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Leo Trotzki 19270511 Der sichere Weg

Leo Trotzki: Der sichere Weg

[Nach dem Sammelband „Der Kampf um die Kommunistische Internationale. Dokumente der russischen Opposition, nicht veröffentlicht vom Stalinschen ZK, veröffentlicht vom Verlag der ,Fahne des Kommunismus'“, Berlin 1927, S. 165-170]

Der Schanghaier Korrespondent des „Daily Express" teilt mit:

Die Bauern der Provinz Henan besetzen das Land und richten die sich am hartnäckigsten widersetzenden Großgrundbesitzer hin. Überall befindet sich die Kontrolle in den Händen der Kommunisten. Lokal werden Arbeiterräte geschaffen, denen die Verwaltungsmacht gehört."

(„Prawda" vom 11. Mai 27.)

Wir wissen nicht, inwieweit das Telegramm richtig ist, welches das Milieu in so scharfen Strichen zeichnet. Wir haben keine anderen Nachrichten als das Telegramm. Welches ist der wirkliche Umfang der Bewegung? Wird er nicht bewusst übertrieben, um die Einbildungskraft des Mr. MacDonald, Thomas, Purcell und Hicks zu beeinflussen, mit der Absicht, sie nachgiebiger für die Politik Chamberlains zu machen? Wir wissen das nicht. Aber das besitzt in diesem Falle keine entscheidende Bedeutung.

Die Bauern ergreifen das Land und rotten die gegenrevolutionärsten Großgrundbesitzer aus. Lokal werden Arbeiterräte geschaffen, denen die Verwaltungsgewalt gehört. Das teilt ein Korrespondent einer reaktionären Zeitung mit. Die Redaktion der „Prawda" hielt diese Mitteilung für hinreichend wichtig, um sie in die Kopfaufzählung der wichtigsten Tagesereignisse der ganzen Welt hineinzunehmen. Auch wir sind der Meinung, dass das richtig ist. Es wäre aber natürlich verfrüht, zu behaupten, dass die chinesische Revolution bereits, nach dem Aprilumsturz der bürgerlichen Gegenrevolution, in ein neues, höheres Stadium getreten sei. Nach einer großen Niederlage kommt es häufig vor, dass ein Teil der angreifenden Masse, welcher keine unmittelbaren Schläge hat aushalten müssen,, in das nächste Stadium der Bewegung hinüber flutet und zeitweilig die Spitzenabteilungen überflügelt, die an der Niederlage besonders hart gelitten haben. Würden wir eine Erscheinung dieser Art vor uns haben, so würden die Sowjets von Henan bald verschwinden, zeitweilig durch die allgemeine revolutionäre Ebbe herunter gespült.

Aber es besteht nicht der geringste Anlass, zu behaupten, dass wir lediglich heftige Nachhutzusammenstöße der Revolution vor uns haben, die für eine lange Periode zurückflutet. Trotzdem die Aprilniederlage keine teilweise „Episode" war, sondern eine sehr bedeutende Etappe in der Entwicklung der Gegenrevolution; trotz des grausamen Aderlasses, der an den Vorhutabteilungen der Arbeiterklasse vollzogen wurde, besteht nicht der geringste Anlass zu behaupten, dass die chinesische Revolution auf Jahre zurückgeschlagen sei.

Die Agrarbewegung, da sie mehr zersplittert ist, ist der unmittelbaren Einwirkung der Henker der Gegenrevolution weniger ausgesetzt. Es ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass das fernere Wachstum der Agrarbewegung dem Proletariat die Möglichkeit geben wird, bereits in verhältnismäßig naher Zukunft sich wieder aufzurichten und erneut zum Angriff überzugehen. Natürlich sind genaue Prophezeiungen darüber unmöglich, insbesondere von fern her. Die chinesische kommunistische Partei wird aufmerksam den realen Gang der Ereignisse und die Klassengruppierungen verfolgen müssen, um den Augenblick einer neuen Angriffswelle abzupassen.

Die Möglichkeit eines neuen Angriffs wird aber nicht nur von der Entwicklung der Agrarbewegung abhängen, sondern auch davon, nach welcher Seite in der nächsten Periode die breiten, kleinbürgerlichen Massen der Städte sich entwickeln werden. Der Umsturz des Tschiang Kai-schek bedeutet nicht nur (vielleicht nicht einmal so sehr) die Befestigung der Macht der chinesischen Bourgeoisie, sondern auch die Wiederherstellung und Befestigung der Positionen des Auslandskapitals in China mit allen hieraus sich ergebenden Konsequenzen. Hieraus folgt die Wahrscheinlichkeit, vielleicht sogar die Unvermeidlichkeit – und das in ziemlich naher Zukunft – einer Wendung der kleinbürgerlichen Massen gegen den Tschiang Kai-schek. Die Kleinbourgeoisie, die nicht nur durch das Auslandskapital, sondern auch durch das Bündnis der nationalen chinesischen Bourgeoisie mit ihm, starke Leiden zu ertragen hat, muss – nach diesen oder jenen Schwankungen – sich gegen die bürgerliche Konterrevolution wenden. Gerade hierin besteht eine der für uns wichtigsten Erscheinungen der Klassenmechanik in der national-demokratischen Revolution.

Endlich ist das junge chinesische Proletariat durch die ganzen Bedingungen seiner Existenz in solchem Maße an Entbehrungen und Opfer gewöhnt, hat es in solchem Maße „gelernt", zusammen mit dem gesamten, überhaupt unterdrückten chinesischen Volk dem Tode in die Augen zu schauen, dass man von den chinesischen Arbeitern, wenn sie erst durch die Revolution richtig erweckt worden sind, vollkommen ungewöhnliche Selbstentäußerung im Kampfe erwarten darf.

Alles das gibt das volle Recht, damit zu rechnen, dass die neue Welle der chinesischen Revolution von jener Welle, welche mit der Aprilniederlage des Proletariats abschloss, nicht durch lange Jahre, sondern durch kurze Monate getrennt sein wird. Natürlich kann niemand auch hierfür Termine angeben. Aber wir würden unbrauchbare Revolutionäre sein, wenn wir nicht unseren Kurs auf einen neuen Aufschwung hinhalten würden, wenn wir für diesen kein Aktionsprogramm, keinen politischen Weg und keine Organisationsformen ausarbeiten würden.

Die Aprilniederlage war keine „Episode", es war das eine schwere Klassenniederlage; auf die Analyse der Ursachen dieser Niederlage verzichten wir hier. Wir wollen in diesem Artikel von dem Morgen, nicht von dem Gestern, sprechen. Die Schwere der Aprilniederlage besteht nicht nur darin, dass den proletarischen Zentren ein blutiger Schlag zugefügt wurde. Die Schwere der Niederlage besteht darin, dass die Arbeiter von denen niedergeschlagen wurden, die bis dahin an ihrer Spitze standen. Eine so heftige Wendung muss neben der physischen Desorganisation auch eine politische Verwirrung in den Reihen des Proletariats anrichten. Diese Verwirrung, die für die Revolution gefährlicher ist, als die Niederschlagung selbst, kann man nur durch eine klare, präzise, revolutionäre Linie für den morgigen Tag überwinden.

In diesem Sinne besitzt das Telegramm des Schanghaier Korrespondenten der reaktionären englischen Zeitung eine ganz besondere Bedeutung. In ihm ist gezeigt, welche Wege die Revolution in China beschreiten kann, wenn es ihr gelingen wird, in der nächsten Periode eine höhere Stufe zu erreichen.

Wir haben weiter oben gesagt, dass die bauernmäßige Erledigung der Großgrundbesitzer in Henan, ebenso wie die Schaffung von Arbeiterräten, auch eine Schlusssteigerung der letzten Welle und der Beginn einer neuen Welle sein können, wenn man von fern her die Sache betrachtet. Diese Gegenüberstellung zweier Wellen selbst kann ihre Bedeutung verlieren, wenn der Zwischenraum zwischen ihnen lang Ist, nämlich einige Wochen oder sogar einige Monate. Wie aber die Sache auch stehen mag (und hier kann man nur Rätsel raten, insbesondere von fern her), so ist die symptomatische Bedeutung der Ereignisse von Henan vollkommen klar und unbestreitbar, unabhängig von ihrem Umfang und Schwung. Die Bauern und die Arbeiter von Henan zeigen, welchen Weg ihre Bewegung beschreiten kann, nachdem die schweren Ketten ihres Blocks mit der Bourgeoisie und den Großgrundbesitzern gesprengt sind. Es wäre verächtlich und philisterhaft, zu glauben, dass die Agrarfrage und die Arbeiterfrage im Prozess dieser, den Aufgaben und den in sie hineingezogenen Massen nach gigantischen Revolution durch Dekrete von oben und Schlichtungskommissionen gelöst werden können. Der Arbeiter will selbst das Rückgrat der reaktionären Bourgeoisie brechen und die Fabrikanten lehren, den Proletarier, seine Persönlichkeit und seine Rechte zu ehren. Der Bauer will selbst die Knoten seiner Abhängigkeit von den ihn auswuchernden und versklavenden Großgrundbesitzern zerhauen. Der Imperialismus, welcher durch seine Zoll-, Finanz- und Militärpolitik die wirtschaftliche Entwicklung Chinas mit Gewalt hemmt, verurteilt die Arbeiter zu Bettelarmut und die Bauern zur grausamsten Versklavung. Der Kampf gegen den Großgrundbesitzer, der Kampf gegen den Wucherer, der Kampf gegen den Kapitalisten um bessere Arbeitsbedingungen erhebt sich dadurch selbst zum Kampfe um die nationale Unabhängigkeit Chinas, um die Befreiung seiner Produktionskräfte von den Banden und Ketten des ausländischen Imperialismus. Das ist der hauptsächlichste und mächtigste Feind. Mächtig ist er nicht nur durch seine Kriegsschiffe, sondern auch direkt durch die unzerreißbare Verbindung der Spitzen der Banken, Wucherer, Bürokraten und Militärs, der chinesischen Bourgeoisie und durch den indirekteren, aber nicht weniger innigen Zusammenhang der großen Handels- und Industriebourgeoisie mit ihm.

Alle diese Tatsachen bezeugen, dass der Druck des Imperialismus keineswegs ein äußerer, mechanischer Druck ist, der alle Klassen zusammenschweißt. Nein, das ist ein sehr tiefliegender Faktor der inneren Aktion, welcher den Klassenkampf zuspitzt. Die chinesische Handels- und Industriebourgeoisie führt bei jedem ernsten Zusammenstoß mit dem Proletariat die Zusatzkraft des ausländischen Kapitals und der ausländischen Bajonette in ihrem Rücken. Die Herren dieser Kapitalien und Bajonette spielen die Rolle erfahrener und geschickter Aufwiegler, welche auch das Blut der chinesischen Arbeiter in ihre Rechnungen einschließen, genau so wie Rohkautschuk und Opium. Will man den ausländischen Imperialismus herausdrängen, will man diesen Feind besiegen, so muss man ihm die „friedliche", „normale" Henker- und Räuberarbeit in China unmöglich machen. Das kann man natürlich nicht erreichen auf dem Wege des Kompromisses der Bourgeoisie mit dem ausländischen Imperialismus. Ein solcher Kompromiss kann den Anteil der chinesischen Bourgeoisie an den Arbeitsprodukten der chinesischen Arbeiter und Bauern um einige Prozent vergrößern. Aber es wird das tiefere Eindringen des ausländischen Imperialismus in das wirtschaftliche und politische Leben Chinas bedeuten, die tiefere Versklavung der chinesischen Arbeiter und Bauern. Der Sieg über den ausländischen Imperialismus kann nur auf dem Weg errungen werden, dass dieser aus China durch die Werktätigen aus Stadt und Land ausgetrieben wird. Hierfür müssen große Millionenmassen wirklich sich erheben. Sie können sich nicht unter der nackten Losung der nationalen Befreiung erheben, sondern nur in unmittelbarem Kampfe gegen den Großgrundbesitzer, den Militärsatrapen, den Wucherer, den kapitalistischen Räuber. In diesem Kampfe erheben sich bereits, stählen sich, bewaffnen sich die Massen. Einen anderen Weg der revolutionären Erziehung gibt es nicht. Die großbürgerliche Führung der Kuomintang (die Bande des Tschiang Kai-schek) setzte sich mit allen Mitteln diesem Wege entgegen. Erst von innen, auf dem Wege von Dekreten und Verboten, und, als die „Disziplin" der Kuomintang nicht ausreichte, mit Hilfe von Maschinengewehren. Die kleinbürgerliche Führung der Kuomintang schwankt aus Befürchtung einer allzu stürmischen Entwicklung der Massenbewegung. Ihrer ganzen Vergangenheit nach sind die kleinbürgerlichen Radikalen gewohnt, mehr nach oben zu blicken, auf Kombinationen von allerlei „nationalen" Gruppen zu schauen, als nach unten, auf den wirklichen Kampf von Millionen. Aber wenn Schwankungen und Unentschiedenheit in allen Dingen gefährlich sind, so sind sie in der Revolution verderblich. Die Arbeiter und Bauern von Henan zeigen den Ausweg aus den Schwankungen, und dadurch den Weg zur Rettung der Revolution.

Es ist nicht nötig, zu erklären, dass nur dieser Weg, d.h. der tiefere Massenschwung, der größere soziale Radikalismus des Programms, die offene Fahne der Arbeiter- und Bauernräte, die Revolution vor der militärischen Niederschlagung von außen ernsthaft behüten könne. Wir wissen das aus unserer eigenen Erfahrung. Nur eine Revolution, auf deren Fahne die Werktätigen und Ausgebeuteten deutlich Ihre eigenen Forderungen schreiben, ist fähig, die Soldaten des Kapitalismus bei ihren lebendigen Gefühlen zu packen. Wir haben das in den Gewässern von Archangelsk, Odessa und an anderen Stellen erfahren und ausprobiert. Die kompromisslerische und verräterische Führung hat Nanking vor der Zerstörung nicht behütet und den feindlichen Schiffen den Zutritt in den Yang Tse geöffnet. Eine revolutionäre Führung kann bei mächtigem, sozialen Schwung der Bewegung dazu führen, dass die Gewässer des Yang Tse zu heiß werden für die Schiffe Georgs, Chamberlains und Mac Donalds. Jedenfalls kann die Revolution nur auf diesem Wege ihre Verteidigung suchen und finden.

Wir haben weiter oben zweimal wiederholt, dass die Agrarbewegung und die Schaffung von Sowjets die Vollendung des Gestern und den Beginn des Morgen bedeuten können. Aber das hängt nicht nur von objektiven Bedingungen ab. Eine ungeheure, vielleicht eine entscheidende, Bedeutung hat unter den heutigen Bedingungen der subjektive Faktor: die richtige Stellung der Aufgaben, die feste und klare Führung. Wenn eine Bewegung, wie die, die in Henau begonnen hat, sich selbst überlassen wird, so wird sie unvermeidlicherweise erdrückt werden. Die Sicherheit der sich erhebenden Massen wird sich verzehnfachen, sowie sie eine feste Führung im Zusammenhang untereinander spüren werden. Eine klare politisch die Dinge verallgemeinernde, organisatorisch sie verbindende Führung allein ist fähig, in größerem oder geringerem Maße die Bewegung vor unvorsichtigen oder vorzeitigen Seitensprüngen und vor sogenannten „Exzessen" zu behüten, ohne welche aber, wie die Erfahrung dar Geschichte lehrt, keine wirkliche revolutionäre Millionenbewegung abläuft.

Die Aufgabe besteht darin, der Agrarbewegung und den Arbeiterräten ein klares Programm praktischer Handlungen, inneren Zusammenhangs und ein verallgemeinerndes politisches Ziel zu geben. Nur auf dieser Grundlage kann sich eine wirklich revolutionäre Zusammenarbeit des Proletariats mit der Kleinbourgeoisie bilden und entwickeln, ein wirkliches Kampfbündnis der kommunistischen Partei mit der linken Kuomintang. Die Kader-Elemente der letzteren können sich überhaupt wirklich erst bilden und stählen, wenn sie sich im engsten Zusammenhang mit dem revolutionären Kampfe dar Bauern und der armen Bevölkerung der Stadt bilden. Die Agrarbewegung, geführt durch Bauern- und Arbeiterräte, wird die linken Kuomintangleute vor die Notwendigkeit stellen, endgültig zu wählen zwischen dem Tschiang Kai-schekschen Lager der Bourgeoisie und dem Lager der Arbeiter und Bauern. Die grundlegenden Klassenfragen offen zu stellen, das ist unter den heutigen Bedingungen das einzige Mittel, den Schwankungen der kleinbürgerlichen Radikalen ein Ende zu machen und sie zu zwingen, den Weg zu beschreiten, der allein zum Siege führt. Das kann nur unsere chinesische Partei unter der Unterstützung der ganzen Kommunistischen Internationale leisten.

27. Mai 1927.

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