sowjets in China für unsere internationale Lage schädlich sind, der Generalrat aber nützlich ist. dann ist die Anerkennung des Prinzips der „Nichteinmischung" dem Wesen nach richtig; aber dann muss man ergänzende Schlüsse ziehen, mindestens in Bezug auf Amsterdam. Man kann sicher sein, dass diese Schlüsse heute oder morgen gezogen werden, wenn nicht von Bucharin selbst, so von anderen. Das neue Prinzip der opportunistischen Regel kann breite Anwendung finden. Die Orientierung nach den opportunistischen Spitzen der Arbeiterbewegung wird immer breiter begründet werden durch die Notwendigkeit eine Intervention zu vermeiden. Die Möglichkeit des Aufbaus in einem Lande wird zur Rechtfertigung des Prinzips der „Nichteinmischung" dienen. So wird von verschiedenen Enden her die Schlinge geknüpft werden, die die revolutionären Prinzipien des Bolschewismus zu Tode erwürgen kann. Man muss damit ein für allemal Schluss machen!

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Man muss das Versäumte nachholen. Notwendig ist eine breite und politische klare internationale Kampagne gegen Krieg und Imperialismus. Unser Block mit dem Generalrat ist jetzt das Haupthindernis auf dem Wege dieser Kampagne, genau so wie unser Block mit Tschiang Kai-schek das Haupthindernis auf dem Wege der Entwicklung der Arbeiter- und Bauernrevolution in China war und eben deshalb von der bürgerlichen Gegenrevolution gegen uns ausgenutzt wurde. Je zugespitzter die internationale Lage werden wird, um so mehr wird das anglorussische Komitee sich in ein Werkzeug des. britischen und des internationalen Imperialismus gegen uns verwandeln. Nach alledem, was vorgefallen ist, kann das nur derjenige nicht begreifen, der es nicht begreifen will. Wir haben bereits zu viel Zeit versäumt. Es wäre ein Verbrechen, auch nur einen einzigen weiteren Tag zu versäumen.

16. Mai 1927

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