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Leo Trotzki 19271021 Die Fälschung der Geschichte der russischen Revolution

Leo Trotzki: Die Fälschung der Geschichte der russischen Revolution

[nach der Broschüre im Verlag „Volkswille“ (Reichsorgan des Leninbundes (Linke Kommunisten), Herausgeber: Hugo Urbahns]

Vorbemerkung.

Die vorliegende Schrift Leo Trotzkis ist eine Antwort auf Fragen, welche ihm vom Institut für Parteigeschichte des ZK der WKP [Allrussischen Kommunistischen Partei] vorgelegt wurden. Die in der Komintern herrschende Fraktion hat diese Antwort wie fast alle Schriften, Artikel und Reden der oppositionellen Genossen vor der Partei- und Arbeiteröffentlichkeit verheimlicht. Der Grund ist für jeden, der die Auseinandersetzungen in der Komintern auch nur oberflächlich verfolgt hat, klar. Um die vom Leninismus abwegige Politik der jetzigen Führung der WKP und der Komintern als leninistisch, den Interessen des Proletariats entsprechend, hinstellen zu können, musste jede kritische Äußerung verheimlicht und unterdrückt werden, mussten, wenn das nicht möglich war, die Ansichten entstellt oder gar ins Gegenteil verkehrt wiedergegeben werden. Nur so konnte es gelingen, die Oppositionellen als „Renegaten", ihre Ansichten als „konterrevolutionär" und „menschewistisch" hinzustellen. Nur mit Hilfe dieser Methoden war es möglich, den Boden vorzubereiten, um die Opposition aus der Komintern ausschließen und die führenden Genossen der russischen Opposition nach Sibirien verbannen zu können.

Die von Stalin geführte herrschende Fraktion hat sich damit nicht begnügt. Sie musste versuchen, die Verdienste der Anhänger der Opposition um die Arbeiterbewegung und die russische Revolution herabzusetzen. Das war zumeist nur möglich durch eine offenkundige Fälschung historischer Tatsachen. Typisch ist dafür die Darstellung der Entwicklung und Tätigkeit des Genossen Trotzki. Es kann und soll keineswegs bestritten werden, dass in der Vergangenheit der Genosse Trotzki schwerwiegende Differenzen mit den Bolschewiken und dem Genossen Lenin gehabt hat. Es soll auch keinesfalls so dargestellt werden, als wenn in den Parteiauseinandersetzungen der Revolutionsjahre der Genosse Trotzki stets den Leninismus vertreten hätte; aber es ist eine Geschichtsfälschung, wenn man den Kampf Leo Trotzkis gegen die zunehmende Entartung der Diktatur des Proletariats, gegen die Verbürokratisierung der WKP in Bausch und Bogen als Kampf des „Trotzkismus" gegen den Leninismus hinzustellen versucht, und wenn der Anschein erweckt werden soll, als wenn die heute die WKP und Komintern führenden Stalin und Bucharin stets diejenigen waren und noch sind, welche neben Lenin den richtigen politischen Weg beschritten hätten. Trotzkis Verdienste um die russische Revolution sind historisch; aber selbst sie versuchen die Führer der herrschenden Fraktion und ihre willfährigen Schreiber ins Gegenteil zu verkehren.

Die vorliegende Schrift Trotzkis mit ihrem reichhaltigen dokumentarischen Material gibt jedem objektiv Urteilenden eine wertvolle Ergänzung des bisher über den Verlauf der russischen Revolution Bekanntgewordenen und zeigt gleichzeitig, auf welche Art die heutigen „Historiker" der Komintern „Geschichte" schreiben.

Der Herausgeber.

Werte Genossen!

Ihr habt mir gedruckte ausführliche Fragebogen über meine Beteiligung an der Oktoberrevolution zugeschickt und um Antwort gebeten. Ich glaube nicht, dass ich dem viel hinzusetzen könnte, was in den verschiedensten Dokumenten, Reden, Artikeln, Büchern (meine eigenen einbegriffen) festgelegt worden ist. Aber ich erlaube mir, Euch zu fragen: Welchen Zweck hat es, mich über meine Beteiligung an der Oktoberrevolution zu befragen, wenn der gesamte offizielle Apparat, auch der Eurige, nach der Richtung arbeitet, jegliche Spuren meiner Beteiligung zu verwischen, zu vernichten oder wenigstens zu verdrehen?

Mehr als einmal haben mich Genossen gefragt, warum ich auf die himmelschreiendsten Verfälschungen der Geschichte der Oktoberrevolution und der Geschichte der Partei, die gegen mich gerichtet sind, immer noch schweige. Ich denke nicht daran, hier die Frage der Fälschung erschöpfend zu beantworten, dazu müsste man mehrere Bände schreiben. Aber erlaubt, dass ich als Antwort auf Eure Fragen an einigen Dutzenden von Beispielen auf die bewusste und bösartige Verdrehung der Geschichte der vergangenen Tage hinweise, eine Verdrehung, die im weitesten Maßstabe durch die Autorität aller möglichen Behörden gestützt und sogar in die Lehrbücher aufgenommen wird.

Der Krieg und meine Ankunft in Petrograd

(Mai 1917.)

1. Ich kam Anfang Mai in Petrograd aus der kanadischen Gefangenschaft an, am zweiten Tage nach dem Eintritt der Menschewiken und Sozialrevolutionäre in die Koalitionsregierung.

Die Organe der Geschichtsabteilung des ZK wie auch viele andere versuchen jetzt nachträglich, meine Arbeit während des Krieges als eine dem Sozialpatriotismus eng verwandte hinzustellen. Dabei „vergisst" man, dass die Sammlung meiner schriftstellerischen Arbeiten während des Krieges („Krieg und Revolution") in verschiedenen Ausgaben unter Lenin herausgegeben, dass sie in den Parteischulen gelehrt und durch die Verlage der Komintern in die verschiedensten Sprachen übersetzt wurden.

Man versucht, die junge Generation über meine Haltung während des Krieges zu täuschen, da sie nicht weiß, dass ich für meinen revolutionären internationalistischen Kampf gegen den Krieg schon Ende 1914 in Deutschland in Abwesenheit zu Gefängnis verurteilt worden bin (für das Buch: „Der Krieg und die Internationale" in deutscher Sprache), dass ich aus Frankreich, wo ich mit den späteren Gründern der Kommunistischen Partei arbeitete, ausgewiesen wurde, dass ich in Spanien, wo ich gleichfalls mit späteren Kommunisten arbeitete, verhaftet wurde, dass ich aus Spanien nach den Vereinigten Staaten ausgewiesen wurde, dass ich in New York revolutionär internationalistisch arbeitete, dass ich mich zusammen mit Bolschewiken an der Redigierung der Zeitung „Nowy Mir" („Neue Welt") betätigte, wobei ich den ersten Etappen der Februarrevolution eine leninistische Bewertung gab, dass ich bei der Rückkehr von Amerika nach Russland von der britischen Regierung zum Verlassen des Schiffes gezwungen wurde und einen Monat im Konzentrationslager in Kanada zusammen mit 600 bis 800 deutschen Matrosen zubrachte, welche, ich für Liebknecht und Lenin warb (viele von ihnen beteiligten sich später am Bürgerkrieg in Deutschland, und ich erhalte heute noch Briefe von ihnen).

2. Auf Grund des englischen Berichtes über die Gründe meiner Verhaftung in Kanada schrieb die Leninsche „Prawda":

Von der Redaktion: Kann man auch nur einen Augenblick an die Richtigkeit der Nachricht glauben, die die englische Regierung erhalten hat, und die darin bestand, dass Trotzki, der ehemalige Vorsitzende des Rates der Arbeiterdeputierten in Petersburg 1905 – ein Revolutionär, der Jahrzehnte seines Lebens uneigennützig dem Dienste der Revolution gewidmet hat –, dass dieser Mensch eine Verbindung gehabt haben soll mit einem Plan, der von der „deutschen Regierung" unterstützt worden sei? Das ist doch eine offene, unerhörte, unverschämte Verleumdung eines Revolutionärs!" („Prawda", Nr. 34, 16. April 1917.)

Wie frisch klingen diese Worte jetzt in der Zeit der niederträchtigsten Verleumdungen der Opposition, die sich durch nichts unterscheiden von den Verleumdungen über die Bolschewiki im Jahre 1917.

3. In der Vorbemerkung zum 14. Band der Werke Lenins, herausgegeben 1921, steht:

Vom Beginn des imperialistischen Krieges an hat (Trotzki) eine streng internationalistische Opposition eingenommen." (S. 482.) Solche und noch kategorischere Äußerungen kann man, soviel man will, anführen. Die Rezensoren der gesamten Parteipresse, der russischen und der ausländischen, haben mehr als zehn- und hundertmal auf Grund meiner Bücher „Der Krieg und die Revolution" darauf hingewiesen, dass wenn man meine Arbeit während des Krieges im Ganzen überblickt, es unbedingt anzuerkennen und zu verstehen ist, dass meine Meinungsverschiedenheiten mit Lenin einen untergeordneten Charakter trugen, die Grundlinie jedoch revolutionär war, und ich mich dem Bolschewismus die ganze Zeit näherte – nicht nur in Worten, sondern in der Tat. Ich werde an dieser Stelle nicht in den politischen Biographien meiner heutigen Entlarver kramen, besonders nicht in Bezug auf ihre Tätigkeit während des Krieges.

4. Man versucht nachträglich, sich auf einzelne scharfe politische Bemerkungen Lenins gegen mich zu stützen, auch auf solche während des Krieges. Lenin vertrug keine Unausgesprochenheiten und keine Unklarheiten.- Er war im Recht, wenn er zwei- und dreimal zuschlug, wenn es ihm schien, dass der politische Gedanke nicht bis zu Ende durchdacht oder zweideutig war. Aber es ist ein Unterschied zwischen einem polemischen Schlag in einem gegebenen Augenblick und der Bewertung der Linie im Ganzen.

In Jahre 1918 oder 1919 hat in Amerika ein gewisser R. einen Band der von Lenin und mir während des Krieges geschriebenen Artikel herausgegeben, die u. a. auch meine Artikel über den damals strittigen Punkt der Vereinigten Staaten Europas enthielt. Wie reagierte Lenin darauf? Er schrieb: „ … Vollkommen recht hat der amerikanische Genosse R., welcher ein dickes Buch herausgegeben hat, das eine Reihe von Artikeln von Trotzki und mir enthält, und somit einen Überblick über die Geschichte der russischen Revolution gibt." (Bd. 17, S. 96.)

5. Ich werde nicht auf die Haltung der Mehrheit meiner jetzigen Entlarver während des Krieges und zu Anfang der Februarrevolution eingehen. Hier könnte man manches Interessante erzählen von den Skworzow-Stepanow, Jaroslawski und vieler anderer. Ich beschränke mich auf einige Worte über den Genossen Melnitschanski, welcher in der Presse versucht hat, meine Linie im Mai/Juni 1917 zu fälschen.

Melnitschanski kannten alle in Amerika als Menschewik. An dem Kampfe der Bolschewiken und revolutionären Internationalisten gegen den Sozialpatriotismus und den Zentrismus nahm Melnitschanski keinen Anteil. In allen Fragen dieser Art schwieg er. Diese Taktik setzte er auch fort im kanadischen Lager, wohin er zufällig (wie auch mancher andere) mit mir und Tschudnowski zusammen geriet. Als wir mit Tschudnowski Pläne über unsere zukünftige Arbeit besprachen, teilten wir sie aus Vorsicht Melnitschanski nicht mit. Da wir aber auf den Pritschen Seite an Seite lebten, so beschlossen wir mit Tschudnowski, Melnitschanski direkt vor die Frage zu stellen: mit wem er in Russland arbeiten werde, mit den Menschewiken oder Bolschewiken? Zur Ehre Melnitschanskis muss gesagt werden, dass er uns zur Antwort gab: mit den Bolschewiken. Nur daraufhin fingen wir an, mit ihm wie mit einem Gesinnungsgenossen zu sprechen.

Lest nach, was Melnitschanski hierüber in den Jahren 1924 bis 1927 geschrieben hat! Alle, die Melnitschanski in Amerika kannten, können dabei nur mit den Achseln zucken. Aber warum Amerika? Man braucht heute nur irgendeine Rede von ihm zu hören, um in ihm den Beamten-Opportunisten zu erkennen, dem der Purcellismus näher ist als der Leninismus.

6. Als unsere Gruppe in Leningrad ankam, begrüßte uns auf dem finnländischen Bahnhof im Namen des ZK der Genosse Feodorow, Mitglied des damaligen ZK der Bolschewiken. In seiner Begrüßungsrede stellte er direkt die Frage über die weiteren Etappen der Revolution: über die Diktatur des Proletariats und den sozialistischen Weg der Entwicklung. Ich betonte mein volles Einverständnis mit einer solchen Formulierung der Aufgaben der Revolution. Wie mir Genosse Feodorow später erzählte, ist der wichtigste Punkt seiner Rede im Einverständnis mit Lenin oder, genauer gesagt, auf Anweisung Lenins formuliert worden, welcher, wie es sich von selbst versteht, diese Frage als die entscheidendste für die Möglichkeit einer Zusammenarbeit ansah.

7. Ich trat unmittelbar nach meiner Ankunft aus Kanada nicht in die Organisation der Bolschewiken ein. Warum? Weil Meinungsverschiedenheiten vorhanden waren? Man versucht sie jetzt nachträglich zu konstruieren. Wer das Jahr 1917 als Mitglied des bolschewistischen Kerns erlebt hat, der weiß,

dass vom ersten Tage an auch keine Spur von Meinungsverschiedenheit mit Lenin vorhanden war.

Bei meiner Ankunft in Petrograd, genauer gesagt, schon auf dem finnländischen Bahnhof, erfuhr ich von den mir entgegengefahrenen Genossen, dass in Petrograd eine Organisation der revolutionären Internationalisten bestehe (das sogenannte „Meshrayonzy"). Diese Organisation verschob die Frage des Zusammenschlusses mit den Bolschewiken von Tag zu Tag, wobei einige ihrer führenden Arbeiter den Beschluss über diese Frage mit meiner Ankunft verbanden. Zu dieser Organisation, die ungefähr 3000 Petersburger Arbeiter umfasste, gehörten: Uritzki, A. A. Joffe, Lunatscharski, Jurenew, Karachan, Wladimirow, Manuilski, Posern, Litkens u. a.

Folgendermaßen wird in der Vorbemerkung zum 14. Bande der Werke Lenins diese Organisation charakterisiert:

in Bezug auf den Krieg standen die ,Meshrayonze' auf einem internationalistischen Standpunkt, und in ihrer Taktik standen sie den Bolschewiken nahe." (S. 488/89.)

In den ersten Tagen meiner Anwesenheit erklärte ich zunächst dem Genossen Kamenew, dann auch in der Redaktion der „Prawda", in Gegenwart von Lenin, Sinowjew und Kamenew, dass ich bereit sei, in die Organisation der Bolschewiken heute noch einzutreten, da keine Meinungsverschiedenheiten vorhanden wären; aber es wäre unbedingt notwendig, die Frage der Heranziehung der gesamten Organisation der revolutionären „Meshrayonze" zu entscheiden. Ich erinnere mich, dass einer der Anwesenden die Frage stellte, wie ich mir den Zusammenschluss vorstelle (wer von den Meshrayonze in die Redaktion der „Prawda" kommen solle, wer in das ZK usw.). Ich erwiderte, dass diese Frage für mich keine politische Bedeutung habe, da doch Meinungsverschiedenheiten nicht vorhanden seien.

In der Organisation der Meshrayonze waren Elemente, die den Zusammenschluss verzögerten, indem sie die einen oder anderen Bedingungen vorschoben u. a. Zwischen dem Petersburger Komitee und der Organisation der Meshrayonze hatten sich, wie es in solchen Fällen üblich ist, alte Kränkungen, Misstrauen u. dgl. aufgehäuft. Nur dadurch war die Verzögerung hervorgerufen.

8. Der Genosse Raskolnikow hat in letzter Zeit viel Papier vollgeschrieben, um meine Linie der Linie Lenins im Jahre 1917 entgegenzustellen. Einige diesbezügliche Zitate aufzuführen, wäre viel zu langweilig, da sie sich von anderen Fälschungen nicht unterscheiden. Es ist deshalb nicht ohne Nutzen, Worte desselben Raskolnikow anzuführen, die er etwas früher über diese Periode geäußert hat:

Nachklänge ehemaliger Meinungsverschiedenheiten der Vorkriegszeit waren voll ausgeglichen. Zwischen der taktischen Linie Lenins und Trotzkis war kein Unterschied. Diese Annäherung,, die sich schon während des Krieges bemerkbar machte, trat besonders deutlich in Erscheinung von dem Augenblick der Rückkehr Trotzkis nach Russland; nach seinem ersten Auftreten fühlten wir alten Leninisten, dass er – unser sei." („Im Gefängnis der Kerenski", „Die proletarische Revolution" Nr. 10 (22) 1923, S. 150/152.)

Diese Worte sind nicht als Beweis oder Gegenbeweis für irgendetwas geschrieben, sondern einfach, um eine Tatsache zu erzählen. Später bewies Raskolnikow, dass er auch das erzählen kann, was nicht war. Bei der Neuauflage seiner Artikel, veröffentlicht von den Organen der Abteilung für Parteigeschichte, hat Raskolnikow sorgfältig alles ausgemerzt, was war, um es zu ersetzen mit dem, was nicht war.

Sich lange bei Raskolnikow aufzuhalten, lohnt sich nicht, aber ein Beispiel ist zu krass. Bei der Rezension des dritten Bandes meiner Werke (Krasnajanow Nr. 7-8, 1924, S. 395 bis 401) fragt Raskolnikow:

Wie war die Position des Genossen Trotzki im Jahre 1917?" und antwortet: ,

Genosse Trotzki betrachtete sich noch als Mitglied einer gemeinsamen Partei zusammen mit den Menschewiki, mit Zeretelli und Skobelew"

und weiter:

Genosse Trotzki hat sein Verhältnis zum Bolschewismus und Menschewismus noch nicht geklärt. In jener Zeit hat Genosse Trotzki noch eine schwankende, unbestimmte Zwitterstellung eingenommen."

Ihr fragt: Wie kann man diese wirklich frechen Erklärungen mit den oben angeführten Worten desselben Raskolnikow in Verbindung bringen, dass „Nachklänge ehemaliger Meinungsverschiedenheiten der Vorkriegszeit voll ausgeglichen waren?" Wenn Trotzki sein Verhältnis zum Bolschewismus noch nicht, bestimmt hatte, wie kann es dann stimmen, dass „wir alten Leninisten fühlten, dass er – unser sei"? Aber das ist noch nicht alles. Im Artikel desselben Raskolnikow „Die Julitage" (Proletarische Revolution Nr. 5 (17) 1923, S. 71/72) heißt es:

Trotzki war damals noch nicht formell Mitglied unserer Partei, aber faktisch arbeitete er die ganze Zeit vom Tage seiner Ankunft aus Amerika in ihr. Jedenfalls betrachteten wir ihn nach seinem ersten Auftreten im Sowjet als einen unserer Parteiführer."

Das scheint klar zu sein. Das scheint keine falsche Auslegung zuzulassen. Aber da kann man nichts machen:

Ein jeder Tag wird seine eigene Plage haben."

Und was für eine „Plage"! Eine Plage, die systematisch organisiert ist, die gefestigt ist durch Befehl und Zirkular.

Um die Haltung Raskolnikows, die übrigens nicht nur ihn selbst, sondern ein ganzes System der Leitung und Erziehung charakterisiert, in ihrer ganzen Schönheit zu sehen, muss man noch einmal das Zitat aus seinem Artikel „Im Gefängnis Kerenskis" vollständig anführen, wo es heißt:

Mit großer Achtung verhielt sich Trotzki zu Lenin. Er stellte ihn höher als alle Zeitgenossen, die er in Russland und im Auslande traf. In dem Tone, in welchem Trotzki von Lenin sprach, fühlte man das Vertrauen des Schülers: in jener Zeit hatte Lenin 30 Jahre Dienst am Proletariat hinter sich und Trotzki 20. Nachklänge ehemaliger Meinungsverschiedenheiten der Vorkriegszeit waren voll ausgeglichen. Zwischen der taktischen Linie Lenins und Trotzkis war kein Unterschied. Diese Annäherung, die sich schon während des Krieges bemerkbar machte, trat besonders deutlich in die Erscheinung von dem Augenblick der Rückkehr Trotzkis nach Russland. Nach seinem ersten Auftreten fühlten wir alten Leninisten, dass er – unser sei."

Das Zeugnis Raskolnikows über das Verhältnis Trotzkis zu Lenin hindert ihn natürlich nicht, einen „Brief Trotzkis an Tschcheidse" anzuführen zur Aufklärung der jungen Mitglieder der Partei.

Man muss hinzufügen, dass Raskolnikow in den Sommermonaten 1917 oft mit mir zusammen gearbeitet hat, mich nach Kronstadt begleitete, sich oftmals um Ratschläge an mich wandte, im Gefängnis viel mit mir diskutiert hat usw. usw. Seine Erinnerungen bieten dadurch ein wertvolles Material, während seine späteren Verbesserungen nichts weiter als ein Fälschungsprodukt, ausgeführt auf Befehl, darstellen.

Ehe wir uns von Raskolnikow trennen, bringen wir noch ein Zitat aus seinen Erinnerungen an eine Episode beim Verlesen der Anklageschrift des Jermolenki über die Affäre des deutschen Goldes usw.:

Während des Vorlesens der Anklageschrift machten wir von Zeit zu Zeit ironische Zwischenrufe. Aber als die leidenschaftslose Stimme des Untersuchungsrichters den uns so teuren Namen des Genossen Lenin aussprach, hielt Trotzki nicht an sich, schlug mit der Faust auf den Tisch, erhob sich zur vollen Höhe und erklärte mit Empörung, dass er es ablehne, diese niederträchtigen und lügnerischen Behauptungen anzuhören. Nicht fähig, unsere Empörung über diese offensichtliche Fälschung zurückzuhalten, unterstützten wir den Genossen Trotzki leidenschaftlich."

Die Empörung über die „offensichtliche Fälschung" kann man gut verstehen. Lassen wir die kleinen auch nicht gerade geschickten Fälschungen des Raskolnikow beiseite und fragen wir uns: Aber wie steht der jetzige Raskolnikow, der durch die Stalinsche Schule gegangen ist, zu der neuesten „Jermolenki"-Schöpfung des Wrangel-Offiziers1 und der konterrevolutionären Verschwörung?

Mai bis Oktober 1917

9. Eine Reihe von Dokumenten, die die Bolschewiken im Mai, Juni, Juli 1917 herausgaben, sind von mir geschrieben oder unter meiner redaktionellen Mitarbeit zustande gekommen. Hierzu gehören z. B.: Die Erklärung der bolschewistischen Fraktion des Rätekongresses über den sich vorbereitenden Angriff an der Front (I. Rätekongress), der Brief an das ZIK [Zentrale Exekutivkomitee des Sowjets] vom ZK der Bolschewistischen Partei in den Tagen der Juni-Demonstration usw. Ich fand auch einige bolschewistische Resolutionen jener Zeit, die von mir oder unter meiner Mitarbeit geschrieben wurden. Bei jedem Auftreten, in allen Versammlungen habe ich mich mit den Bolschewiken solidarisiert, wie allen Genossen bekannt ist.

10. Einer der „Geschichtsschreiber-Marxisten" des neuen Typs versuchte unlängst Meinungsverschiedenheiten zwischen mir und Lenin bezüglich der Julitage zu entdecken. Jeder strebt danach, sein Scherflein beizutragen, in der Hoffnung, dabei zu erben. Man muss ein Gefühl des Ekels niederkämpfen, wenn man diese Fälschungen abwehren und widerlegen muss. Ich werde mich nicht auf Erinnerungen stützen, sondern begnüge mich mit den Dokumenten. In meiner Erklärung an die Provisorische Regierung schrieb ich:

1. Ich teile die prinzipielle Stellung Lenins, Sinowjews und Kamenews und entwickelte sie in der Zeitschrift „Wperjod" und bei meinem gesamten öffentlichen Auftreten.

3. Meine Nichtmitarbeit an der „Prawda" und mein Nichteintritt in die bolschewistische Organisation erklären sich nicht durch politische Meinungsverschiedenheiten, sondern sind bedingt durch unsere parteiliche Vergangenheit, die jetzt jegliche Bedeutung verloren hat." (Bd. 3, Teil 1, S. 165/66.)

11. In Verbindung mit den Julitagen berief das sozialrevolutionär-menschewistische Präsidium des ZIK das Plenum ein. Die bolschewistische Fraktion des Plenums forderte mich auf, den Bericht über die geschaffene Lage und die Aufgaben der Partei zu geben. Das war vor der formellen Vereinigung und ungeachtet dessen, dass sich z. B. Stalin in Petersburg befand. „Geschichtsschreiber-Marxisten" der neuen Fraktion gab es damals noch nicht, und die versammelten Bolschewiken billigten einstimmig die Grundlinie meines Berichtes über die Julitage und über die Aufgaben der Partei. Hierüber kann man nachlesen in der Presse und im Besonderen in den Erinnerungen M. J. Muralows.

12. Wie bekannt, litt Lenin nicht an wohlwollendem Vertrauen zu Leuten, wenn es um die ideologische Linie oder um die politische Haltung unter schwierigen Bedingungen ging, besonders fremd war ihm ein Wohlwollen zu den Revolutionären, welche in vorhergehenden Perioden außerhalb der Reihen der bolschewistischen Partei gestanden hatten. Gerade die Julitage haben die letzten Überreste alter Schranken niedergerissen. In seinem Briefe an das ZK betr. die Liste der bolschewistischen Kandidaten in die Konstituierende Versammlung schrieb Lenin:

Es ist vollkommen unzulässig, eine allzu große Anzahl von Kandidaten wenig erprobter Genossen, die unlängst zu unserer Partei gekommen sind (wie J. Larin), aufzustellen. … Es ist unbedingt notwendig, die Liste durchzusehen und zu verbessern. … Es ist selbstverständlich, dass … niemand eine solche Kandidatur wie die Trotzkis strittig machen wird; denn 1. Trotzki hat sofort bei seiner Ankunft die Position eines Internationalisten eingenommen. 2. Trotzki kämpfte in den Reihen der Meshrayonze für den Zusammenschluss. 3. In den schweren Julitagen stellte er seinen Mann und war treu ergebener Anhänger der Partei des revolutionären Proletariats. Es ist klar, dass man das gleiche nicht von einer Menge Kandidaten, Mitglieder der Partei t von gestern, sagen kann..…"

(Das erste legale ZK der Bolschewiki 1917, „Leningrader Institut der Parteigeschichte", S. 305/306.)

13. Die Frage über unser Verhältnis zum Vorparlament wurde in Lenins Abwesenheit besprochen. Ich trat auf als Berichterstatter der Bolschewiki-Boykottisten. Die Mehrheit der bolschewistischen Fraktion der „demokratischen Sitzung" sprach sich wie bekannt, gegen den Boykott aus. Lenin unterstützte entschieden die Minderheit. Folgendes schrieb er in diesem Zusammenhang an das ZK:

Man muss das Vorparlament boykottieren. Man muss in den Rat der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten gehen, in die Gewerkschaftsverbände, überhaupt zu den Massen. Man muss sie zum Kampfe aufrufen. Man muss ihnen eine richtige und klare Losung geben; man muss die bonapartistische Bande des Kerenski mit seinem Scheinparlament mit dieser Zeretellischen-Bulyginschen Duma auseinanderjagen. Die Menschewiken und die SR haben nach der Kornilow-Episode unseren Kompromiss, die friedliche Übergabe der Macht an die Sowjets (in denen wir damals noch keine Mehrheit' besaßen) nicht angenommen. Sie sind wieder in dem Sumpf der schmutzigen und niederträchtigen Kuhhandeleien mit den Kadetten gelandet. Nieder mit den Menschewiki und SR! Unerbittlicher Kampf gegen sie! Schonungsloser Hinauswurf dieser Leute aus allen revolutionären Organisationen. Keine Verhandlungen, keine Verbindung mit diesen Freunden von Kischkins, den Freunden der Kornilowschen Gutsbesitzer und Kapitalisten.

Sonnabend, den 23. September.

Trotzki war für den Boykott, bravo Gen, Trotzki!

Die Bewegung für den Boykott ist in der Fraktion der Bolschewiki, die zu der demokratischen Beratung zusammengekommen waren, besiegt worden.

Es lebe der Boykott!" (Proletarische Revolution, Nr. 3, 1924.)

14. Über meine

Beteiligung an der Oktoberrevolution

ist in den Vorbemerkungen zum 14. Band der Werke Lenins gesagt:

Als der Petersburger Sowjet in die Hände der Bolschewiken übergegangen war, wurde Trotzki zu seinem Vorsitzenden erwählt, als welcher er auch den Aufstand am 25. Oktober organisierte und leitete." (S. 482.) Was hier richtig, was nicht richtig – möge das Institut der Parteigeschichte wählen, wenn nicht das jetzige, so das zukünftige. Jedenfalls hat Gen. Stalin in den letzten Jahren kategorisch die Richtigkeit dieser Behauptung bestritten. So sagte er:

Ich muss sagen, dass Gen. Trotzki in der Oktoberrevolution keine besondere Rolle gespielt hat und auch nicht spielen konnte, dass er als Vorsitzender des Petrograder Sowjets nur den Willen der zuständigen Parteiinstanzen, die jeden Schritt Trotzkis leiteten, erfüllte."

Und weiter:

Gen. Trotzki spielte keine besondere Rolle weder in der Partei noch in der Oktoberrevolution, und er konnte sie auch nicht spielen, da er ein verhältnismäßig junges Mitglied unserer Partei in der Oktoberzeit war." (J. Stalin „Über den Trotzkismus". „Trotzkismus und Leninismus", S. 68/69.)

Was Stalin über Trotzki schrieb

Indem Stalin solch ein Zeugnis abgibt, vergisst er, was er selbst am 6. November 1918 gesprochen hat, d. h. am ersten Jahrestag der Revolution, als die Tatsachen und Ereignisse noch zu frisch in der Erinnerung aller waren. Stalin betrieb schon damals dieselbe Kampagne gegen mich, die er jetzt so breit organisiert hat. Aber damals war er gezwungen, sie vorsichtiger und verhüllter zu führen. Folgendes schrieb er damals in der „Prawda" (Nr. 241) unter der Überschrift „Die Rolle der hervorragendsten Funktionäre der Partei":

Die gesamte Arbeit der praktischen Organisierung des Aufstandes ging unter der unmittelbaren Leitung des Vorsitzenden des Petrograder Sowjets, Trotzkis, vor sich. Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass der rasche Übertritt der Garnison auf die Seite der Sowjets und die geschickte Organisierung der Arbeit des revolutionären Kriegs-Komitees die Partei vor allem und hauptsächlich dem Gen. Trotzki zu danken hat." Diese Worte sollen absolut keine lobende Übertreibung sein, im Gegenteil, das Ziel Stalins war ein anderes: er wollte mit seinem Artikel der Übertreibung der Rolle Trotzkis „vorbeugen" (dafür ist auch der Artikel geschrieben worden!); diese Worte klingen heute unglaubwürdig – im Munde Stalins. Aber damals konnte man nicht anders reden! Es ist bekannt, dass ein wahrheitsliebender Mensch den Vorteil besitzt, dass er auch bei einem schlechten Gedächtnis sich nicht widerspricht, aber ein unloyaler, gewissenloser, – unwahrer Mensch muss ein gutes Gedächtnis haben für alles, was er früher sagte, um sich nicht zu blamieren.

15. Der Gen. Stalin versucht mit Hilfe Jaroslawskis eine neue Geschichte der Organisierung der Oktoberrevolution zu konstruieren, indem er sich auf das „praktische Zentrum zur organisierenden Leitung des Aufstandes" beim ZK stützt, dem Trotzki nicht angehörte. Auch Lenin gehörte dieser Kommission nicht an. Schon diese Tatsache beweist, dass diese Kommission nur eine untergeordnete Bedeutung in der Organisierung des Aufstandes hatte. Eine selbständige Rolle spielte diese Kommission nicht. Um diese Kommission wird jetzt eine Legende gewoben, nur weil Stalin ihr Mitglied war. Mitglieder dieser Kommission waren: Swerdlow, Stalin, Dsershinski, Bubnow, Uritzki. Wie ekelhaft es auch ist, im Kehrichthaufen zu wühlen, aber erlaubt mir als einem nahen Beteiligten und Zeugen der damaligen Ereignisse folgendes zu bezeugen. Die Rolle Lenins bedarf natürlich keiner Erklärungen. Mit Swerdlow traf ich mich damals oft, wandte mich an ihn um Ratschläge und um Unterstützung, wenn ich Genossen brauchte. Der Genosse Kamenew, welcher wie bekannt damals eine besondere Position einnahm, deren Unrichtigkeit er selbst längst erkannt hat, nahm jedoch aktiven Anteil an den Ereignissen des Umsturzes. Die entscheidende Nacht vom 25. auf den 26. verbrachten wir beide im Hause des revolutionären Kriegs-Komitees, nahmen die Telefongespräche entgegen und erteilten Befehle. Aber bei aller Anstrengung meines Gedächtnisses kann ich mir

keine Antwort auf die Frage geben, worin eigentlich die Rolle Stalins in jenen entscheidenden Tagen bestand.

Nicht ein einziges Mal musste ich mich an ihn um Ratschläge oder Mithilfe wenden. Keine Spur von Initiative zeigte er. Nicht einen einzigen selbständigen Vorschlag machte er. Das können keine „Geschichtsschreiber-Marxisten" des neuen Formats ändern.

Notwendige Ergänzungen.

Stalin und Jaroslawski verschwendeten in den letzten Monaten viel Mühe, um zu beweisen, dass das organisierende Zentrum vom ZK geschaffen, das aus Swerdlow, Stalin, Bubnow, Uritzki und Dsershinski bestand, den ganzen Verlauf des Umsturzes geleitet hat. Stalin unterstrich die Tatsache, dass Trotzki nicht Mitglied dieses Zentrums war. Aber o weh! Durch ein offensichtliches Übersehen der Stalinschen Geschichtsschreiber in der „Prawda" vom 2. November 1927 (d. h. nachdem dieser Brief geschrieben war) ein genauer Auszug aus den Protokollen des ZK vom 16. (29.) Oktober 1917 abgedruckt. Er enthielt:

Das ZK organisiert ein Kriegs-Revolutionszentrum, bestehend aus den Genossen Swerdlow, Stalin, Bubnow, Uritzki und Dsershinski. Dieses Zentrum ist ein Bestandteil des Revolutionären Sowjetkomitees."

Das Revolutionäre Sowjetkomitee ist eben das revolutionäre Kriegs-Komitee, organisiert vom Petrograder Sowjet. Ein anderes Sowjetorgan für . die Leitung des Aufstandes gab es nicht. Somit mussten diese fünf Genossen, bestimmt vom ZK, ergänzend beitreten dem revolutionären Kriegs-Komitee, dessen Vorsitzender Trotzki war. Es ist klar, dass man Trotzki kein zweites Mal in diese Organisation zu wählen brauchte, wenn er schon Vorsitzender dieser Organisation war. Wie schwierig ist es doch, nachträglich die Geschichte zu verbessern! (11. November 1927.)

Die Geschichte der Oktoberrevolution

In Brest schrieb ich eine kleine Broschüre über die Oktober-Revolution. Dieses Büchlein hat eine große Anzahl von Auflagen in den verschiedensten Sprachen erlebt. Niemand hat mir etwas davon gesagt, dass in diesem Buche etwas Wichtiges vergessen war, und zwar dass nirgends hingewiesen war auf den Hauptleiter des Aufstandes, „das Kriegs-Revolutionäre Zentrum", dessen Mitglieder Stalin und Bubnow waren. Wenn ich die Geschichte des Oktober-Umsturzes so schlecht kannte, warum hat mich niemand eines Besseren belehrt? Warum wurde mein Buch in den ersten Jahren der Revolution in allen Parteischulen als Lehrbuch ungestraft benutzt?

Mehr noch. Noch im Jahre 1922 meinte das Orgbüro des ZK, dass die Geschichte der Oktober-Revolution mir genügend bekannt sei. Im nachfolgenden eine kleine, aber beredte Bestätigung:

Nr. 14 302.

Moskau, Mai 24, 1922.

An den Genossen Trotzki!

Wir teilen hiermit den Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Orgbüro – ZK vom 22. Mai 1922, Nr. 21 mit.

Der Genosse Jakowlew erhält den Auftrag, zum 1. Oktober unter der Leitung des Gen. Trotzki ein Lehrbuch der Geschichte der Oktober-Revolution zusammenzustellen."

Sekretär II. (Abteilung Propaganda.) Unterschrift.“

Das war im Mai 1922. Mein Buch über die Oktober-Revolution und mein Buch über das Jahr 1905, das bis zu dieser Zeit in mehreren Auflagen erschienen war, mussten dem Orgbüro, an dessen Spitze schon damals Stalin stand, gut bekannt gewesen sein. Trotzdem fand das Orgbüro es für nötig, mich mit der Redigierung des Lehrbuches über die Oktober-Revolution zu betrauen. Wieso denn? Augenscheinlich öffneten sich die Augen Stalins und der Stalinisten über den „Trotzkismus" erst dann, als sich die Augen Lenins schlossen – für immer.

Verlorene Dokumente

16. Gleich nach dem Oktober-Umsturz tauchten in den Spitzen der Partei scharfe Meinungsverschiedenheiten über das Verhältnis zu den anderen „sozialistischen" Parteien auf (eine rein bolschewistische Regierung oder eine Koalition mit den Menschewiken und Sozialrevolutionären?). Am 1. und 14. November sprach Lenin über diese Frage in einer Sitzung des Petrograder Komitees. Die Protokolle des ZK vom Jahre 1917 sind zur Jahrzehntfeier der Revolution herausgegeben worden. Anfangs ist in dieser Ausgabe auch das Protokoll der Sitzung vom 1. (14.) November 1917 enthalten gewesen. In dem ersten Inhaltsverzeichnis ist dieses Protokoll erwähnt. Aber nachher auf einen Wink von oben ist dieses Protokoll zurückgezogen und vor der Partei versteckt worden. Es ist nicht schwierig zu erraten, warum. Über die Frage der Koalition sagte Lenin auf dieser Sitzung folgendes:

Und die Koalition? Ich kann darüber nicht einmal ernst sprechen. Trotzki hat längst gesagt, dass eine Verbindung unmöglich sei. Trotzki hat das verstanden, und seither gab es keinen besseren Bolschewiken." Die Rede schließt mit der Losung:

Ohne Koalition – für eine rein bolschewistische Regierung!"

Wie berichtet, ist die Verfügung über die Zurückziehung des Protokolls von dem Institut für Parteigeschichte des ZK mit der Motivierung gegeben worden, dass „augenscheinlich" die Rede Lenins „nicht genau" niedergeschrieben worden sei. Tatsächlich, die Rede Lenins stimmt nicht überein mit der Geschichte des Oktobers, die jetzt geschrieben wird.

17. Übrigens zeugt dieses selbe Protokoll davon,

wie sich Lenin zu der Frage der Disziplin verhält,

in den Fällen, wo man versucht, eine rein opportunistische Linie mit der Disziplin zu decken. Nach dem Bericht des Genossen Fenigstein erklärte Lenin:

Sollte eine Spaltung sein – gut. Wenn Ihr die Mehrheit haben solltet, übernehmt die Macht im ZIK und handelt, wir aber gehen zu den Matrosen."

Und gerade durch diese kühne, entschlossene, unversöhnliche Stellung dieser Frage hat Lenin die Partei vor der Spaltung bewahrt.

Eine eiserne Disziplin, aber auf der Grundlage der revolutionären Linie. Am 4. April sprach Lenin auf einer Parteisitzung. (Die Protokolle dieser Sitzung werden von Stalin der Partei vorenthalten):

Sogar unsere Bolschewiken zeigen Vertrauen zu der Regierung. Das kann man nur erklären aus der jetzigen Atmosphäre der Revolution. Das ist der Untergang des Sozialismus. Ihr Genossen verhaltet Euch vertrauensvoll zur Regierung. Wenn dem so ist, sind wir keine Weggenossen."

Und weiter:

Ich höre, dass in Russland eine Tendenz zur Vereinigung herrscht, eine Vereinigung mit den Vaterlandsverteidigern. Das ist Verrat am Sozialismus. Ich meine, es sei besser allein zu bleiben wie Liebknecht, allein gegen Hunderttausende."

18. Warum stellte Lenin die Frage so krass: einer gegen Hunderttausende? Weil auf der Märzsitzung 1917 die Tendenzen zur Vaterlandsverteidigung und zu Kompromissen sehr stark vertreten waren.

Auf dieser Sitzung unterstützte Stalin die Resolution des Krasnojarskischen Rates der Deputierten, welche lautete:

Die Provisorische Regierung ist in ihrer Tätigkeit soweit zu unterstützen, soweit sie auf dem Wege der Befriedigung der Forderungen der Arbeiterklasse und des revolutionären Bauerntums in der gegenwärtigen Revolution vorwärtsgeht."

Noch mehr,

Stalin stand für die Vereinigung mit Zeretelli

Im Folgenden ein genauer Auszug aus dem Protokoll:

Tagesordnung-Vorschlag Zeretellis auf Vereinigung. Stalin: „Wir müssen darauf eingehen. Es ist festzulegen unser Vorschlag über die Linie der Vereinigung. Es ist möglich eine Vereinigung auf der Linie Zimmerwald-Kienthal."

Auf den Einwurf einiger Teilnehmer der Sitzung dahingehend, dass die Einigung ein sehr buntscheckiges Gebilde ergeben würde, antwortete Stalin:

Man soll nicht vorher Gespenster sehen.2 Ohne Meinungsverschiedenheiten (!!) gibt es kein Parteileben. Die kleinen Meinungsverschiedenheiten werden wir innerhalb der Partei ausmerzen."

Die Meinungsverschiedenheiten mit Zeretelli hielt Stalin für „kleine Meinungsverschiedenheiten". in Bezug auf die Gesinnungsgenossen des Zeretelli war Stalin für eine breite Demokratie:

Ohne Meinungsverschiedenheiten gibt es kein Parteileben."

19. Und jetzt erlaubt mir die Frage, ihr Genossen von der Leitung des Geschichtsinstituts des ZK:

Warum haben die Protokolle der Märzsitzung 1917 bis jetzt das Licht der Welt nicht erblickt?

Ihr verschickt Fragebogen mit zahlreichen Rubriken, ihr sammelt alle möglichen Kleinigkeiten, sogar ganz geringfügige. Warum haltet ihr die Protokolle der Märzsitzung,, die für die Parteigeschichte von großer Bedeutung sind, unter Verschluss? Diese Protokolle zeigen uns den Zustand der leitenden Elemente der Partei am Vorabend der Rückkehr Lenins nach Russland. Ich habe wiederholt im Sekretariat des ZK und im Präsidium des ZKK gefragt: Warum versteckt das Geschichtsinstitut der Partei ein Dokument von solch außerordentlicher Bedeutung? Das Dokument ist euch bekannt. Ihr habt es zur Hand. Es wird nicht veröffentlicht nur deshalb, weil es im stärksten Maße die politische Linie Stalins Ende. März und Anfang April kompromittiert, d. h. zu jener Zeit, als Stalin selbständig eine politische Linie auszuarbeiten versuchte.

Stalin für die Kerenski-Regierung.

20. In derselben Rede am 4. April führte Lenin, folgendes aus:

Die Prawda verlangt von der Regierung, dass sie Annexionen ablehnen soll – Blödsinn, ein schreiender Hohn über …"

Das Protokoll ist nicht redigiert, es enthält Lücken, aber der allgemeine Sinn und die allgemeine Richtung der Reden sind absolut klar. Einer der Redakteure der „Prawda" war Stalin. In der „Prawda" schrieb er Artikel mit halb verteidigender Tendenz und unterstützte die Provisorische Regierung „soweit – soweit". Stalin begrüßte das Manifest Kerenskis-Zeretellis „An alle Völker" mit Vorbehalt – ein lügnerisches, sozialpatriotisches Dokument, das bei Lenin nur Unwillen hervorrief.

Nur aus diesem Grunde, ihr Genossen von dem Geschichtsinstitut, veröffentlicht ihr die Protokolle der Märzsitzung vom Jahre 1917 nicht und versteckt sie vor der Partei.

21. Weiter oben zitierte ich die Rede Lenins auf der Sitzung des Petersburger Komitees vom 1./14. November. Wo ist dieses Protokoll gedruckt? Nirgends. Warum? Weil ihr es verboten habt. Eben ist das Sammelwerk der Protokolle des ersten legalen ZK 1917 fertig gedruckt. Das Protokoll der Sitzung vom 1./14. November war zu Anfang in diesem, Werk enthalten und war schon im Inhaltsverzeichnis aufgeführt. Nachher, auf Verfügung des zentralen Geschichtsinstituts, ist das Protokoll aus dem Buche gestrichen worden mit der bemerkenswerten Motivierung, dass „augenscheinlich" die Rede Lenins bei ihrer Niederschrift „durch den Sekretär verstümmelt" worden ist. Worin besteht diese „augenscheinliche" Verstümmelung? Darin, dass die Rede Lenins unerbittlich die falsche Behauptung der heutigen historischen Schule der Stalin-Jaroslawski in Bezug auf Trotzki widerlegt. Jeder, der die Art und Weise Lenins zu sprechen kennt, erkennt die Echtheit der aufgeschriebenen Sätze ohne Schwanken an. Hinter den Worten Lenins über die Koalition, hinter seiner Drohung – „wir aber gehen zu den Matrosen", fühlt man den lebendigen Lenin jener Tage. Ihr aber habt ihn vor der Partei versteckt. Warum? Wegen seines Urteils über Trotzki. Nur deswegen.

Ihr enthaltet die Protokolle der Märzsitzung 1917 der Partei vor, weil sie Stalin kompromittieren. Ihr versteckt das Protokoll der Sitzung des ZK nur deswegen, weil es störend wirken würde bei der Fälscherarbeit gegen Trotzki.

22. Erlaubt, dass ich im Vorübergehen auch eine Episode streife, die den Genossen Rykow. betrifft. Viele Genossen waren verwundert, durch den Abdruck eines Artikels Lenins in den Schriften des Lenin-Institutes, welcher einige unangenehme Zeilen über Rykow enthält. Dort schreibt Lenin:

Die Arbeiterzeitung „Rabotscha Gazeta", Organ der Menschewiken-Ministerialisten, versucht uns damit zu treffen, dass die Ochrana 1911 den Bolschewiken-Kompromissler Rykow verhaftete, um den Bolschewiken unserer Partei die „Bewegungsfreiheit" vor den Wahlen in die 4. Duma zu geben." (Das unterstreicht die „R. G." besonders.)

Somit zählt Lenin den Rykow im Jahre 1911 zu den außerparteilichen Bolschewiken. Wie konnten diese Zeilen das Licht erblicken? Denn jetzt werden aus den Schriften Lenins nur die harten Zeilen gegen die Oppositionellen hervorgehoben; was die Vertreter der heutigen Mehrheit anbetrifft, so dürfen nur Lobpreisungen zitiert werden. (Wenn sie vorhanden sind.) Wie sind denn diese Zeilen in den Druck gekommen? Alle erklären sich diese Tatsache gleich: die Stalinschen Historiker halten eine volle Objektivität für notwendig (schon, schon!) in Bezug auf Rykow.

Über Jaroslawski.

23 Neun Zehntel seiner Verleumdungen und Fälschungen widmet Jaroslawski dem Autor dieser Zeilen. Es ist schwer, sich eine verwickeltere und zugleich boshaftere Lügenhaftigkeit vorzustellen. Es wäre aber unrecht zu denken, dass Jaroslawski immer so geschrieben hat. Nein, er hat auch anders geschrieben. Genau so schwülstig-tollpatschig und geschmacklos wie heute, aber in genau entgegengesetzter Richtung. Noch im Frühjahr 1923 widmete Jaroslawski einen Artikel der literarpolitischen Tätigkeit des Autors dieser Zeilen. Dieser Artikel bildet eine wilde Lobhudelei, kaum zu lesen, zitieren kann man ihn nur mit Überwindung. Aber nichts zu machen! Jaroslawski in seiner Eigenschaft als Untersuchungsrichter stellt mit wahrer Wollust die Kommunisten einander gegenüber, die schuldig sind der Verbreitung des Testaments Lenins, der Briefe Lenins über die nationale Frage und anderer verbrecherischer Dokumente, in denen Lenin wagt, Stalin zu kritisieren. Führen wir Jaroslawski selbst auf:

Die glänzende literarisch-publizistische Tätigkeit des Gen. Trotzki" – so schrieb Jaroslawski 1923 – „trug ihm den Namen ,König der Pamphletisten' ein. So nennt ihn der englische Schriftsteller Bernhard Shaw. Wer im Laufe eines Vierteljahrhunderts diese Tätigkeit beobachtet hat, der muss zur Überzeugung kommen, dass dieses Talent eines Pamphletisten und Polemikers besonders glänzend sich entfaltete und aufblühte in den Jahren unserer proletarischen Revolution. Schon bei Beginn dieser Tätigkeit war die tiefe Begabung zu bemerken. Alle seine Zeitungsartikel waren durchdrungen von Geist. Sie unterschieden sich durch Vorbildlichkeit, durch eine bilderreiche schöne Sprache, obgleich man damals schreiben musste unter den Daumenschrauben der zaristischen Zensur, welche die kühnen Gedanken und die kühne Form eines jeden, welcher sich von diesen Schrauben befreien wollte und sich über das Niveau des Kleinbürgertums erheben wollte, verstümmelte. Aber so groß waren die reifenden unterirdischen Kräfte, so. stark fühlte man das Schlagen des Herzens des erwachenden Volkes, so scharf waren die auftauchenden Unterschiede, dass keine Zensoren die Schaffungskraft solch glänzender individueller Persönlichkeit, wie es in jener Zeit die Figur Trotzkis war, unterdrücken konnten.

Viele haben wahrscheinlich das damals weit verbreitete Bildnis des Jünglings Trotzki gesehen, als er das erste Mal nach Sibirien geschickt wurde. Diese wilde Haartracht, die charakteristischen Lippen, diese hohe Stirn, unter dieser Mähne, hinter dieser hohen Stirn kochte schon damals der wilde Strom der Gedanken, der Stimmungen, die den Gen. Trotzki etwas vom großen historischen Wege abbrachten, die ihn veranlassten, manchmal zu weite Umwege zu machen, oder im Gegenteil unerschrocken geradeaus zu gehen, wo man nicht durchgehen konnte. Aber bei all diesem Suchen steht vor uns ein der Revolution tief ergebener Mensch, der aufgewachsen für die Rolle eines Tribuns, mit einer scharf geschliffenen und auch wie Stahl biegsamen Sprache. Den Gegner in Erstaunen setzend (auch durch die Feder) durch die mit vollen Händen (!? Fr.) ausgestreuten kunstvollen Perlen seines Gedankenreichtums.“

Und weiter:

Die zu unserer Verfügung stehenden Artikel umfassen eine Zeit von zwei Jahren. Vom 15. Oktober 1900 bis zum 12. Dezember 1902. Die Sibirier lasen mit Begeisterung die glänzenden Artikel und warteten mit Ungeduld auf ihr Erscheinen. Nur wenige wussten, wer ihr Autor war, und die, die Trotzki kannten, dachten damals am wenigsten, dass er einer der anerkannten Leiter der revolutionären Armee und der größten Revolution der Welt sein wird."

Und endlich zum Schluss: „Seinen Protest gegen den Pessimismus der russischen Intelligenz (hm!) hat der Gen. Trotzki später begründet. Nicht mit Worten, sondern mit der Tat begründete er ihn, Schulter an Schulter mit dem revolutionären Proletariat der großen proletarischen Revolution. Viel Kraft war dazu nötig. Das sibirische Dorf hat diese Kraft in ihm nicht getötet: Sie hat ihn nur noch mehr bestärkt in der Notwendigkeit des Niederreißens dieses Gesellschaftsbaues bis auf den Grund, wo solche von ihm beschriebenen Tatsachen möglich sind („Sibirskie Togni", Nr. 1 bis 2, Jan. bis April 1923). Wenn der Genosse Jaroslawski auch in seinen Bewertung gen eine Wendung von 180° gemacht hat, so erkennen wir, dass er in einer Hinsicht sich treu geblieben ist: er ist gleich unerträglich in seinen Lobpreisungen wie in seinen Verleumdungen.

Über Olminski

24. In der Reihe der Entlarver des „Trotzkismus" nahm Olminski, wie bekannt, nicht den letzten Platz ein. Besonders ereiferte er sich über mein Buch über das Jahr 1905, das zuerst in deutscher Sprache erschienen ist. Aber auch Olminski hatte hierüber zwei Meinungen: eine unter Lenin, eine andere unter Stalin. Im Oktober 1921 hatte jemand die Frage über die Ausgabe meines Buches ,„1905" durch das Geschichtsinstitut der Partei aufgeworfen. Olminski schrieb mir aus diesem Grunde folgenden Brief:

Werter Leo Davidowitsch!

Das Geschichts-Institut würde natürlich gern Ihr Buch in russischer Sprache herausgeben. Aber die Frage ist: wer soll die Übersetzung machen? Man kann doch nicht dem ersten besten die Übersetzung eines Buches von Trotzki geben! Die ganze Schönheit und Eigenartigkeit des Stils würde verloren gehen. Vielleicht könnten Sie eine Stunde am Tage von Ihren anderen staatlich wichtigen Arbeiten absparen für diese, doch auch wichtige staatliche Arbeit? Und würden es in die Maschine russisch diktieren.

Noch eine Frage: Warum wollen Sie nicht die Vorbereitungen treffen zu einer vollen Ausgabe Ihrer literarischen Arbeiten? Dies könnten Sie doch jemandem übertragen, der es unter Ihrer Leitung machen würde. Es ist an der Zeit! Denn die neue Generation, die die Geschichte der Partei nicht so genau kennt, die die alte und die neue Literatur ihrer Führer nicht kennt, wird sonst immer von der Linie abweichen. Ich sende Ihnen das Buch zurück in der Hoffnung, dass wir es mit russischem Text wieder erhalten.

Alles Gute

M. Olminski. 17. 10. 1921.“

So schrieb Olminski Ende 1921, d. h. lange nach den Streitigkeiten über den Brest-Litowsker Frieden und die Gewerkschaften, – Streitigkeiten, denen Olminski & Co. nachträglich eine übertriebene Bedeutung beizulegen versuchten. Ende 1921 fand Olminski, dass die Ausgabe des Buches 1905 eine Arbeit von „staatlicher Wichtigkeit" sei. Olminski war der Initiator der Ausgabe meiner Schriften, welche er zur Erziehung der Parteimitglieder für notwendig fand. Im Herbst 1921 war Olminski schon nicht mehr Mitglied der Jugend. Die Vergangenheit kannte er. Meine Meinungsverschiedenheiten mit dem Bolschewismus kannte er besser als manch anderer. Er selbst polemisierte mit mir in den vergangenen Jahren. Das alles störte ihn nicht, im Herbst 1921 auf Herausgabe meiner Gesamtwerke im Interesse der jungen Mitgliedschaft zu bestehen. War Olminski im Jahre 1921 vielleicht „Trotzkist"?

Zwei Worte über Lunatscharski

Gen. Lunatscharski gehört heute auch zu den „Entlarvern der Opposition". Zusammen mit den anderen beschuldigt er uns auch des Pessimismus und des Kleinglaubens. Diese Rolle steht dem Lunatscharski sehr zu Gesicht.

Zusammen mit den anderen beschäftigt sich Lunatscharski nicht nur mit der Gegenüberstellung des „Trotzkismus" zum Leninismus, sondern er unterstützt auch, kaum maskiert, persönliche Verunglimpfungen.

Gleich den anderen versteht es auch Lunatscharski, in ein und derselben Frage für und gegen zu schreiben. 1923 gab er ein Buch „Revolutionäre Silhouetten" heraus. Dies Buch enthält ein Kapitel, das meiner Person gewidmet ist. Ich werde dieses Kapitel mit seinen übertriebenen Lobhudeleien nicht zitieren; ich führe nur zwei Stellen an, wo Lunatscharski über mein Verhältnis zu Lenin spricht:

Trotzki ist eine herrische Natur. Nur in seinem Verhältnis zu Lenin, nach der Vereinigung, zeigte er mit einer Bescheidenheit, die für große Leute charakteristisch ist, eine rührende Anerkennung der Autorität Lenins." (S. 25.)

Und einige Seiten vorher: „Als Lenin verwundet dalag, – wir meinten, es wäre tödlich – hat niemand unsere Gefühle besser zum Ausdruck gebracht als Trotzki. In den großen Stürmen der Weltereignisse sagte Trotzki, der zweite Führer der russischen Revolution, der absolut nicht zur Sentimentalität neigte: „Wenn man bedenkt, dass Lenin stirbt, so scheint es, dass unser aller Leben unnütz sei, und man wünscht nicht mehr zu leben." (S. 13.)

Was für Leute sind das, die so und so verstehen, ihre sozialen, d. h. ihre Sekretäraufgaben zu erfüllen!!

Brest-Litowsk und die Diskussion über die Gewerkschaften

Die Beleuchtung der Martynowschen Theorie

26. Das, was ich an Beispielen aus dem Jahre 1917 gezeigt habe, könnte man auch an den folgenden Jahren aufzeigen. Ich will hiermit nicht sagen, dass ich keine Meinungsverschiedenheiten mit Lenin hatte – sie waren vorhanden. Die Differenzen in der Frage des Brester Friedens dauerten einige Wochen, wobei sie während einiger Tage einen ziemlich scharfen Charakter annahmen.

Der Versuch, die Differenzen in dieser Frage so darzustellen, als wenn sie eine Folge meiner „Unterschätzung des Bauerntums" seien, ist lächerlich und erscheint im besten Falle als ein Versuch, mir die Bucharinsche Position, mit welcher ich nichts gemeinsam hatte, aufzuoktroyieren. Ich habe keinen Augenblick daran gedacht, dass man in den Jahren 1917-1918 die Bauernmassen zu einem revolutionären Krieg aufrufen könne. In der Bewertung der Stimmung der Bauern- und Arbeitermassen nach dem imperialistischen Kriege war ich mit Lenin einig. Wenn ich darauf bestand, dass man den Moment der Kapitulation vor den Hohenzollern so weit als möglich verzögere, so tat ich es nicht, um den revolutionären Krieg hervorzurufen, sondern um den deutschen und den europäischen Arbeitermassen überhaupt zu zeigen, dass zwischen uns und den Hohenzollern keine geheimen Abmachungen waren, und um die Arbeiter Deutschlands und Österreichs zu größerer revolutionärer Aktivität anzuspornen. Der Beschluss, den Kriegszustand als beendet zu erklären, ohne den Gewaltfrieden zu unterschreiben, war durch das Streben diktiert, zu prüfen, ob die Hohenzollern noch fähig waren, den Krieg gegen die Revolution zu führen. Dieser Beschluss war von der Mehrheit unseres ZK angenommen und von der Mehrheit der Fraktion im WZIK [Allrussischen Zentralen Exekutivkomitee der Sowjets] gutgeheißen worden. Lenin sah diesen Beschluss als das kleinere Übel an, da ein bedeutender Teil der Parteispitzen für den Bucharinschen „revolutionären Krieg" war, wobei sie den Zustand nicht nur der Bauern, sondern auch den der Arbeitermassen ignorierten. Mit der Unterschrift unter den Friedensvertrag mit den Hohenzollern war diese episodenhafte Differenz mit Lenin in dieser Frage erschöpft, und die Arbeit ging im besten Einvernehmen weiter. Bucharin aber entwickelte seine Brester Differenzen mit Lenin zu einem ganzen System des „linken Kommunismus", mit welchem ich nichts Gemeinsames hatte.

Viele klugen Leute überschlagen sich beim kleinsten Anlass über die Losung „Weder Frieden noch Krieg!" Diese Losung scheint ihnen ein Widerspruch in sich zu sein, während doch zwischen den Klassen sowie zwischen den Staaten nicht selten ein Verhältnis „weder Frieden noch Krieg" besteht. Es genügt, sich zu erinnern, dass einige Monate nach Brest, als die revolutionäre Situation in Deutschland geklärter wurde, wir den Brester Frieden als ungültig erklärten, aber keinen Krieg mit Deutschland eröffneten. Mit den Ententestaaten hatten wir in den ersten Jahren der Revolution „weder Frieden noch Krieg", Das gleiche Verhältnis besteht im Grunde genommen auch jetzt zwischen uns und England. Zur Zeit der Brester Unterhandlungen bestand die ganze Frage darin, ob in Deutschland – Anfang 1918 die revolutionäre Situation schon so herangereift war, dass wir, ohne weiter Krieg zu führen (eine Armee hatten wir nicht!), trotzdem den Frieden nicht zu unterschreiben brauchten.

Die Erfahrung lehrte, dass Lenin im Rechte war: eine solche Situation bestand nicht.

Die ideenlosen „Bearbeitungen", angefangen von 1923, verstümmelten den Inhalt der Brester Streitigkeiten vollkommen. Alle Konstruktionen über meine Linie zur Brester Zeit sind durchgearbeitet und widerlegt worden auf Grund unbestreitbarer Dokumente in den Anmerkungen zum 17. Band meiner „Werke".

Die „Brester" Differenzen haben, wie gesagt, auch nicht den Schatten einer Spannung in dem persönlichen Verhältnis zwischen mir und Lenin zurückgelassen. Schon einige Tage nach der Unterzeichnung des Friedens war ichauf Vorschlag Leninsan die Spitze der militärischen Arbeiten gestellt.

Die Gewerkschaftsfrage

27. Der Kampf um die Gewerkschaftsfrage dauerte länger und trug einen schärferen Charakter. Der durch die Welle der NEP uns zugetragene neue Theoretiker Martynow zeigte die Differenzen in der Gewerkschaftsfrage als Differenzen in der Frage der NEP auf. Martynow schrieb 1923 darüber: „L. Trotzki dachte 1905 logischer und folgerichtiger als Bolschewiken und Menschewiken. Aber der Fehler seiner Auseinandersetzungen war der, dass sie zu „folgerichtig" waren. Er zeigte genau das Bild der bolschewistischen Diktatur während der ersten drei Jahre der Oktoberrevolution auf, die, wie bekannt, in die Sackgasse geriet, indem sie das Proletariat von den Bauern losriss, und woraufhin die bolschewistische Partei genötigt war, einen weiten Rückzug anzutreten." („Krasnaja Now" Nr. 2 1923, Seite 262.) Bis zur NEP herrschte also nach Martynow der „Trotzkismus". Der Bolschewismus fing erst mit der NEP an! Bemerkenswert ist, dass Martynow genau so über die Revolution 1905 dachte. Nach seinen Worten herrschte in den Monaten Oktober, November, Dezember 1905, d. h. in der Zeit des höchsten Aufschwunges der Revolution, der „Trotzkismus". Die wirkliche marxistische Politik fing erst nach der Zerschlagung des Moskauer Aufstandes an, beispielsweise bei den Wahlen zu der Ersten Duma. Martynow stellt heute den Bolschewismus dem „Trotzkismus" gegenüber, genau auf derselben Linie wie er zwanzig Jahre früher den Menschewismus dem „Trotzkismus" gegenüberstellte. Und diese Schreibereien gelten als Marxismus und nähren die jungen „Theoretiker" der Partei!

28. In seinem Testament erinnert Lenin gewiss nicht an die Gewerkschaftsdiskussion deswegen, um sie als einen Streit, hervorgerufen durch die berühmte Unterschätzung des Bauerntums meinerseits, darzustellen. Lenin spricht von dieser Diskussion als von einem Streit, hervorgerufen durch das NKPS (Volkskommissariat für Verkehrswesen), wobei er mir als Schuld nicht die „Unterschätzung des Bauerntums" zuschreibt, sondern die „außerordentliche Begeisterung für die rein administrative Seite dieser Sache". Ich denke, dass diese Worte den Kern des damaligen Streites treffen.

Der Kriegskommunismus hatte sich erschöpft. Die Landwirtschaft und nach ihr alles Übrige, geriet in eine Sackgasse. Die Industrie zerfiel. Die Gewerkschaften wurden zu Agitations-Mobilisations-Organisationen, die ihre Selbständigkeit verloren. Die Krise der Gewerkschaften war keine „Krise des Wachstums'", sie war vielmehr eine Krise des gesamten Systems des Kriegskommunismus. Außer der NEP war kein Ausweg zu sehen. Der von mir vorgeschlagene Versuch, den Gewerkschaftsapparat in das administrative System der Wirtschaftsverwaltung einzuspannen („außerordentliche Begeisterung für die rein administrative Seite der Sache") gab keinen Ausweg. Aber die Resolution der .„Zehn" über die Gewerkschaften zeigte auch keinen Ausweg, denn die gewerkschaftlichen Verbände, die Vertreter der materiellen und kulturellen Interessen der Arbeiterklasse, die Schule des Kommunismus, verloren unter diesen Bedingungen (die Landwirtschaft in der Sackgasse) den Boden unter den Füßen.

Unter den Schlägen des Kronstädter Aufstandes schälte sich eine neue wirtschaftliche Orientierung der Partei heraus, die auch für die Gewerkschaften eine vollkommen neue Perspektive eröffnete. Aber bemerkenswert ist, dass auf dem X. Kongress die Partei einstimmig die ersten Grundlagen dei NEP guthieß. Die Resolution über die Gewerkschaften wurde aber mit diesen Grundlagen nicht in Übereinstimmung gebracht und behielt damit ihre inneren Widersprüche. Das zeigte sich schon einige Monate später. Die vom X. Kongress angenommene Resolution über die Gewerkschaften musste noch vor dem Zusammentreten des XI. Kongresses von Grund auf geändert werden. Die neue Resolution, geschrieben von Lenin, welche die Arbeit der Gewerkschaften unter die Bedingung der NEP stellte, wurde einstimmig angenommen.

Die Gewerkschaftsdiskussion außerhalb der Frage des Umschwunges unserer ganzen wirtschaftlichen Politik zu betrachten, bedeutet auch heute noch, nach sieben Jahren, dass man den Sinn dieser Diskussion nicht verstanden hat. Von diesem Nichtverstehen rührt es auch her, hier die Unterschätzung des Bauerntums anzubringen. Und gerade während dieser Gewerkschaftsdiskussion stellte ich die Losung auf: „Industrie – mit dem Gesicht dem Dorfe zu!" Die Fälscher, die folgerichtiger zu denken verstehen, versuchen die Sache so hinzustellen, als ob ich gegen die NEP war. Doch zeugen unbestreitbare Tatsachen und Dokumente davon, dass ich schon während der Zeit des IX. Kongresses mehr als einmal die Frage über die Notwendigkeit des Überganges zur Naturalsteuer und, in gewissen Grenzen, zur Warenform in der Verteilung (freier Handel) aufgeworfen hatte. Nur die Ablehnung dieser Vorschläge – bei fortlaufender Verschlechterung der Wirtschaft – zwang mich einen anderen, entgegengesetzten Ausweg zu suchen, d. h. den Ausweg der „rein administrativen Seite" unter festerer Heranziehung der Gewerkschaften – rein als Apparat – in die kriegskommunistische Wirtschaftsverwaltung. Der Übergang zur NEP fand nicht nur keinen Widerspruch von meiner Seite, sondern, umgekehrt, kam meinen eigenen Erfahrungen in der Wirtschaft und der Administration entgegen. Das ist der wahre Inhalt der sogenannten Gewerkschaftsdiskussion.

Leider ist der Band meiner „Werke", der diesem Zeitabschnitt gewidmet ist, vom Gosisdat (Staatl. Verlag) nicht herausgegeben.

29. Wenn man den heutigen Parteihistorikern und Theoretikern glauben soll, so waren die ersten sechs Jahre der Revolution vollkommen mit den Meinungsverschiedenheiten über Brest-Litowsk und über die Gewerkschaften ausgefüllt. Alles andere ist verschwunden: verschwunden ist die

Vorbereitung des Oktoberumsturzes

verschwunden der. Umsturz selbst, verschwunden der Aufbau des Staates, der Aufbau der Roten Armee, der Bürgerkrieg, verschwunden sind die vier Kongresse der Komintern, die ganze literarische Arbeit für die Propaganda des Kommunismus, die Arbeit für die Leitung der ausländischen kommunistischen Parteien und unserer eigenen. Von all dieser Arbeit, wo ich im Wesentlichsten mit Lenin solidarisch war, sind bei den heutigen Historikern nur zwei Momente übriggeblieben: Brest-Litowsk und die Gewerkschaften.

30. Stalin und seine Handlanger haben sich sehr darum bemüht, die Gewerkschaftsdiskussion als meinen „heißen" Kampf gegen Lenin darzustellen.

Folgendes sagte ich auf dem Kongress der Bergarbeiter am 26. Januar 1921, als die Diskussion am heftigsten war:

Genosse Schljapnikow sagte hier – ich werde seinen Gedanken vielleicht etwas grob ausdrücken – er sagte: „Glaubt nicht dieser Differenz zwischen Trotzki und Lenin, sie werden sich doch wieder einigen, und der Kampf wird nur gegen uns geführt werden." Er sagte, glaubt nicht. Ich weiß nicht, was man hier glauben oder nicht glauben soll. Natürlich werden wir uns einigen. Man kann bei der Diskussion über wichtige Fragen streiten, aber dieser Streit treibt unsere Gedanken in die Richtung der Einigung." (Aus dem Schlusswort Trotzkis auf dem II. Allruss. Bergarbeiterkongress, 26. Januar 1921.)

Eine andere Stelle aus meiner Rede, welche Lenin in seiner Broschüre anführt, lautet:

In der schärfsten Polemik mit Gen. Tomski habe ich immer gesagt, dass es mir absolut klar ist, dass wir und die Gewerkschaften nur Führer mit Erfahrungen, mit einer gewissen Autorität gebrauchen können, wie sie ja auch der Genosse Tomski besitzt. Das sagte ich in der Fraktion der V. Konferenz der Gewerkschaften, das sagte ich auch vor einigen Tagen im Theater Simin. Der Ideenkampf in der Partei ist kein gegenseitiges Abwimmeln, sondern ein gegenseitiges Beeinflussen." (Seite 34 des Berichtes über die Diskussion am 30. Dezember.) (Lenin, Band XVIII, T. I, S. 71.)

Lenin sagte über diese Frage in seinem Schlusswort auf dem X. Parteikongress, als er die Gewerkschaftsdiskussion resümierte:

Die Arbeiteropposition" sagte: Lenin und Trotzki werden sich einigen. Trotzki sagte bei seinem Auftreten: „Wer es nicht versteht, dass man sich einigen muss, der geht gegen die Partei. Natürlich, werden wir uns einigen, weil wir Parteileute sind." Ich unterstützte ihn. Natürlich, gingen wir mit Trotzki in dieser Frage auseinander, und wenn sich im ZK oder weniger gleich starke Gruppen bilden, so wird die Partei entscheiden, und sie entscheidet so, dass wir uns, gemäß dem Willen und den Anweisungen der Partei einigen. Mit dieser Erklärung sind wir mit Gen. Trotzki auf den Bergarbeiterkongress und hierher gegangen (d. h. zum Parteikongress)." (Band XVIII, Teil I, Seite 132.) Ähnelt das der bösen Schmiererei, die jetzt als die Geschichte der Gewerkschaftsdiskussion herausgegeben wird?

Am allerlächerlichsten wirkt jedoch bei alledem, wenn der Genosse Bucharin die Diskussion über die Gewerkschaften etwas unvorsichtig für den Kampf gegen den „Trotzkismus" auszunutzen anfängt. Folgendermaßen bewertete Lenin seine Stellungnahme bei dieser Diskussion:

Lenin über Bucharin

Bis jetzt war die „wichtigste" Person in diesem Kampfe Trotzki. Jetzt hat ihn Bucharin weit überholt und ihn ganz „verdunkelt"; er hat ein ganz neues Verhältnis zum Kampf geschaffen, denn er hat sich in einen Fehler hineingeredet, der hundertmal größer ist, als alle Fehler Trotzkis zusammengenommen.

Wie konnte sich Bucharin zu solchen Reden hinreißen lassen, die nichts mehr mit Kommunismus gemeinsam haben? Wir kennen die ganze Weichheit des Gen. Bucharin, eine seiner Eigenschaften, um die ihn alle so lieben, und auch gar nicht anders können. Wir wissen, dass man ihn mehr als einmal spaßhalber „weiches Wachs" nannte. Es erweist sich, dass auf diesem „weichen Wachs" ein beliebiger „prinzipienloser" Mensch, ein beliebiger „Demagoge" schreiben kann, was er will. Diese in Anführungsstriche genommenen scharfen Ausdrücke gebrauchte – und hatte auch das Recht, sie zu gebrauchen – der Genosse Kamenew bei der Diskussion am 17. Januar. Aber weder Kamenew noch irgendeinem anderen kommt es in den Sinn, das Geschehene mit prinzipienloser Demagogie zu erklären, auf sie zurückzuführen." (Band XVIII, T. I, Seite35.)

III. Kongress der Komintern

31. Aber war denn die Frage der Gewerkschaften die einzige Frage in dem Leben der Partei und der Sowjetrepublik während der Jahre der gemeinsamen Arbeit mit Lenin? In demselben Jahre 1921, in dem der X. Parteitag stattgefunden hat, trat einige Monate später der III. Kongress der Komintern zusammen, der in der internationalen Arbeiterbewegung eine große Rolle gespielt hat. Auf diesem III. Kongress entwickelte sich ein tiefgehender Kampf um die Grundfragen der kommunistischen Politik. Dieser Kampf ging auch durch unser Politbüro. Einiges davon habe ich auf der Sitzung kurz nach dem XIV. Parteitag erzählt.

Damals bestand die Gefahr, dass die Politik der Komintern auf der Linie der

Märzereignisse in Deutschland

weitergehe, d. h. auf der Linie der Versuche, die revolutionäre Lage künstlich zu schaffen und das Proletariat zu „elektrisieren", wie sich ein deutscher Genosse ausdrückte. Diese Stimmung war die herrschende auf dem Kongress, und Lenin kam zu der Schlussfolgerung, dass, wenn die Internationale so weiterarbeite, sie sich bestimmt den Schädel einrenne. Noch vor dem Kongress habe ich dem Genossen Radek einen Brief, von dem Lenin nichts wusste, geschrieben, in dem ich meine Eindrücke von den Märzereignissen niederlegte. Angesichts der kitzligen Lage, die Meinung Lenins nicht kennend und wissend, dass Sinowjew, Bucharin und Radek im Allgemeinen für die deutsche Linke waren, habe ich, selbstverständlich, nicht öffentlich gesprochen, sondern Radek einen Brief (in Form von Thesen) geschrieben, damit er seine Meinung zum Besten gebe. Mit dem Genossen Radek wurden wir nicht einig. Lenin erfuhr davon, berief mich zu sich und charakterisierte die Lage in der Komintern als mit den größten Gefahren verbunden. In der Bewertung der Lage und der Aufgaben waren wir vollkommen solidarisch.

Nach dieser Beratung sprach Lenin den Genossen Kamenew, um sich die Mehrheit im Politbüro zu sichern. Das Politbüro bestand damals aus fünf Mann, mit Genossen Kamenew waren wir drei, folglich die Mehrheit. Und in unserer Delegation waren wir – von der einen Seite – die Genossen Sinowjew, Bucharin und Radek, von der anderen – Lenin, ich und Genosse Kamenew, wobei wir formelle Sitzungen hatten nach den Gruppierungen. Lenin sagte damals: „Nun bilden wir eine neue Fraktion."

In den weiteren Verhandlungen über den Text der Resolution war ich dann der Vertreter der Fraktion des Gen. Lenin. Radek vertrat die Fraktion Sinowjew. (Sinowjew: Jetzt hat sich die Sachlage geändert.)

Ja, sie hat sich geändert. Wobei Gen. Sinowjew damals ziemlich entschieden den Genossen Radek beschuldigte, bei den Verhandlungen seine Fraktion „verraten" zu haben, d. h. auf zu große Zugeständnisse eingegangen zu sein. Der Kampf war hart in sämtlichen Parteien der Komintern, und Lenin beriet sich mit mir, was wir tun sollten, falls sich der Kongress gegen uns aussprechen würde: unterwerfen wir uns dem Kongress, dessen Beschlüsse verderblich werden könnten, oder unterwerfen wir uns nicht? Einen Abglanz dieser Beratung kann man im Stenogramm meiner Rede finden. Ich sagte damals – im Einverständnis mit Lenin – dass wenn ihr, der Kongress, gegen uns beschließen werdet, so denke ich doch, dass ihr uns einen bestimmten Spielraum geben werdet, damit wir auch weiterhin unseren Standpunkt vertreten können. Der Sinn dieser Worte war vollkommen klar. Ich muss aber hinzufügen, dass das Verhältnis innerhalb unserer Delegation, dank der Leitung Lenins, ein ganz kameradschaftliches war." (Stenogramm der Sitzung des Politbüro ZK WKP. 18. März 1926, Seite 12 und 13.)

Im Einverständnis mit Lenin verteidigte ich unsere gemeinsame Position im Exekutivkomitee, dessen Sitzungen den Sitzungen des III. Kongresses vorangingen. Ich setzte mich dem scharfen Feuer der sogenannten „Linken" aus. Lenin eilte zu der Sitzung des Exekutivkomitees und führte dort Folgendes aus:

„… Ich kam hierher, um gegen die Rede des Genossen Bela Kun zu protestieren, welcher gegen den Genossen Trotzki aufgetreten ist, anstatt ihm beizustehen, was er hätte tun müssen, wenn er ein echter Marxist sein will…"

„…Der Genosse Laporte war im Unrecht, und der Genosse Trotzki hatte recht, als er gegen ihn sprach… Genosse Trotzki hat tausendmal recht, wenn er das immer wieder behauptet. Und hier kommt noch der Luxemburger Genosse, der der französischen Partei vorwirft, dass sie die Okkupation Luxemburgs nicht sabotierte. Er denkt, dass dies eine geographische Frage sei, wie es Bela Kun meint. Nein, das ist eine politische Frage, und Genosse Trotzki hat vollkommen recht, wenn er dagegen protestiert…"

„…Darum hielt ich es für meine Pflicht, im hauptsächlichsten das zu unterstützen, was Gen. Trotzki gesagt hat…" usw.

In allen Reden Lenins, die sich auf den III. Kongress beziehen findet man dieses starke Unterstreichen der vollsten Solidarität mit dem Genossen Trotzki.

Die Frage über die Erziehung der Parteijugend

32. 1922 wurde durch die Initiative des Gen. Ter-Waganian die Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus" gegründet. Im ersten Buch befindet sich mein Artikel über die verschiedenen Bedingungen der Erziehung der beiden Parteigenerationen, der alten und der jungen, und über die Notwendigkeit eines besonderen theoretischen Herantretens an die neue Generation zur Sicherstellung der theoretischen und politischen Aufnahmefähigkeit in der Entwicklung der Partei. Im nächsten Buch der neuen Zeitschrift schrieb Lenin:

Über die allgemeinen Aufgaben der Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus" hat der Gen. Trotzki in der Nummer 1/2 alles Wichtige schon gesagt und hat es gut gesagt. Ich möchte mich auf einige Fragen, die den Inhalt und das Programm der Arbeit, die die Vorrede zu Nr. 1/2 von der Redaktion der Zeitschrift behandelt, festlegen. (Lenin, Band XX Ergänzung, T. II, Seite 492.) Hat sich die Solidarität in diesen wichtigen Fragen als eine zufällige erwiesen? Nein, Zufall war nur die Tatsache, dass diese Solidarität sich in der Presse so klar .gezeigt hat. In den allermeisten Fällen zeigte sich diese Solidarität nur in der Tat.

Das Verhältnis zum Bauerntum

33. Nachdem Bucharin von der vollkommenen Ignorierung des Bauerntums zu der Kulaken-Losung „Bereichert Euch!" herüber gewechselt ist, dachte er, dass damit seine alten Fehler für immer berichtigt seien. Mehr noch, er versuchte die Brester Differenzen und meine anderen Meinungsverschiedenheiten mit Lenin auf ein und dieselbe Frage zurückzuführen – nämlich auf das Verhältnis zum Bauerntum. Die Dummheiten und Schändlichkeiten, die aus diesem Grunde durch die Bucharinsche Schule in Umlauf gesetzt wurden, sind zahllos. Zu einer speziellen Widerlegung müsste man ein ganzes Buch schreiben. Ich beschränke mich hier auf das Wichtigste:

a) Die alten, vorrevolutionären, wirklich vorhanden gewesenen Differenzen werde ich hier nicht berühren. Ich stelle hier nur fest, dass sie durch die Stalinsche und Bucharinsche Agentur sehr aufgebauscht und entstellt wiedergegeben worden sind.

b) 1917 waren in dieser Frage zwischen Lenin und mir keine Meinungsverschiedenheiten.

c) Die „Adoptierung" der sozial-revolutionären Boden-Programme waren von Lenin im vollen Einverständnis mit mir durchgeführt worden.

d) Ich habe als erster das Leninsche Dekret über Grund und Boden, mit Bleistift geschrieben, gelesen. Keine Spur von Differenz war vorhanden. Es war ein vollkommenes Einverständnis.

e) Man kann es sich denken, dass in der Ernährungsfrage das Verhältnis zu den Bauern keine geringe Rolle spielte. Kohlköpfe, wie Martynow, sprechen davon, dass diese Politik „trotzkistisch" sei. (Siehe Artikel Martynows in der „Krasnaja Now", 1922.) Nein, das war eine bolschewistische Politik. Ich nahm an der Durchführung dieser Politik an der Seite Lenins teil. Nicht ein Schatten einer Differenz war vorhanden.

f) Der Kurs auf den Mittelbauern fand unter der aktiven Teilnahme meinerseits statt. Die Mitglieder des Politbüro wissen es, dass nach dem Tode des Gen. Swerdlow der erste Gedanke Lenins war, den Gen. Kamenew als Vorsitzenden des WZIK zu bestimmen. Der Vorschlag, dazu eine „Arbeiter-Bauern"-Figur zu wählen, ging von mir aus. Die Kandidatur des Gen. Kalinin war von mir vorgeschlagen. Ich war es auch, der ihn auch den allrussischen Starosta (Dorfschulze) nannte. Das alles sind natürlich Kleinigkeiten, auf die hinzuweisen es sich gar nicht lohnt. Aber heute sind diese Kleinigkeiten, diese Symptome, tödliche Beweisführungen gegen die Fälscher der Vergangenheit.

g) Unsere ganze Militärpolitik und Organisation bezog sich zu neun Zehnteln auf das Verhältnis des Arbeiters zum Bauern. Diese Politik – gegen das kleinbürgerliche Partisanentum – führte ich Hand in Hand mit Lenin durch. Hier, z. B. eine Reihe meiner Telegramme aus Simbirsk und Rusajewki (März 1919), die von der Notwendigkeit, energische Maßnahmen zur Besserung des Verhältnisses zum mittleren Bauerntum zu treffen, handeln. Ich verlangte, eine autoritative Kommission an die Wolga zu schicken zur Kontrolle der Ortsbehörden und zur Ergründung der Unzufriedenheit der Bauern.

In dem dritten dieser Telegramme – direkt: Moskau, Kreml, Stalin (persönlich) – heißt es:

Aufgabe der Kommission: bei den Wolgabauern den Glauben an die zentrale Sowjetmacht zu erhalten, die schreiendsten Unordnungen an Ort und Stelle zu beseitigen und die schuldigen Vertreter der Sowjetmacht zu bestrafen, Klagen und Material, die als Grundlage von demonstrativen Dekreten zum Nutzen der Mittelbauern dienen können, zu sammeln. Eines der Mitglieder kann Smilga sein, als ein anderes ist Kamenew oder eine andere Autorität erwünscht." (22. März 1919, Nr. 813.) Dieses Telegramm – eines von vielen – über die notwendigen Dekrete zum Nutzen der Mittelbauern – hat nicht Stalin mir, sondern ich habe es an Stalin geschickt; und das geschah nicht zur Zeit des XIV. Parteitages, sondern Anfang 1919, als die Meinung Stalins über den Mittelbauern noch niemand bekannt war.

In der Tat, jedes Blatt der alten Archive – ohne jede Auswahl – erscheint heute als eine Entlarvung der nachträglich ersonnenen Unsinnigkeiten über ungenügende Bewertung des Bauerntums oder des Mittelbauern!

h) Anfang 1920 brachte ich, fußend auf der Analyse der Landwirtschaft, im Politbüro einen Vorschlag über eine Reihe von Maßnahmen von „NEP"-Charakter ein. Dieser Vorschlag konnte absolut nicht von einem „Linksliegenlassen'"' des Bauerntums diktiert sein.

i) Die Diskussion über die Gewerkschaften war, wie gesagt, ein Suchen nach einem Ausweg aus der wirtschaftlichen Sackgasse.

Der Übergang zur NEP wurde vollkommen einstimmig durchgeführt

34. All dieses kann man durch unbestreitbare Dokumente beweisen. Irgendwann wird dieses geschehen. Hier beschränke ich mich auf zwei Zitate.

Als Antwort auf die Anfragen über das Verhältnis zu den Kulaki, Mittelbauern und zur Dorfarmut und über die vermeintlichen Differenzen zwischen Lenin und Trotzki in der Bauernfrage, schrieb ich 1919:

Bei der Sowjetmacht existierten und existierten irgendwelche Meinungsverschiedenheiten hierüber nicht. Aber den Konterrevolutionären, deren Sache immer schlechter und schlechter geht, bleibt nichts anderes übrig, als die werktätigen Massen mit einem angeblichen Kampfe, der den Rat der Volkskommissare von innen auseinanderreiße, zu betrügen." („Iswestija" WZIK., 7. Februar 1919.)

Lenin schrieb auf die Anfrage des Bauern Gulow folgendes:

In den „Iswestija ZIK." vom 2. Februar befindet sich ein Brief des Bauern G. Gulow, der die Frage des Verhältnisses unserer Arbeiter- und Bauernregierung zu den Mittelbauern aufwirft, und von den verbreiteten Gerüchten erzählt, als ob Lenin und Trotzki nicht einig seien, als ob große Differenzen in der Frage des Mittelbauern zwischen ihnen herrsche.

Der Genosse Trotzki hat schon eine Antwort in seinem „Brief an die Mittelbauern", abgedruckt in „Iswestija ZIK." vom 7. Februar, gegeben. Genosse Trotzki sagt in diesem Briefe, dass das Gerücht über Differenzen zwischen mir und ihm eine ungeheuerliche und niederträchtige Lüge sei, die von den Gutsbesitzern und . Kapitalisten oder ihren freiwilligen und unfreiwilligen Helfershelfern verbreitet wird. Ich, von meiner Seite, bestätige die Erklärung des Gen. Trotzki. Es gibt zwischen uns keine Differenzen, und was den Mittelbauern anbetrifft, gibt es bei uns keine Differenz weder mit Trotzki noch überhaupt in der Kommunistischen Partei, der wir beide angehören.

Genosse Trotzki hat in seinem Briefe genau und klar dargelegt, warum die Partei der Kommunisten und die Arbeiter- und Bauernregierung, die von den Sowjets gewählt worden ist, und die dieser Partei angehört, den Mittelbauern nicht zu ihren Feinden zählt. Ich unterschreibe mit beiden Händen das, was Genosse Trotzki geschrieben hat." (Lenin B. XVI, S. 28-29, „Prawda" Nr. 35, 15. Februar 1919.)

Auch hier stoßen wir auf dieselbe Tatsache: das Gerücht ist anfänglich durch Weißgardisten in die Welt gesetzt worden. Jetzt hat es die Stalinsche-Bucharinsche Schule übernommen, verarbeitet und verbreitet es weiter.

Kriegsarbeit

35. Auch gegen meine Kriegsarbeit, die 1918 angefangen hat, ist unter der Leitung Stalins der Versuch unternommen worden, die Geschichte der Bürgerkriege von neuem zu ändern zu dem besonderen Zweck des Kampfes gegen den „Trotzkismus", oder ehrlicher gesagt, gegen Trotzki.

Über den Aufbau der Roten Armee und über das Verhältnis zu dieser Arbeit zu berichten, hieße die Geschichte des Bürgerkrieges schreiben. Vorläufig wird sie von den Gussews geschrieben. Später werden sie andere schreiben. Ich bin gezwungen, mich auf zwei bis drei Beispiele zu beschränken, soweit ich sie durch Dokumente bekräftigen kann.

Als Kasan von unseren Armeen eingenommen wurde, erhielt ich von dem rasch genesenden Lenin ein Begrüßungstelegramm:

Begrüße mit Begeisterung den glänzenden Sieg der Roten Armee. Möge sie als Pfand dafür dienen, dass die Union der Arbeiter und revolutionären Bauern die Bourgeoisie aufs Haupt schlagen wird, den Widerstand der Ausbeuter brechen und den Sieg des internationalen Sozialismus sichern wird. Es lebe die Arbeiterrevolution!

Lenin. 10. September 1918."

Der sehr gehobene – nach dem Maßstab Lenins – Ton des Telegramms („Begrüße mit Begeisterung") zeugt davon, was für eine große Bedeutung er – und nicht umsonst – der Einnahme Kasans zuschrieb! Hier erfolgte zum ersten Mai und im Grunde genommen eine entscheidende Prüfung der Festigkeit der Union der Arbeiter und der revolutionären Bauern und der Fähigkeit der Partei, bei dem wirtschaftlichen Chaos und der schrecklichen Verzweiflung nach dem imperialistischen Kriege eine kampffähige revolutionäre Armee zu schaffen. Hier erfolgte im Feuer die Prüfung des Aufbaues der Roten Armee, und Lenin kannte den Wert dieser Prüfung.

36. Auf dem VIII. Parteitag wurde die Kriegspolitik von einer Gruppe von Kriegsdelegierten einer Kritik unterzogen. Unlängst erzählten Stalin und Woroschilow, dass ich auf den VIII. Kongress nicht zu erscheinen wagte, der Kritik wegen. Wie ungeheuerlich weit ist das von dem entfernt, was in der Tat war! Im Folgenden gebe ich die Bestimmungen des ZK über meine Fahrt an die Front am Vorabend des VIII. Parteitages wieder:

Ausschnitt aus dem Protokoll der Sitzung des ZK der RKP. (Bolschewiki) v. 16. 3. 19.

Anwesend: die Gen. Lenin, Sinowjew, Krestinski, Wladimirski, Stalin, Schmidt, Smilga, Dsershinski, Laschewitsch, Bucharin, Sokolnikow, Trotzki, Stassow.


Es wurde beantragt:

12. Einige Genossen von der Front, denen die Bestimmung des ZK von der sofortigen Rückkehr der Frontleute an die Front bekannt wurde, warfen die Frage von der Unrichtigkeit dieser Bestimmung auf, da die Organisationen an der Front sie so auslegen konnten, als ob die Zentrale die Stimmen aus der Armee nicht anhören wolle, und einige legen sie als einen Trick aus, da die Abfahrt des Genossen Trotzki und die Nichtzulassung der Armeedeputierten (durch den Abruf an die Front) die Frage der Kriegspolitik vollkommen überflüssig mache. Genosse Trotzki protestiert gegen die Auslegung der Bestimmung des ZK als „Trick" und weist auf die äußerst ernste Lage in Verbindung mit dem Zurückweichen von Ufa weiter nach Westen hin und besteht auf seiner Abreise.

Es wurde bestimmt:

1. Genosse Trotzki hat sofort an die Front zu reisen.

2. Der Gen. Sokolnikow wird auf der Versammlung der Frontleute erklären, dass die Direktiven über die Abreise aller Frontleute dahin abgeändert wird, dass diejenigen reisen, die ihre Anwesenheit an der Front für notwendig halten.

3. Die Frage der Kriegspolitik ist als erster Punkt auf die Tagesordnung des Kongresses zu stellen.

4. Dem Gen. Wladimir Michailowitsch Smirnow is tes gestattet, laut seiner Bitte in Moskau zu bleiben.

Hier ist ein gutes Beispiel des Parteiregimes jener Zeit: allen, die über das ZK wegen seiner Kriegspolitik herfielen, und in erster Linie dem Leiter der Kriegsopposition, W. M. Smirnow, ist es erlaubt worden, zum Kongress zu bleiben. Die Anhänger der offiziellen Linie aber wurden an die Front noch vor Eröffnung des Parteitages geschickt. Jetzt macht man es umgekehrt.

Die Protokolle der Kriegssektion des VIII. Parteitages, wo Lenin mit einer entschiedenen Rede zur Verteidigung der von mir im Auftrage des ZK durchgeführten Kriegspolitik auftrat, sind bis jetzt nicht herausgegeben worden. Warum? Eben darum, weil sie die Stalinsche und Gussewsche Unwahrheit über den Bürgerkrieg festnageln.

Stalin will Trotzkis Kriegsverdienste herabsetzen

37. Stalin versuchte eine künstlich herausgezogene Kriegsdifferenz, die im Pol. Büro über die Ostfront Anfang 1919 entstand, in Umlauf zu setzen. Die Differenz bestand in Folgendem: Ist der Weitermarsch nach Sibirien fortzusetzen oder soll man sich im Ural festsetzen und soviel als möglich Kräfte nach dem Süden werfen, um die Bedrohung Moskaus zu liquidieren? Ich neigte einige Zeit lang zu diesem zweiten Plane. Für den ersten Plan, der auch angenommen wurde und glänzende Resultate zeigte, standen viele Kriegsmitarbeiter, wie die Genossen Smilga, Laschewitsch, I. N. Smirnow, K. I. Grünstein u. a. In der Meinungsverschiedenheit war nichts Prinzipielles. Sie trug einen rein praktischen Charakter. Die Prüfung zeigte, dass die Heere Koltschaks vollkommen zersetzt waren. Der Weitermarsch nach Sibirien brachte einen vollen Erfolg.

38. Die Kriegsarbeit war eine harte Arbeit. Sie kam ohne Druck, Zwangsmaßnahmen, Repressalien usw. nicht aus. Es gab nicht wenig verletzte Eigenliebe, meistens, weil es nicht anders zu machen war, nicht selten aber auch aus fehlerhaftem Beginnen. Es gab deshalb viel Unzufriedenheit, auch berechtigte. Als die Meinungsverschiedenheit über die Ostfront entstand, und das ZK über die Frage des Wechsels des Hauptkommandos entschied, schlug ich dem Zentralen Komitee vor, mich von dem Posten des Kriegsvolkskommissars zu entheben. An demselben Tage (am 5. Juli 1919) brachte das ZK eine Bestimmung heraus, deren wichtigster Teil lautet:

Org- und Politbüro des ZK sind nach der Durchsicht und der Besprechung der Eingabe des Genossen Trotzki zu dem Beschluss gekommen, dass sie absolut nicht in der Lage sind, die Demission des Gen. Trotzki anzunehmen.

Org- und Politbüro werden alles, was in ihren Kräften steht, tun, um die Arbeit des Gen. Trotzki an der Südfront, die er selbst erwählt hat, der gefährlichsten, schwierigsten und wichtigsten der Gegenwart, so bequem als möglich für ihn und so fruchtbringend als irgend möglich für die Republik zu gestalten. In seinen Verordnungen als Kriegskommissar und Vorsitzender des Revolutionskriegsrates kann Gen. Trotzki freier handeln, gleichfalls als Mitglied des Revolutionskriegsrates der Südfront mit dem Kommandierenden der Front (Jegorow), den er selbst gewählt und das ZK bestätigt hat.

Org- und Politbüro des ZK stellen dem Gen. Trotzki anheim, mit allen Mitteln das zu erreichen, was er als . Richtigstellung der Linie in der Kriegsfrage für gut hält, und wenn er es wünscht, den Parteitag zu beschleunigen." Diese Resolution ist unterschrieben von: Lenin, Kamenew, Krestinski, Kalinin, Serebrjakow, Stalin, Stassow.

Durch diese Bestimmung, die für sich selbst spricht, war die strittige Frage erschöpft, und die Arbeit ging weiter.

Übrigens: auf der gemeinsamen Sitzung des Politbüro und des Präsidiums der ZKK am 8. 9. 27 erklärte Stalin, laut Stenogramm, dass das ZK mir „verboten" hätte, an der Südfront zu befehlen. Die oben wiedergegebene Resolution gibt auch hierüber eine erschöpfende Antwort.

39. War aber die Meinungsverschiedenheit über die Ostfront die einzige dieser Art? In keinem Falle. Es waren Differenzen in der Frage des strategischen Planes im Kampfe mit Denikin. Es gab auch Meinungsverschiedenheiten über Petrograd – sollte man die Stadt Judenitsch überlassen oder sie verteidigen? Es gab auch Differenzen in Bezug auf den Angriff auf Warschau, und über die Möglichkeit eines zweiten Feldzuges, nachdem wir auf Minsk zurückgegangen waren. Dieser Art Differenzen ergaben, sich aus der Praxis des Kampfes und liquidierten sich auch im Kampfe.

Notwendige Dokumente in der Frage der Südfront sind in meinem Buche „Wie bewaffnete sich die Revolution?" (B. II, Buch I, S. 301) veröffentlicht.

Während des Anmarsches Judenitsch' auf Petrograd meinte Lenin eine Zeitlang, dass wir die Stadt sowieso nicht halten würden, und dass man die Verteidigungslinie näher nach Moskau verlegen sollte. Ich sprach dagegen. Die Genossen Sinowjew und, ich glaube, auch der Gen. Stalin, unterstützten mich. Am 17. Oktober 1919 schickte mir Lenin telegraphisch die Nachricht nach Petrograd:

Gen. Trotzki! Gestern Nacht verbrachten wir im S. Ob. (Rat der Verteidigung) und schickten Ihnen unter Chiffre die Bestimmung des Rates der Verteidigung.

Wie Sie. sehen, ist Ihr Plan angenommen. Aber das Zurückgehen der Petersburger Arbeiter nach Süden ist natürlich nicht zurückgewiesen (man sagt, dass Sie dieses Krassin und Rykow entwickelt haben); hiervon früher als nötig zu sprechen, bedeutet die Aufmerksamkeit vom Kampfe abzulenken.

Der Versuch, Petrograd zu umgehen und abzuschneiden, wird natürlich entsprechende Veränderungen hervorrufen, die Sie an Ort und Stelle entscheiden werden.

In jeder Abteilung der Gouvernement-Exekutive beauftragen Sie eine Vertrauensperson, die Sowjetpapiere und -Dokumente im Falle einer Evakuation zu sammeln.

Ich lege den Aufruf bei, mit dem mich der Verteidigungsrat beauftragt hat. Ich habe mich sehr beeilt – ist schlecht geworden – stellen Sie meine Unterschrift lieber unter die Ihre. Gruß!

Lenin."

Solche und ähnliche Episoden gab es nicht wenige. Sie waren für den gegebenen Moment von großer Bedeutung, aber eine prinzipielle Bedeutung hatten sie nicht. Es ging hier nicht um den Kampf von Prinzipien, sondern um die Ausarbeitung des besten Planes, den Feind zur gegebenen Zeit und am gegebenen Ort zurückzuschlagen.

Die Stalin und Gussews versuchen die Geschichte des russischen Bürgerkrieges von neuem zu schreiben. Es wird ihnen nicht gelingen!

40. In der Kampagne der Stalinleute gegen mich stellte den niederträchtigsten Teil die Beschuldigung dar, Kommunisten erschossen zu haben. Einstmals wurde diese Beschuldigung von unseren Feinden ihren „Informationsabteilungen", d. h. den politischen Abteilungen der weißen Armeen, in Umlauf gesetzt; sie versuchten unter unseren Rotarmisten Flugblätter zu verteilen, in denen sie die Roten Kommandierenden, besonders Trotzki, der „Blutgier" beschuldigten. Denselben Weg geht jetzt die Agentur Stalins.

Geben wir auf einen Augenblick zu, dass dies alles richtig sei, Warum haben dann die Stalin; Jaroslawski, Gussew und die anderen Agenten Stalins während des Bürgerkrieges geschwiegen? Was bedeuten die heutigen verspäteten „Entlarvungen" der Agentur Stalins? Diese „Entlarvungen" bedeuten: „Arbeiter, Bauern, Rotarmisten, die Partei hat euch betrogen, als sie euch sagte, dass Trotzki, an der Spitze der Armee, den Willen der Partei vollführt und ihre Politik durchsetzt. In ihren unzähligen Artikeln über die Arbeit Trotzkis, in den Beschlüssen ihrer Partei- und Sowjetkongresse hat die Partei euch betrogen, indem sie die Kriegsarbeit Trotzkis bestätigte und vor euch solche Tatsachen, wie die Erschießung von Kommunisten, verheimlichte. An diesem Betrüge nahm Lenin mit teil, da er die Kriegspolitik Trotzkis unterstützte."

Einen solchen Sinn haben die verspäteten „Entlarvungen" Stalins. Sie kompromittieren nicht Trotzki, sondern die Partei, ihre Leitung, sie untergraben das Vertrauen der Massen zu den Bolschewiken überhaupt; denn, wenn in der Vergangenheit, wo Lenin und der Kern seiner Mitarbeiter an der Spitze der Partei standen, Verheimlichungen solch ungeheuerlicher Fehler und sogar Verbrechen möglich war, was soll man dann jetzt erwarten, wo der Bestand des ZK weniger Autorität besitzt? Wenn z. B. Jaroslawski 1923, als der Bürgerkrieg schon längst zu Ende war, überschwängliche Loblieder auf Trotzki, seine Treue, auf seine revolutionäre Hingebung an die Sache der Arbeiterklasse sang, was muss dann heute ein denkendes junges Parteimitglied sagen? Der Genosse muss sich fragen: „Wann hat mich eigentlich Jaroslawski betrogen? damals, als er Trotzki in den Himmel hob, oder jetzt, wo er danach strebt, ihn mit Schmutz zu bewerfen?"

So sieht überhaupt die heutige Arbeit Stalins und seiner Agenten aus, sie streben danach, Stalin nachträglich eine neue Biographie anzudichten. Dahin gehört auch die berühmte Stalinsche „Entlarvung" über Michael Romanow. Was hat denn Stalin der Partei und der Komintern dem Wesen nach gesagt: „Das Zentralkomitee hat euch in den 10 Jahren in Bezug auf Kamenew betrogen, die „Prawda" hat ein falsches Dementi gebracht, Lenin hat die Partei betrogen, ich, Stalin, habe an diesem Betrüge teilgenommen, da wir aber mit Kamenew jetzt in unseren politischen Anschauungen auseinandergegangen sind, decke ich diesen Betrug auf." Die Parteimasse hat nicht die Möglichkeit, den größten Teil der Stalinschen „Entlarvungen" nachzuprüfen. Aber das, was die Partei klar empfindet, das ist die Herabsetzung des Vertrauens zu der Parteileitung – der gestrigen, der heutigen, der zukünftigen. Dieses Vertrauen der Partei muss neu erobert werden – gegen Stalin und seine Leute.

41. Eine besondere Energie in der literarischen Verdrehung unserer Kriegsvergangenheit hat, wie bekannt, der Genosse Gussew an den Tag gelegt. Er hat sogar eine Broschüre „Unsere Kriegsdifferenzen" geschrieben. In dieser Broschüre ist auch zum ersten Mal, wie es scheint, der giftige Klatsch über die Erschießung von Kommunisten (nicht Deserteuren, nicht Verrätern, sondern Kommunisten) – losgelasen worden.

Das Unglück Gussews, wie auch vieler anderer, ist es, dass sie zweimal über ein und dieselben Tatsachen und Fragen, geschrieben haben: einmal unter Lenin, einmal unter Stalin.

Folgendes schrieb Gussew das erste Mal: „Die Ankunft Trotzkis (vor Kasan) brachte eine entscheidende Wendung in der Lage der Sache. Auf die hinterwäldlerische Station Swijashsk kamen mit der Person Trotzkis fester Wille zum Sieg, Initiative und energischer Druck auf alle Arten von Arbeiten der Armee. Von den ersten Tagen an fühlte man auf der von den verschiedensten Fuhrwerken unzähliger Regimenter überfüllten Station, wo die politische Abteilung und die Versorgungsorgane sich befanden und in den 15 Werst weiter nach vorn gelegenen Teilen der Armee, dass ein großer Umschwung stattgefunden hat.

Vor allem zeigte sich das auf dem Gebiet der Disziplin Die harten Methoden des Genossen Trotzki in dieser Zeit des Partisanentums, der Undiszipliniertheit, der Überheblichkeit, waren vor allem zweckmäßig und notwendig. Durch Überreden war nichts zu machen, und auch die Zeit reichte dazu nicht aus. Im Laufe der 25 Tage, welche Trotzki in Swijashsk zubrachte, wurde eine große Arbeit geleistet, welche die verstimmten und zersetzten Teile der 5. Armee in kampffähige verwandelte, und sie zur Einnahme von Kasan vorbereitete." (Die Proletarische Revolution, Nr. 2/25, 1924.) Jedes Mitglied der Partei, das den Bürgerkrieg mitgemacht und die Erinnerung nicht ganz verloren hat, wird in seinem Kämmerlein sagen müssen, – wenn er Furcht hat, es laut zu sagen, – dass man zehn, ja hunderte von gedruckten Zeugnissen von der Art wie das von Gussew anführen könnte.

Lenins Vertrauen in Trotzki

42. Ich beschränke mich hier auf Zeugnisse von autoritativer Art. In seinen Erinnerungen über Lenin erzählt Gorki:

Mit der Hand auf den Tisch schlagend, sagte er (Lenin): Zeigt doch einen anderen Menschen, der fähig wäre, in einem Jahre eine fast mustergültige Armee zu schaffen, und noch die Achtung der militärischen Spezialisten zu erobern. Wir haben solch einen Menschen. Wir haben alles. Und Wunder werden sein." (Wladimir Lenin. Staatl. Verl. Leningrad), 1924, S. 23.)

Daselbst sagte Lenin, nach Worten Gorkis: „Ja, ja, ich weiß. Da hört man Lügen über mein Verhältnis zu ihm. Man lügt viel und, wie es scheint, besonders viel über mich und Trotzki." (M. Gorki, „Wladimir Lenin", Leningrad, 1924, S. 23.)

Ja, über das Verhältnis zwischen Lenin und Trotzki lügt man viel. Aber kann man die damalige handwerksmäßige Lügerei mit den jetzigen Lügen vergleichen, die im allgemein staatlichen und internationalen Maßstabe richtig organisiert werden? Damals logen das „Schwarze Hundert", die Weißgardisten, zum Teil die Sozial-Revolutionäre und Menschewiken. Jetzt hat die Stalinsche Fraktion dieselben Waffen ergriffen.

43. Auf der Sitzung der Fraktion der WCSPS (Allrussischer Zentral-Rat der Gewerkschaften) am 12. Januar 1920 sagte Lenin:

Wenn wir Denikin und Koltschak besiegt haben, so nur dadurch, dass unsere Disziplin stärker als die aller kapitalistischen Länder der Welt war. Der Genosse Trotzki hat die Todesstrafe eingeführt, wir werden sie bestätigen. Er führte sie mittels der bewussten Agitation und Organisation der Kommunisten ein."

44. Ich habe keine Dokumente Lenins mehr zur Verteidigung der Kriegspolitik in Händen, welche ich im vollen Einverständnis mit ihm durchgeführt habe. Das Protokoll der Beratung in der Kriegsfrage durch die Delegierten des VIII. Kongresses ist nicht veröffentlicht. Warum wird dieses Protokoll nicht herausgegeben? Weil Lenin auf dieser Sitzung mit aller Energie gegen die Gesinnungsgenossen Stalins, welche jetzt so fleißig die Vergangenheit fälschen, aufgetreten ist.

45. Aber ich bin noch im Besitz eines Dokuments, welches hundert andere überwiegt. Über dieses Dokument sprach ich im Präsidium der ZKK, als Jaroslawski eine giftige Intrige anfing, – unter Protest des Genossen Ordshonikidse. Ich zitierte dieses Dokument auf dem letzten Vereinigten Plenum (August 1927), als Woroschilow den Spuren Jaroslawskis folgte.

Lenin gab mir auf eigene Initiative ein Blankoformular:

unten auf der Seite waren folgende Zeilen geschrieben:

Genossen!

In Kenntnis des strengen Charakters der Befehle des Gen. Trotzki bin ich vollkommen überzeugt von der Richtigkeit, der Zweckmäßigkeit, der Notwendigkeit dieser Befehle, so dass ich sie voll und ganz unterstütze.

W. Uljanow (Lenin)."

Die Bedeutung dieses Blankoformulars habe ich schon im Präsidium der ZKK erklärt:

Als er mir dieses einhändigte, und ich unten auf der leeren Seite diese Worte geschrieben sah, wunderte ich mich. Er sagte mir: „Mir ist zu Ohren gekommen, dass gegen Sie Gerüchte laut werden, von Erschießungen von Kommunisten. Ich gebe Ihnen dieses Blankoformular, und kann Ihnen davon so viel geben als Sie wünschen. Ich unterstütze Ihre Beschlüsse, und oben auf der Seite können Sie irgendeinen Befehl schreiben und meine fertige Unterschrift wird darunter sein.' Das war im Juli 1919. Da jetzt viel Klatsch umgeht über mein Verhältnis zu Lenin und, was wichtiger ist, über Lenins Verhältnis zu mir, so möchte ich, dass irgend jemand so eine Carte-blanche zeige, so ein unausgefülltes Blankoformular mit der Unterschrift von Lenin, wo er sagt, dass er schon im Voraus jeden meiner Beschlüsse unterschreibe, – und damals hing von diesen Beschlüssen nicht nur das Schicksal einzelner Kommunisten, sondern einiges mehr ab."

Über wirtschaftliche Fragen

46. Martynow hält bekanntlich den Bürgerkrieg und den Kriegskommunismus für Trotzkismus". Diese Lehre hat jetzt eine große Popularität erhalten. Die Schaffung von Arbeitsarmeen, die Militarisierung der Arbeit und andere Maßnahmen, die wie auch die Verteilungsmethoden aus den Bedingungen der Zeit entstanden, werden von den Philistern und Hohlköpfen als Erscheinungen des „Trotzkismus" festgenagelt. Auf welcher Seite stand Lenin in dieser Frage?

In der Org.-Sektion des VII. Sowjetkongresses wurde die Frage des Bürokratismus der Spitzen und Zentren durchgenommen. In meiner Rede wies ich darauf hin, dass die Bürokratie die Wirtschaft erdrosseln kann, dass der Zentralismus nicht das absolute Prinzip ist, dass die notwendigen gegenseitigen Beziehungen zwischen der Initiative an Ort und Stelle und der zentralen Leitung in der Praxis erst gefunden werden muss. In seiner Rede gab Lenin die volle Zustimmung zu meiner Arbeit über den Zentralismus und setzte, hinzu:

Ich sage zum Schluss, dass ich mit Gen. Trotzki ganz einverstanden bin, wenn er sagt, dass man hier ganz falsche Versuche gemacht hat, unsere Streitigkeiten als einen Streit zwischen Arbeiter und Bauern hinzustellen, und an diese Frage hing sich noch die Frage über die Diktatur des Proletariats an." (Rede am 8. Dezember 1918, Band XVI, S. 433.)

Unsere Streitigkeiten" – waren jene lang andauernden Streitigkeiten, bei welchen Lenin, und Trotzki auf der einen Seite waren, und Rykow, Tomski, Larin und andere auf der anderen. Gen. Stalin hielt sich in diesen Streitfragen, wie in manchen anderen, hinter den Kulissen, lavierend und abwartend.

47. Auf der Sitzung der Fraktion der WCSPS am 12. 1. 1920 sagte Lenin bezüglich „unserer Streitigkeiten" mit Rykow, Tomski u. a. folgendes:

Wer hat diese widerlichen Händel angefangen? Nicht Gen. Trotzki, – in seinen Thesen ist davon nichts zu ersehen. Die Polemik brachten die Gen. Lomow, Rykow und Larin auf. Jeder von ihnen hat das höchste Amt – Mitglied des Präsidiums des WSNCH. Sie haben einen Vorsitzenden des WSNCH, welcher soviel Titel hat, dass wenn ich sie alle aufzählen wollte, ich fünf Minuten von meiner Zehnminutenrede verlieren müsste. Darum wird hier ganz umsonst davon geredet, dass dieser Versammlung eine besondere Liebenswürdigkeit und ein besonderes Interesse entgegengebracht wird … Gen. Rykow und auch andere sind mit einem widerlichen literarischen Gezanke aufgetreten. Der Gen. Trotzki stellte die Frage der neuen Aufgaben, und die anderen brachten eine Polemik mit dem VI. Rätekongress. Wir wissen doch, dass die Genossen Lomow, Rykow und Larin in ihrem blöden Artikel dieses nicht gerade heraus gesagt haben. Hier sagte irgendein Redner: man darf nicht mit dem VII. Rätekongress polemisieren. Der VII. Rätekongress hat einen Fehler gemacht – sagt es gerade heraus, korrigiert auf der Versammlung, aber schwatzt nicht von Zentralisation und Dezentralisation. Gen. Rykow sagt, dass man von der Zentralisation und Dezentralisation sprechen müsste, weil Gen. Trotzki dies nicht bemerkt hat. Der Mann meint, dass hier beschränkte Leute sitzen, dass sie die ersten Zeilen der Thesen des Gen. Trotzki schon vergessen haben, worin gesagt wird: ,Die Wirtschaft setzt einen allgemeinen Plan voraus usw. Können Sie russisch lesen, meine besten Rykow, Lomow und Larin? Kehren wir zu der Zeit zurück, als Sie noch 16 Jahre zählten, und fangen wir an von Zentralisation und Dezentralisation zu plaudern. Das bedeutet die Staatsaufgabe der Mitglieder des Kollegiums des WSNCH-Präsidiums! Das ist ein solcher Unsinn und elender Kram, dass es eine Schande ist, dazu seine Zeit herzugeben."

Und weiter:

Der Krieg lehrte uns, die Disziplin auf das Maximum zu bringen und Zehn- und Hunderttausende von Menschen, Genossen zu zentralisieren, die, um die Sowjetrepublik zu retten, umkamen. Ohne dies alles wären wir beim Teufel."

Übrigens ist diese Rede, die dem Lenin-Institut zur Verfügung steht, nicht abgedruckt nur aus dem Grunde, weil sie den heutigen Fälschern unbequem ist. Die Verheimlichung vor der Partei eines Teiles des Ideennachlasses Lenins ist ein notwendiges Element des Abweichens vom Wege des Leninismus. Die zitierte Rede Lenins wird man erst dann hervorholen, wenn man sich Rykow vorknöpfen wird.

48. Über meine Arbeit in der Eisenbahn-Transportfrage sagte Lenin auf dem VIII. Rätekongress folgendes:

„… Ihr habt schon aus den Thesen des Gen. Jeschmanow und des Gen. Trotzki ersehen, dass wir es hier auf diesem Gebiete (Wiederherstellung des Transportes) mit einem wirklichen Plan, ausgearbeitet auf viele Jahre, zu tun haben. Die Verordnung Nr. 1042 ist auf 5 Jahre berechnet, in 5 Jahren können wir unser Transportwesen wiederaufrichten, die Zahl der kranken Lokomotiven können wir verringern, und, vielleicht als das Allerschwierigste unterstreiche ich in der neunten These den Hinweis darauf, dass wir diese Frist schon verkürzt haben.

Und wenn große Pläne erscheinen, die auf mehrere Jahre berechnet sind, erscheinen auch nicht selten Skeptiker, die da sagen: was sollen wir da auf viele Jahre voraus berechnen, der Himmel helfe uns, das zu tun, was wir augenblicklich brauchen. Genossen, man muss verstehen, das eine mit dem andern zu verbinden; man kann nicht ohne einen Plan für eine längere Periode mit ernstlichem Erfolg arbeiten. Dass dies notwendig ist, zeigt der unzweifelhafte Aufschwung der Arbeit des Transportwesens. Ich möchte Sie auf die Stelle in der neunten These aufmerksam machen, wo gesagt wird, dass die Frist, zur Wiederherstellung 4½ Jahre betrage, aber die Frist ist schon gekürzt, da wir über die Norm hinaus arbeiten: die Frist ist schon auf Jahre bemessen. So muss man auch auf den übrigen Wirtschaftsgebieten arbeiten …" (Lenin, Band XVII, S. 423-424, Bemerken wir hier gleich, dass ein Jahr nach der Herausgabe der Verordnung Nr. 1042, in der Verordnung des Genossen Dsershinski „Über die Grundlagen der weiteren Arbeit der NKPS" (Volkskomm. f. Verkehrswesen) vom 27. Mai 1921 zu lesen ist:

Davon ausgehend, dass die Verkürzung der Norm der Verordnungen 1042 und 1157, die die ersten und glänzenden Erfahrungen der planwirtschaftlichen Arbeit darstellen, eine zeitweilige ist und durch die Krise in der Brennstoffversorgung hervorgerufen wurde, … sind Maßnahmen zur Unterstützung und Wiederherstellung der Versorgung und der Werkstätten zu ergreifen …"

Über den Versuch, den Putilowschen Betrieb zu schließen

49. Über den Versuch, den Putilowschen Betrieb zu schließen. In den Thesen des Gen. Rykow, geschrieben im Oktober 1927, d. h. 4 Jahre nach der Entstehung dieser Frage, wird wieder die Legende von der Schließung der Putilowschen Fabrik aufgetischt. In diesem Falle, wie auch in vielen anderen, handelt der Gen. Rykow äußerst unvorsichtig, da er Material gegen sich selbst sammelt.

Die Sache ist die, dass der Vorschlag, den Putilowschen Betrieb zu schließen, vom Gen. Rykow selbst, dem Vorsitzenden des WSNCH im Politbüro Anfangs 1923 gemacht worden ist, Rykow bewies, dass in den nächsten 10 Jahren die Putilowsche Fabrik nicht gebraucht werden würde, und dass eine künstliche Aufrechterhaltung dieses Betriebes sich ungünstig auf die anderen Betriebe auswirken würde. Das Politbüro – und mit ihm auch ich – nahm die Angaben, die Rykow darlegte, für bare Münze. Für die Schließung des Putilowschen Betriebes stimmten nach dem Vorschlage des Gen. Rykow nicht nur ich, sondern z. B. auch Stalin. Gen. Sinowjew befand sich im Urlaub. Er protestierte gegen den Beschluss. Die Frage wurde im Politbüro noch einmal durchgesehen und anders beschlossen. Somit war die Initiative dieser Sache ganz und gar in den Händen des Gen. Rykow, als dem Vorsitzenden des WSNCH. Wie musste sich das Gefühl der Schuldlosigkeit entwickelt haben, wenn sich Rykow nach 4 Jahren entschließen konnte, mir seine eigene „Sünde" zuzuschreiben? Wir wollen nicht daran zweifeln: diese Tatsache wird unweigerlich in einem neuen Gewande wieder auftauchen bei dem Vorknöpfen Rykows durch Stalin. Lange wird man darauf nicht zu warten brauchen. -

50. Die Partei wird durch die Erzählung, wie „Lenin den Gen. Trotzki nach der Ukraine als Narkomprod (Volkskommissar für Ernährung) schicken wollte", verwirrt. Dabei werden die Tatsachen so durcheinander gewürfelt und entstellt, dass sie nicht mehr erkenntlich sind. Dieser Art Fahrten auf Befehl des .ZK habe ich nicht wenige unternommen. Im vollen Einverständnis mit Lenin, begab ich mich nach der Ukraine zur Wiederherstellung der Kohlenindustrie im Donezgebiet. Im vollen Einverständnis mit Lenin arbeitete ich als Vorsitzender der Sowjet-Arbeitsarmee im Ural. Es ist vollkommen richtig, dass Lenin darauf bestand, dass ich mich auf 2 Wochen (auf 2 Wochen!) nach der Ukraine begebe, um die Sache der Ernährung zu heben. Ich telefonierte an den Gen. Rakowski, welcher mir erklärte, dass alle notwendigen Maßnahmen, die Arbeiterzentren mit Brot zu versorgen, schon ergriffen seien. Lenin bestand zunächst darauf, dass ich fuhr, ging aber nachher davon ab. Das war alles. Die Sache ging um eine praktische Kampfaufgabe, welche Lenin als die Wichtigste für den gegebenen Augenblick ansah.

51. Folgendes sagte Lenin auf dem VIII. Allrussischen Rätekongress am 22. Dezember 1920 bezüglich meiner Reise nach dem Donezgebiet:

Das Donezgebiet liefert uns bis zu 25 Mill. Pud Kohle im Monat, wir bringen es auf 50 Mill., dank der Arbeit der bevollmächtigten Kommission, die in das Donezgebiet unter der Leitung des Gen. Trotzki geschickt worden ist, und welche den Beschluss angenommen hat, verantwortliche und erfahrene Genossen dorthin zur Arbeit zu schicken. Jetzt ist der Genosse Pjatakow zur Leitung dorthin geschickt worden." (B. XVII, S. 422.)

Lenin gegen Stalins Intrigen

52. Übrigens ist der Gen. Pjatakow aus dem Donezbassin durch Stalins Arbeit hinter den Kulissen hinausgeekelt worden. Lenin hielt das für einen ernsten Schlag für die Kohlenindustrie, empörte sich im Politbüro und protestierte öffentlich gegen die desorganisatorischen Handlungen Stalins:

Dass wir nicht geringe Erfolge erzielten, das zeigte, besonders z. B. das Donezgebiet, wo mit außerordentlicher Hingabe und außerordentlichem Erfolge solche Genossen wie Pjatakow auf dem Gebiete der Großindustrie gearbeitet haben …" (B. XVIII, T. I. S. 443, Bericht Lenins auf dem IX. Rätekongress am 23. Dezember 1921).

„… In der zentralen Leitung der Steinkohlenindustrie befanden sich nicht nur zweifellos ergebene Leute, sondern auch Leute von wirklicher Bildung und großen Fähigkeiten, und ich irre mich nicht, wenn ich sage, Leute mit großem Talent, und darum richtet das ZK seine Aufmerksamkeit dorthin … Wir, das ZK, haben doch einige Erfahrung und beschlossen einstimmig, die leitenden Kreise dort nicht abzuberufen … Ich erkundigte mich bei den ukrainischen Genossen, und den Gen. Ordshonikidze bat ich besonders, – auch das ZK gab den Auftrag, – hinzufahren und nachzusehen, was da geschehen sei. Wie es scheint, waren dort Intrigen und ein Durcheinander, und das Geschichtsinstitut wird auch in 10 Jahren, wenn es sich damit befasst, nicht daraus klug werden. Aber faktisch ergab sich, dass entgegen den einstimmigen Direktiven des ZK diese Gruppe durch eine andere abgelöst worden ist. (Lenin, Bericht auf den XI. Kongress der RKP., am 27. März 1923, B. XVIII, T. 2, S. 50-51.)

Allen Mitgliedern des Politbüro – und allen voran Stalin, – ist es bekannt, dass diese harten Worte Lenins von den Intrigen gegen die treuen, gebildeten und talentierten Leiter des Donezbassins die Intrigen Stalins gegen den Gen. Pjatakow betreffen.

53. Während des IX. Sowjetkongresses im Dezember 1921 schrieb Lenin seine Thesen über die Grundaufgaben des wirtschaftlichen Aufbaus. Ich erinnere mich, dass ich die Thesen sehr gut fand, nur fehlte der Punkt über die Spezialisten. (In einigen Worten zeigte ich den Inhalt dieses Punktes auf.) Am gleichen Tage erhielt ich von Lenin folgenden Brief:

Äußerst geheim.

Genosse Trotzki!

Ich befinde mich auf einer Sitzung der Parteilosen mit Kalinin. Er rät zu einem kleinen Bericht auf Grund der Resolution, welche ich vorgeschlagen habe (und zu welcher Sie eine Ergänzung über die Spezialisten, eine vollkommen richtige, hinzugefügt haben).

Würden Sie nicht diesen kurzen Bericht über diese Resolution am Mittwoch auf dem Plenum des Kongresses übernehmen?

Ihr Kriegsbericht ist natürlich schon fertig, und Sie werden ihn Dienstag schon beenden.

Mir ist es unmöglich, einen zweiten Bericht auf dem Kongress zu übernehmen. Schreiben Sie ein paar Worte oder schicken Sie ein Telegramm: Es wäre am besten, wenn Sie zusagen. Telefonisch kann man es durch eine Abstimmung des Politbüro bestätigen lassen.

Lenin."

Die Solidarität in den Grundfragen des sozialistischen Aufbaus war so groß, dass Lenin es für möglich hielt, dass ich den Bericht über diese wichtigen Fragen statt seiner geben konnte.

Ich erinnere mich, dass ich ihn zu überreden versuchte, diesen so wichtigen Bericht selbst zu geben, wenn es sein Gesundheitszustand nur irgendwie erlaubte. Und letzten Endes wurde es auch so gemacht.

Weitere Briefe Lenins über das Außenhandelsmonopol

An den Gen. Trotzki, Kopie an Frumkin und Stomoniakow.

Genosse Trotzki,

erhielt Ihren Bescheid über Krestinskis Brief und die Pläne Awanessows. Ich denke, dass zwischen uns ein maximales Einverständnis herrscht, und ich denke, dass die Frage des Gosplans, sowie sie steht, einen Streit darüber, ob der Gosplan Verordnungsrechte besitzen soll, ausschließt (oder verschiebt).

In jedem Falle bitte ich Sie sehr, in der bevorstehenden Sitzung des Plenums unseren gemeinsamen Standpunkt über die unbedingte Notwendigkeit der Beibehaltung und der Festigung des Außenhandelsmonopols zu vertreten.

Da das vorige Plenum einen Beschluss in dieser Beziehung gefasst hat, der dem Monopol des Außenhandels absolut entgegengesetzt ist, und da wir in dieser Frage nicht zurückweichen dürfen, so denke ich, wie ich es auch in dem Brief an Frumkin und Stomoniakow sage, dass im Falle einer Niederlage in dieser Frage, wir diese Frage dem Parteikongress vorlegen müssen. Hierzu wird eine kurze Darstellung der Differenzen vor der Parteifraktion des bevorstehenden Sowjetkongresses nötig sein. Wenn ich es noch schaffe, schreibe ich eine solche, und ich würde sehr froh sein, wenn Sie das gleiche tun würden. Das Schwanken in dieser Frage fügt uns unerhörten Schaden zu, und die Gegenbeweise sind samt und sonders auf die Mängel des Apparates zurückzuführen. Aber der Apparat weist bei uns überall Mängel auf und wegen der Mängel des Apparates vom Monopol abzugehen, hieße das Kind mit dem Bade ausschütten.

Lenin.

13. Dezember 1922. Aufgeschrieben laut Telefon L. F.

An den Genossen Trotzki.

Genosse Trotzki,

schicke Ihnen den heute von Frumkin erhaltenen Brief. Ich denke auch, dass es notwendig ist, ein für allemal mit dieser Frage ein Ende zu machen. Wenn die Befürchtung existiert, dass mich diese Frage sehr erregt, und dass sogar meine Gesundheit darunter leidet, so ist das meiner Meinung nach sehr falsch, denn zehntausend Mal mehr regt mich die Verschiebung auf, die die Politik in einer der wichtigsten Fragen schwächt. Darum lenke ich Ihre Aufmerksamkeit auf den beigelegten Brief, und ich bitte Sie sehr, die sofortige Besprechung dieser Frage zu unterstützen. Ichbin überzeugt, dass wenn uns die Gefahr des Durchfallens droht, so ist es viel vorteilhafter vor dem Parteikongress durchzufallen, und sich sofort an die Fraktion des Kongresses zu wenden, als nach dem Kongress durchzufallen. Vielleicht ist ein solcher Kompromiss annehmbar, dass wir jetzt eine Bestätigung des Monopols annehmen, und auf dem Parteikongress die Frage dennoch aufstellen und uns darüber sofort besprechen. Irgendein anderes Kompromiss können wir im Interesse der Sache nicht annehmen.

Lenin.

15. Dezember 1922. Aufgeschrieben laut Telefon L. F.

Genosse Trotzki,

ich glaube, dass wir jetzt einig sind. Ich bitte Sie, im Plenum unsere Solidarität bekanntzugeben. Ich hoffe, dass unser Beschluss durchgeht, denn ein Teil derer, die im Oktober dagegen gestimmt haben, treten jetzt zum Teil oder auch ganz auf unsere Seite.

Wenn entgegen der Erwartung unser Beschluss nicht durchkommt, wenden wir uns an die Fraktion des Sowjetkongresses und geben von der Verschiebung der Frage bis zum Parteitag Kenntnis.

Benachrichtigen Sie mich dann, und ich schicke Ihnen die Erklärung.

Wenn diese Frage von der Tagesordnung des jetzigen Plenums abgesetzt sein sollte (was ich nicht erwarte, und wogegen Sie in unser beider Namen mit aller Kraft protestieren müssen), so müsste man sich, meiner Meinung nach, doch an die Fraktion des Sowjetkongresses wenden und verlangen, die Frage auf dem Parteikongress erneut zu stellen, denn weitere Schwankungen sind absolut unzulässig.

Alles Material, das ich Ihnen geschickt habe, kann bei Ihnen bis nach dem Plenum bleiben.

15. Dezember 1922.

Ihr Lenin.

Leo Dawidowitsch!

Professor Förster hat heute Wladimir Iljitsch erlaubt, einen Brief zu diktieren, und er hat mir folgenden Brief an Sie diktiert:

Genosse Trotzki!

Wie es scheint, ist es gelungen, die Position ohne einen Schuss durch eine einfache Manöverbewegung zu nehmen. Ich schlage vor, nicht stehen zu bleiben, sondern den Angriff fortzusetzen, und darum vorzuschlagen, auf dem Parteitage die Frage der Befestigung des Außenhandelsmonopols und der Maßnahmen zur besseren Durchführung des Monopols aufzuwerfen. Dieses ist der Fraktion des Sowjetkongresses mitzuteilen. Ich hoffe, dass Sie dem nichts entgegnen und nicht absagen, in der Fraktion den Bericht zu geben.

N. Lenin."

W. I. bittet ebenfalls, ihm die Antwort zu telefonieren.

21. Dezember 1922.

N. K. M. Uljanowa.

Der Inhalt wie der Ton der angeführten Briefe bedürfen keines Kommentars. In der Frage des Außenhandels nahm das ZK einen neuen Beschluss an, der den alten aufhob. Hierauf beziehen sich auch die scherzhaften Worte im Leninschen Brief über den Sieg, der „ohne einen einzigen Schuss" erstritten wurde.

Zum Schluss bleibt noch die Frage: wenn unter den für die Verletzung des Außenhandelsmonopols Stimmenden sich Trotzki befunden hätte, und Stalin, im Einverständnis mit Lenin, sich für die Aufhebung des Beschlusses eingesetzt hätte, was für eine Anzahl von Broschüren, Büchern, Schriften gedruckt worden wäre als Beweis der kulakischen und kleinbürgerlichen .Abweichung Trotzkis!

Aus der letzten Lebensperiode Lenins

54. Die Fälschungen und Märchen aus der letzten Zeit des Lebens Lenins waren besonders zahlreich. Während dem doch Stalin besonders vorsichtig sein müsste in Bezug auf diese Zeit, wo Lenin gegenüber Stalin schon einige Schlussfolgerungen gezogen hatte.

Es ist schwer, natürlich, die innere Geschichte des Politbüro unter Lenin darzulegen: Stenogramme gab es nicht und Protokolle enthielten nur Beschlüsse. Und darum ist es leicht, einzelne, sogar ganz nebensächliche Episoden herauszugreifen, sie zu verstümmeln oder aufzubauschen, oder ganz einfach, sich „Differenzen" auszudenken, auch da, wo von ihnen keine Spur vorhanden war.

Wirklich beschämend durch ihre Dummheit ist die Legende vom „Kuckuck", die noch nachträglich meinen „Pessimismus" zeigen soll. Der „Kuckuck" ist der letzte Beweis der Stalin-Bucharin, wenn die Beweise oder Ereignisse sie an die Wand drücken. Der „Kuckuck" ist aus meinem Gespräch mit Lenin in der ersten Zeit der NEP entlehnt worden. Das damals vor sich gehende Verplempern der wenigen staatlichen Ressourcen flößte mir nicht nur vom Standpunkt der Verschwendung der sowieso schon kargen Ressourcen des Arbeiterstaates, sondern auch vom Standpunkt des Aufhäufens von Privatkapital Besorgnis ein. Mit Lenin sprach ich davon nicht nur einmal. Um die im Lande vor sich gehenden wirtschaftlichen Prozesse zu übersehen, organisierte ich den sogenannten Moskauer Kombinierten Trust. In einem dieser Gespräche mit Lenin gebrauchte ich unter Hinweis auf einige besonders schreiende Beispiele von Verplemperungen ungefähr folgenden Satz: „Wenn wir so weiter wirtschaften, wird uns der Kuckuck nur wenige Jährchen aufzählen." Irgendetwas in dieser Art. Solche und ähnliche Phrasen hat jeder von uns mehr als einmal gebraucht. Wie viel Mal hat Lenin gesagt: „Wenn es so weiter geht, so gehen wir mit aller Wahrscheinlichkeit unter." Das war stark gesagt, aber eine „pessimistische" Prognose war das nicht. So ungefähr ist die Geschichte vom „Kuckuck", mit deren Prozenten die Stalin und Bucharin ihre Schulden in der chinesischen Revolution, im englisch-russischen Komitee, in der wirtschaftlichen Leitung und dem Parteiregime begleichen wollen.

Es versteht sich von selbst, dass praktische Meinungsverschiedenheiten im Politbüro mehr als einmal entstanden, auch mit Lenin. Die Frage ist die, welchen Platz nahmen diese Meinungsverschiedenheiten in der allgemeinen Arbeit ein. Und hier setzt die Stalinsche Fraktion mit äußerster Unvorsichtigkeit bösartige Legenden in die Welt, welche bei der ersten Berührung zerfallen und sich völlig gegen Stalin wenden.

55. Zur Widerlegung dieser Legenden muss man vor allem die Periode der Krankheit Lenins nehmen, genauer die Periode zwischen zwei Anfällen seiner Krankheit, als die Ärzte Lenin es erlaubten, sich mit den Sachen zu beschäftigen, und als viele wichtige Fragen schriftlich erledigt wurden. Aus diesem Schriftwechsel, das heißt aus unbestreitbaren Dokumenten, kann man ersehen, was für Streitfragen im ZK entstanden, was für Differenzen und mit wem Differenzen entstanden, auch das Verhältnis Lenins zu den einzelnen Genossen. Ich führe einige Beispiele an.

Das Außenhandelsmonopol

56. Ende 1922 entstanden im ZK wesentliche Meinungsverschiedenheiten in der Frage des Außenhandelsmonopols. Ich will nicht nachträglich diese Frage bedeutender darstellen als sie ist. Aber die politischen Gruppierungen, die sich in dieser Frage im ZK bildeten, waren immerhin charakteristisch genug!

Auf Initiative des Gen. Sokolnikow nahm das ZK einen Beschluss an, der eine ernste Bresche in das des Außenhandelsmonopols schlug. Lenin war entschieden gegen diese Verordnung. Als Lenin durch Krassin erfuhr, dass ich im Plenum des ZK nicht anwesend war, und dass ich mich gegen den Beschluss ausgesprochen habe, trat Lenin in einen Schriftwechsel mit mir. Diese Briefe sind bis jetzt nicht veröffentlicht worden, ebenso wie der Schriftwechsel Lenins mit dem Politbüro in der Frage des Außenhandelsmonopols. Man hat den Leninschen Nachlass unter eine äußerst strenge Zensur gestellt. Gedruckt werden zwei bis drei Worte, von Lenin auf ein Stückchen Papier geschrieben, wenn sie direkt oder indirekt die Opposition schlagen können. Nicht gedruckt werden Dokumente von großer prinzipieller Bedeutung, wenn sie direkt oder indirekt Stalin treffen.

Ich führe Lenins Briefe an, die diese Frage berühren:

Genosse Trotzki!

Schicke Ihnen einen Brief von Krestinski. Schreiben Sie schnell, ob Sie einverstanden sind. Ich werde im Plenum für das Monopol kämpfen. Und Sie?

Ihr Lenin.

P. S. Besser, schicken Sie es schnell zurück.

39

An die Genossen Frumkin und Stomoniakow.* Kopie an Trotzki.

Durch die Verschlechterung meines Gesundheitszustandes bin ich gezwungen, auf meine Anwesenheit im Plenum zu verzichten. Ich erkenne vollkommen, wie unbequem, ja mehr noch als unbequem mein Benehmen gegen euch ist, aber irgendwie mit Erfolg kann ich sowieso nicht auftreten.

Heute erhielt ich von Gen. Trotzki den beigelegten Brief, mit welchem ich im Wesentlichen einverstanden bin, mit Ausnahme vielleicht der letzten Zeilen über den Gosplan. Ich werde Trotzki über mein Einverständnis mit ihm schreiben und ihn bitten, die Verteidigung meiner Position im Plenum, da ich krank bin, zu übernehmen.

Ich denke, dass man diese Verteidigung in drei Teile teilen muss: erstens Verteidigung des Grundprinzips des Außenhandelsmonopols – ihre volle endgültige Bestätigung. Zweitens: Übergabe an eine besondere Kommission zur detailliertesten Besprechung der praktischen Pläne der Verwirklichung des Monopols, welche (Pläne) Awanessow einbringt; in dieser Kommission müssen zu gleicher Zahl Vertreter des Außenhandels sein. Drittens: die Frage über die Arbeit des Gosplan muss besonders bearbeitet werden, wobei ich meine, dass ich mit Trotzki wohl keine Differenzen haben werde, wenn er sich auf die Forderung beschränkt, dass die Arbeit des Gosplan, die unter dem Zeichen der Entwicklung der Staatsindustrie steht, alle Gebiete der Tätigkeit des Kommissariats des Außenhandels berührt.

Ich hoffe Ihnen noch heute oder morgen zu schreiben und Ihnen meine Erklärung zu dieser Frage im Plenum zu schicken. In jedem Falle denke ich, dass die prinzipielle Bedeutung dieser Frage so groß ist, dass ich in dem Falle, wenn im Plenum keine Einigkeit erzielt wird, die Frage bis zum Kongress werde verschieben müssen. Aber bis dahin ist eine Erklärung über ein gegenwärtiges Auseinandergehen in dieser Frage in der Fraktion der RKP des bevorstehenden Sowjetkongresses abzugeben.

Lenin"

12. Dezember 1922 registriert L. F.

Die Frage des Gosplans

57. Die Verschleuderung brachte ich in Verbindung mit der Planlosigkeit unserer Wirtschaft überhaupt. In der Frage der Leitung und der Rolle des Gosplans entstanden im Politbüro Streitigkeiten, darunter auch zwischen mir und Wladimir Iljitsch. Es gab auch Streitigkeiten über die Besetzung der Organe des Gosplans.

In einem Brief an die Mitglieder des Politbüros schrieb Lenin über die Frage des Gosplans folgendes:

Über das Abgeben von gesetzgebenden Funktionen an den Gosplan.

Diesen Gedanken warf Gen. Trotzki, wie es scheint, schon lange auf. Ich trat als Gegner dieses Gedankens auf, weil ich fand, dass es in diesem Falle im System unserer gesetzgebenden Behörden ein gründliches Durcheinander geben würde. Aber beim genaueren Hinschauen finde ich, dass im Grunde genommen, ein gesunder Gedanke darin liegt, und zwar: Der Gosplan steht etwas abseits von unseren gesetzgebenden Behörden, obgleich er, als Sammelpunkt von Fachleuten, Experten, Vertretern von Wissenschaft und Technik, im Grunde genommen, die besten Unterlagen zu einer richtigen Beurteilung der Sache besitzt…

In dieser Hinsicht, denke ich, kann und muss man dem Gen. Trotzki entgegenkommen, aber nicht in Bezug darauf, den Vorsitz im Gosplan entweder irgendeiner Persönlichkeit von den politischen Führern oder dem Vorsitzenden des Obersten Rates für Volkswirtschaft usw. zu geben. 27. Dezember 1922.)"

Hinweise auf diese Differenzen fanden wir auch weiter oben in den Briefen Lenins über die Frage des Außenhandelsmonopols. Damals schlug Lenin vor, diese Frage zu verschieben; er nannte diese Frage – nicht ganz genau – die Frage der Verordnungsrechte des Gosplans. Indem ich auf die weiteste Befestigung des Gosplans drängte, auf die Unterstellung der gesamten Planarbeit der Behörden unter den Gosplan, habe ich nicht vorgeschlagen, dem Gosplan administrative Rechte zu übertragen, da diese, meinem Dafürhalten nach, nach wie vor in den Händen des STO (Rat der Arbeit und Verteidigung) verbleiben müssen. Aber das ist im gegebenen Falle nicht das Wichtigste. Aus dem Charakter und dem Ton dieser Briefe ist zu ersehen, wie ruhig, wie rein sachlich Lenin die früheren Differenzen abwog, dem Politbüro vorschlagend, die Differenzen beizulegen, und zwar im Sinne einer sehr großen Annäherung an die Ansichten, die ich vertrat. Und wie viel ist in dieser Frage der Partei vorgelogen worden?

Briefe Lenins in der Frage der Nationalitäten

58. Den wichtigsten Brief Lenins gegen Stalin in der Nationalitätenfrage bringe ich hier nicht vor: Er ist im Stenogramm des Juliplenums 1926 abgedruckt, und es geht außerdem in einzelnen Abschriften von Hand zu Hand. Es geht folglich nicht, diesen Brief zu verbergen. Aber es gibt auch andere Dokumente über das gleiche Thema, die der Partei vollkommen unbekannt sind. Die Archivare und Historiker der Stalinschen Schule ergreifen und werden auch weiter alle Maßnahmen ergreifen, damit diese Dokumente überhaupt unter Verschluss bleiben. Sie sind auch fähig, mit diesen Dokumenten noch anders zu verfahren, d. h. sie einfach zu vernichten.

Darum halte ich es für notwendig, hier die wichtigsten Auszüge aus einem viel früheren Briefe Lenins und aus der Antwort Stalins in der Frage des Aufbaues der SSSR. zu bringen. Der Brief Lenins vom 27. September 1922 ist an Kamenew adressiert, die Kopie an alle Mitglieder des Politbüros geschickt. Hier ist der Anfang des Briefes:

Sie haben wahrscheinlich schon von Stalin die Resolution seiner Kommission über den Eintritt der unabhängigen Republiken in die RSFSR erhalten.

Wenn Sie sie noch nicht erhalten haben, so fordern Sie sie beim Sekretär und lesen Sie sie bitte sofort durch. Gestern habe ich mit Sokolnikow und heute mit Stalin darüber geredet. Morgen sehe ich Mdivani (grus. Kommunist, der „Unabhängigkeit" verdächtig.)

Meiner Meinung nach ist die Frage sehr wichtig. Stalin hat ein wenig das Bestreben, sich zu beeilen. Sie müssen gut darüber nachdenken. (Sie hatten einstmals die Absicht, sich damit zu befassen und haben sich damit etwas beschäftigt.) Sinowjew auch.

Eine Konzession ist Stalin schon bereit, zu machen. Im § 1 will er statt „Eintritt" in die RSFSR – „formelle Vereinigung mit der RSFSR in die Union der Sow. Republiken Europas und Asiens" sagen.

Der Sinn dieser Konzession ist, hoffe ich, klar: wir erkennen uns als gleichberechtigt mit der Ukr. SSR und den anderen, und zusammen und zu gleichen Rechten treten wir alle in die neue Union, in die neue Föderation, „Union der Sowjetrepubliken in Europa und Asien" ein. Weiter folgen eine ganze Reihe von Verbesserungen, die von dem gleichen Geist durchdrungen sind. Am Schluss des Leninschen Briefes heißt es:

Staun ist einverstanden, die Einbringung einer Resolution im Politbüro des ZK bis zu meiner Ankunft zu verschieben. Ich komme am Montag, dem 2. Oktober. Ich wünsche Sie und Rykow auf zwei Stunden am Morgen zu sehen, sagen wir um 1-2 Uhr, und nötigenfalls abends, sagen wir 5-7 oder 6-8 Uhr.

Das ist vorläufig mein Vorschlag. Auf Grund der Diskussionen mit Mdivani und anderen Genossen werde ich kämpfen und ändern. Ich bitte Sie sehr, es auch zu tun und mir zu antworten.

Ihr Lenin.

P. S. Die Kopien sind an alle Mitglieder des Politbüro zu verschicken."

Stalin verschickte seine Antwort an Lenin am gleichen Tage an die Mitglieder des Politbüros (27. September 1922). Ich führe aus dieser Antwort die zwei wichtigsten Stellen an: „2. Die Änderung Lenins im § 2 über die Schaffung eines WZIK der Föderation neben dem WZIK der RSFSR ist, meiner Meinung nach, nicht annehmbar: Das Bestehen zweier Zentral-Exekutiv-Komitees in Moskau, von denen offenbar die eine die ,untere Kammer' und die andere die ,obere' darstellen wird, wird nur Reibereien und Konflikte erzeugen." Und weiter:

4. Beim § 4 hat sich Genosse Lenin, meiner Meinung nach, ,beeilt', wenn er die Verschmelzung der Volkskommissariate der Finanz, der Versorgung, der Arbeit und der Volkswirtschaft mit den föderativen Volkskommissariaten verlangt. Man kann kaum daran zweifeln, dass diese ,Eile' den ,Unabhängigen' dienen wird, zum Nachteil des nationalen Liberalismus des Genossen Lenin.

5. Beim § 5 ist die Änderung Lenins, meiner Meinung nach, überflüssig.

I. Stalin."

Dieser sehr bezeichnende

Schriftwechsel, der vor der Partei verborgen gehalten wird,

wie so viele andere ähnliche Dokumente, ging dem berühmten Leninschen Brief über die Frage der Nationalitäten voraus. In seinen Bemerkungen zu dem Stalinschen Projekt ist Lenin in seinen Ausdrücken äußerst zurückhaltend und zart. Lenin hoffte zu dieser Zeit noch, die Frage ohne großen Konflikt beizulegen. Den Stalin beschuldigt er sehr zart der „Eile". Lenin setzt die Verdächtigung Mdivanis als „Unabhängigen" durch Stalin in Anführungszeichen und rückt entschieden von dieser Verdächtigung ab. Mehr noch! Lenin unterstreicht besonders, dass er seine Änderungen einträgt auf Grund der Diskussionen mit Mdivani und anderen Genossen.

Die Antwort Stalins dagegen unterscheidet sich durch Grobheit. Besondere Aufmerksamkeit lenkt auf sich der Schlusssatz des 4. Punktes:

Man kann kaum daran zweifeln, dass diese ,Eile' den Unabhängigen' (die Eile Lenins) zu Diensten sein wird, zum Nachteil des nationalen Liberalismus (!) des Genossen Lenin."

Und auf diese Weise ist Lenin in den Verdacht des nationalen Liberalismus gekommen!

Der weitere Gang des Kampfes dieser Nationalitätenfrage zeigte Lenin, dass man mit inneren, sozusagen mit Hausmitteln, auf Stalin nicht mehr einwirken und die Sache nicht verbessern konnte, sondern dass ein Appell an den Kongress und an die Partei nötig war. Zu diesem Zweck ist von Lenin in mehreren Absätzen der Brief über die Nationalitätenfrage geschrieben worden.

59. Lenin hielt die „georgische (grusische)" Frage für eine Frage von großer Bedeutung, – nicht nur, weil er die Folgen einer falschen nationalen Politik in Grusien befürchtete, – seine Befürchtungen haben sich als wahr erwiesen – sondern weil für ihn die ganze Falschheit des Stalinschen Kurses in der Nationalitätenfrage klar zutage trat, – und nicht nur in der Nationalitätenfrage. Der große prinzipielle Brief Lenins über die Nationalitätenfrage wird vor der heutigen Partei bis zum heutigen Tage verborgen gehalten. Die Begründung, dass Lenin diesen Brief nicht für die Partei bestimmt hat, ist durch und durch Lüge. Und die Bemerkungen in seinen Notizbüchern oder auf den Rändern der von ihm gelesenen Bücher? Hat Lenin sie für die Öffentlichkeit bestimmt? Alles, was direkt oder indirekt die Opposition schlägt, wird veröffentlicht. Der Programmbrief in der nationalen Frage jedoch wird versteckt gehalten.

Hier sind zwei Auszüge aus dem Leninschen Brief: „Ich denke, dass hier die Eile Stalins und seine Begeisterung für Administration eine schlimme Rolle gespielt hat und seine Wut gegen den „Sozial-Nationalismus". Die Wut spielt in der Politik für gewöhnlich die allerschlimmste Rolle". (Aus den Bemerkungen Lenins 30. Dezember 1922.) Das ist es!

Politisch verantwortlich für diese wirklich großrussisch-nationalistische Kampagne muss man, natürlich, die Genossen Stalin und Dsershinski machen." (Aus dem Brief Lenins 31. Dezember 1922.) Lenin schickte mir diesen Brief in dem Moment, als er fühlte, dass er wohl kaum auf dem XII. Kongress würde auftreten können. Hier sind die Schreiben, die ich von ihm im Laufe der zwei letzten Tage seiner Betätigung im politischen Leben erhalten habe:

Streng vertraulich. Persönlich.

Verehrter Gen. Trotzki.

Ich bitte Sie sehr, die Verteidigung der georgischen Sache im ZK der Partei auf sich zu nehmen. Diese Sache befindet sich jetzt unter der „Verfolgung" von Stalin und Dsershinski, und ich kann mich auf ihre Unparteilichkeit nicht verlassen. Ganz im Gegenteil sogar. Wenn Sie einverstanden sein würden, für diese Sache aufzutreten, so würde ich ruhig sein. Wenn Sie aus irgendeinem Grunde nicht einverstanden sein werden, so schicken Sie mir die ganze Sache zurück. Ich werde es dann als ein Zeichen Ihres Nichteinverständnisses ansehen.

Mit den besten genossenschaftlichen Grüßen Lenin.

Geschrieben M. W.

5. März 1923.

Richtig: M. Woloditschewa.

*

An den Gen. Trotzki!

Zu dem Brief, der Ihnen telefonisch übergeben worden ist, bittet Wladimir Iljitsch zu Ihrer Kenntnis hinzuzufügen, dass Gen. Kamenew am Mittwoch nach Georgien fährt, und Wl. II. lässt fragen, ob Sie nicht etwas von sich aus dorthin mitschicken wollen.

5. März 1923.

M. Woloditschewa.

An die Gen. Mdivani, Macharadze u. a.; Kopien an die Gen. Trotzki und Kamenew.

Werte Genossen!

Mit ganzer Seele verfolge ich Ihre Sache. Bin empört über die Grobheit Ordshonikidze und über die Nachsicht Stalins und Dsershinski. Bereite für Sie Notizen und Rede vor.

6. März 1923.

Mit Hochachtung Lenin.

*

An den Gen. Kamenew, Kopie Gen. Trotzki!

Leo Borissowitsch.

In Ergänzung zu unserem Telefongespräch melde ich Ihnen als dem Vorsitzenden des Politbüro folgendes:

Wie ich Ihnen schon berichtet habe, ist von Wladimir Iljitsch am 31. 12. 1922 ein Artikel über die Nationalitätenfrage diktiert worden.

Diese Frage hat ihn sehr aufgeregt, und er bereitete sich vor, auf dem Parteitage aufzutreten.

Kurz vor seiner letzten Erkrankung sagte er mir, dass er den Artikel veröffentlichten wird, aber später. Hierauf erkrankte er, ohne eine endgültige Verordnung zu erlassen.

Diesen Artikel betrachtete W. I. als maßgebend und von großer Bedeutung. Auf Befehl Wladimir Iljitsch wurde der Artikel dem Gen. Trotzki mitgeteilt, welchen W. I. beauftragte, seinen Standpunkt in dieser Frage auf dem Parteikongress klarzulegen, da sie hierin solidarisch gingen.

Das einzige Exemplar des Artikels, das ich habe, befindet sich auf Befehl von W. I. in seinem Geheimarchiv.

Dieses habe ich zu Ihrer Kenntnis zu bringen.

Früher konnte ich es nicht tun, denn erst heute bin ich nach einer Krankheit an die Arbeit gekommen.

16. April 1923.

Pers. Sekretär des Gen. Lenin: L. Fotijewa,

*

Nach all den Verleumdungen, mit denen man das Verhältnis Lenins zu mir zu beschmutzen versuchte, kann ich nicht umhin, auf die Unterschrift des ersten Briefes Lenins „mit den besten genossenschaftlichen Grüßen", hinzuweisen. Wer die Leninsche Kargheit an Worten und die Leninsche Art und Weise, zu sprechen und zu schreiben, kennt, der versteht, dass Lenin diese Worte nicht zufällig unter den Brief gesetzt hat. Nicht umsonst hat Stalin bei der erzwungenen Veröffentlichung dieses Schriftwechsels auf dem Juliplenum 1926 die Worte „mit den besten genossenschaftlichen Grüßen" durch die offiziellen Worte „mit kommunistischem Gruß" ersetzt. Auch hier ist Stalin sich treu geblieben.

60. Die oben angeführten Briefe Lenins in der Nationalitätenfrage bedürfen einer Erklärung. Lenin lag wie gesagt krank. Ich fühlte mich auch nicht wohl. Die Sekretäre Lenins, die Gen. Glässer und Fotijewa, kamen mehrere Male zu mir im Laufe des letzten Tages vor der entscheidenden Erkrankung Lenins. Als Fotijewa mir den sogenannten „nationalen" Brief Lenins brachte, schlug ich vor: „Kamenew fährt heute nach Georgien zum Parteitag; soll man ihm nicht den Brief zeigen, damit er dementsprechende Schritte machen könnte". Fotijewa antwortete: Ich weiß nicht, Wladimir Iljitsch hat mich nicht beauftragt, den Brief an den Gen. Kamenew zu übergeben, aber ich kann ihn fragen. Nach einigen Minuten kehrte sie mit den Worten zurück: „In keinem Falle. Wladimir Iljitsch sagt, dass Kamenew den Brief Stalin zeigen würde, und

Stalin geht auf ein faules Kompromiss ein und nachher betrügt er".

Jedoch nach einigen Minuten, vielleicht nach einer halben Stunde, kam Fotijewa von Lenin mit einer neuen Variation zurück. Nach ihren Worten, entschied sich Lenin, sofort zu handeln und schrieb den oben wiedergegebenen Brief an Mdivani und Macharadze mit den Kopien an Kamenew und mich.

Wodurch erklärt sich diese Änderung?" fragte ich Fotijewa.

Wahrscheinlich dadurch – antwortete sie –, dass er Wladimir Iljitsch schlechter geht, und er sich beeilt, alles zu tun, was er kann."

Stalin gegen Lenin

61. Der Vorschlag Lenins über die Reorganisation der Rabkrin (Arbeiter- und Bauerninspektion) wurde von der Gruppe Stalin äußerst unfreundlich empfangen. In einem der alten Briefe an die Mitglieder des ZK habe ich davon in sehr zurückgehaltenem Tone erzählt. Ich bringe diese Erzählung hier wieder:

Wie hat sich indessen das Politbüro zu der von Lenin vorgeschlagenen Reorganisation der Arbeiter- und Bauerninspektion verhalten? Gen. Bucharin konnte sich nicht entschließen, den Artikel Lenins zu drucken, während Lenin von seiner Seite auf sofortige Veröffentlichung bestand. N. K. Krupskaja benachrichtigte mich telefonisch von diesem Artikel und bat um meine Einmischung, damit der Artikel sobald als möglich gedruckt würde. In dem auf meinen Vorschlag zusammenberufenen Politbüro waren die Anwesenden, die Genossen Stalin, Molotow, Kuibyschew, Rykow, Kalinin. Bucharin, nicht nur gegen den Plan Lenins, sondern auch gegen den Druck des Artikels. Besonders scharf und kategorisch entgegneten die Mitglieder des Sekretariats. Auf die dringenden Forderungen Lenins, ihm den Artikel gedruckt vorzulegen, schlug der Gen. Kuibyschew, der Volkskommissar des Rabkrin auf dieser Sitzung des Politbüros, vor, eine spezielle Nummer der „Prawda" mit dem Artikel des Gen. Lenin in einem Exemplar zu drucken, um ihn zu beruhigen und den Artikel vor der Partei zu verbergen. Ich bewies, dass die von Gen. Lenin vorgeschlagene radikale Reform an sich fortschrittlich sei – natürlich unter der Bedingung ihrer richtigen Verwirklichung, – aber auch bei einem negativen Verhältnis zu dem Vorschlage Lenins, wäre es lächerlich und unsinnig, die Partei von seinen Vorschlägen nichts wissen zu lassen. Man antwortete mir im Geiste desselben Formalismus: „Wir sind das ZK, wir tragen die Verantwortung, wir entscheiden." Mich unterstützte nur der Genosse Kamenew, der mit einer Stunde Verspätung zur Sitzung kam. Das Hauptargument, das zum Druck des Artikels bewog, war der Grund, dass man einen Leninschen Artikel vor der Partei doch nicht verbergen könne. Späterhin ist der Brief in den Händen derjenigen, die ihn nicht drucken lassen wollten, zu einem Banner geworden – mit dem Versuch, ihn gegen mich … anzuwenden. Der Genosse Kuibyschew, ehemaliges Mitglied des Sekretariats, wurde an die Spitze der ZKK gestellt. Statt eines Kampfes gegen den Plan Lenins, wurde der Weg der „Schadlosmachung" gewählt. Hat damit die ZKK den Charakter einer unabhängigen, unparteiischen Parteiinstitution erhalten, den Boden des parteilichen Rechtes und der Einheit vor den parteilich-administrativen Überflüssigkeiten verteidigend und bestätigend, – diese Frage werde ich hier nicht behandeln, da doch, wie ich meine, diese klar genug ist." (Aus dem Brief an die Mitglieder des ZK und des ZKK. 23. Oktober 1923.)

Die Haltung Stalins zeigte mir zum ersten Mal in aller Klarheit, dass die Frage der Reorganisation des ZK und der ZKK von Lenin voll und ganz gegen das schon damals übergroße Übergewicht des Apparates und der Unloyalität Stalins gerichtet war. Daher auch der beharrliche Widerstand Stalins gegen den Plan Lenins.

Lenins letztes Gespräch mit Trotzki

62. Auf dem Präsidium der ZKK erzählte ich von meinem letzten Gespräch mit Lenin, das kurz vor dem letzten Anfall seiner Krankheit stattgefunden hat. Ich bringe das Gesagte hier wieder:

Lenin rief mich zu sich in den Kreml, sprach von dem furchtbaren Wachstum des Bürokratismus bei uns im Sowjetapparat und von der Notwendigkeit, einen Hebel zu finden, um richtig an diese Frage heranzutreten. Er schlug vor, eine spezielle Kommission beim ZK zu bilden, und lud mich zur aktiven Mitarbeit ein. Ich antwortete ihm: „Wladimir Iljitsch, nach meiner Überzeugung darf man bei dem Kampfe gegen den Bürokratismus des Sowjetapparates nicht vergessen, dass in den Orten und im Zentrum eine besondere Auswahl von Beamten und Spezialisten vor sich gehe. Parteimitglieder, Kandidaten, Parteilose gruppierten sich um die in der Partei führenden Gruppen und Personen im Gouvernement, in den Bezirken, im Zentrum, d. h. im ZK usw. Drückst Du auf einen Beamten, dann stößt Du auf ein führendes Parteimitglied, in dessen Gefolgschaft dieser Spez sich befindet, und bei der jetzigen Lage könnte ich eine solche Arbeit nicht auf mich nehmen." Wladimir Iljitsch dachte eine Minute nach und – hier gebe ich beinahe wörtlich seine Antwort wieder – sagte so: „Ich spreche also von dem Kampfe gegen den Sowjetbürokratismus und Sie schlagen vor, hierzu noch das Orgbüro des ZK zu nehmen?" Überrascht lachte ich auf, denn eine solche vollendete Formulierung hatte ich nicht im Kopfe. Ich antwortete: „Es mag wohl so sein". Daraufhin sagte Wladimir Iljitsch: „Nun – ich schlage einen Block vor." Ich sagte: „Mit einem guten Menschen einen Block zu schließen, ist sehr angenehm". Zum Schluss sagte Wladimir Iljitsch, dass er vorschlage, beim ZK eine Kommission zum Kampfe gegen den Bürokratismus „überhaupt" zu schaffen, und über diese Kommission hinaus werden wir auch an das Orgbüro des ZK herangehen. Er versprach, die organisatorische Seite noch zu überdenken". Darauf gingen wir auseinander. Darauf wartete ich zwei Wochen auf seinen Anruf, aber mit der Gesundheit Iljitschs ging es weiter bergab, bald musste er sich hinlegen. Später schickte mir Wladimir Iljitsch durch seine Sekretäre seine Briefe über die Nationalistenfrage, so dass diese Sache eine weitere Fortsetzung nicht hatte."

Dem Wesen nach war dieser Plan Lenins voll und ganz gegen Stalin gerichtet.

63. Ja, ich hatte Differenzen mit Lenin. Aber der Versuch Stalins, sich dabei auf diese Tatsache stützend, den allgemeinen Charakter unserer Beziehungen zu verdrehen, schlägt sich selbst voll und ganz mit den Tatsachen jener Periode, wo, wie schon gesagt, die Sachen nicht durch Diskussionen und Abstimmungen, die keine Spur hinterlassen, entschieden wurden, sondern auf dem Wege des Schriftwechsels, d. h. in der Zeit zwischen der ersten und zweiten Erkrankung Lenins.

Ich fasse zusammen:

a) In der Frage der Nationalitäten bereitete Lenin zum XII. Kongress einen entschiedenen Angriff gegen Stalin vor.

Seine Sekretäre sprachen davon zu mir in seinem Namen und in seinem Auftrage. Der am häufigsten sich wiederholende Ausdruck lautete: „Wladimir Iljitsch bereitet eine Bombe gegen Stalin vor".

b) In dem Artikel Lenins über die Arbeiter- und Bauerninspektion (Rabkrin) heißt es:

Das Narkomat des Rabkrin besitzt heute auch nicht den Schatten einer Autorität. Alle wissen, dass es eine schlechter aufgezogene Behörde als die Ämter unseres Rabkrin nicht gibt, und dass man unter den heutigen Bedingungen von diesem Narkomat nichts erwarten kann. Wozu denn wirklich ein Volkskommissariat bilden, wo die Arbeit irgendwie gemacht wird, die nicht das geringste Vertrauen zu sich einflößt und wo das Votum eine unendlich geringe Autorität besitzt …

Ich frage einen beliebigen der heutigen Leiter des Rabkrin oder eine der Personen, die mit ihm zu tun haben, kann er mir auf Ehre und Gewissen sagen – welch einen Nutzen haben wir in der Praxis von solch einem Volkskommissariat wie die Rabkrin? … (Lenin: Lieber weniger, aber besser". 4. März 1923.)

An der Spitze der Rabkrin stand im Laufe der ersten Revolutionsjahre Stalin. Der Leninsche Pfeil war auch hier ganz und gar gegen ihn gerichtet.

c) In demselben Artikel heißt es:

Den Bürokratismus findet man bei uns nicht nur in den Sowjet-, sondern auch in den Parteibehörden."

Diese Worte, auch ohnedies klar genug, erhalten einen besonders klaren Sinn in Verbindung mit dem oben angeführten letzten Gespräch mit Lenin, wo die Rede von einem „Block" gegen das Orgbüro des ZK als der Quelle des Bürokratismus war. Die bescheidene Bemerkung in Paranthese von Iljitsch war ganz gegen Stalin gerichtet.

d) Über das Testament" braucht man nichts zu sagen: es ist durchdrungen von einem Misstrauen gegen Stalin, gegen seine Grobheit und Unloyalität, es spricht von dem möglichen Missbrauch der Macht von seiner Seite und der hieraus folgenden Gefahr der Parteispaltung. Die einzige organisatorische Schlussfolgerung, die im „Testament" selbst von all den dort angeführten Charakteristiken gemacht ist, ist die: Stalin von dem Posten eines Generalsekretärs zu entheben.

Lenin bricht die genossenschaftlichen Beziehungen zu Stalin ab

e) Endlich der letzte Brief, den Lenin in seinem Leben geschrieben, richtiger diktiert, hat, -- der Brief Lenins an Stalin über den Abbruch aller genossenschaftlichen Beziehungen zu ihm. Von diesem Brief erzählte mir Gen. Kamenew in derselben Nacht, in der er geschrieben worden ist (vom 5. auf den 6. März 1923). Gen. Sinowjew erzählte von diesem Brief auf dem Vereinigten Plenum des ZK und der ZKK. Die Existenz dieses Briefes ist im Stenogramm durch das Zeugnis der M. I. Uljanowa bestätigt. („Dokumente über diesen Vorfall sind vorhanden". Aus der Erklärung der M. Uljanowa im Präsidium des Plenums.)

Die „Warnungen" aufzählend, die Lenin an Stalin machte, sagte Gen. Sinowjew auf dem Juliplenum 1926:

Und die dritte Warnung bestand darin, dass Anfang 1923 Wladimir Iljitsch in einem persönlichen Brief die genossenschaftlichen Beziehungen zum Gen. Stalin abbrach." (Stenogr. Bericht, Ausgabe IV. S. 32.)

Hierzu versuchte Uljanowa die Sache so darzustellen, dass der Abbruch der genossenschaftlichen Beziehungen, die Lenin an Stalin in seinem letzten Brief erklärte, nicht aus politischen, sondern aus persönlichen Gründen erfolgte. (Stenogr. Bericht, Ausgabe IV, S. 104.) Muss man hier noch daran erinnern, dass bei Lenin die persönlichen Motive immer aus politischen, revolutionären, parteilichen entstanden. „Grobheit" und „Unloyalität" sind auch persönliche Eigenschaften. Aber Lenin warnte die Partei vor ihnen, nicht aus „persönlichen", sondern aus Parteigründen. Genau solch einen Charakter trug auch der Brief Lenins über den Abbruch der genossenschaftlichen Beziehungen. Dieser letzte Brief ist nach den Briefen über die Nationalitätenfrage und nach dem Testament geschrieben worden. Vergeblich sind die Versuche, das moralische Gewicht des letzten Leninschen Briefes zu schwächen. Die Partei hat das Recht, auch diesen Brief zu kennen!

So war es in der Tat. So betrügt Stalin die Partei!

Die Diskussion der Jahre 1923-1927

64. Zu Lebzeiten Lenins, im besonderen zur Zeit der heute so aufgebauschten und verdrehten Diskussionen über Brest und die Gewerkschaften, existierte das Wort „Trotzkismus" überhaupt nicht.** Die Partei meinte, dass Differenzen sich auf dem Boden der historischen Grundlagen des Bolschewismus entwickelten. Die schlimmsten Gegner Lenins in der Brest-Litowskischen Frage waren: Bucharin, Jaroslawski, Kuibyschew, Solz, Safarow und ein Dutzend anderer alter Bolschewiken, die die Fraktion „Linker Kommunisten" bildeten. Sie würden mit Recht sehr erstaunt gewesen sein, wenn es damals jemand in den Sinn gekommen wäre, ihre Position mit „Trotzkismus" zu bezeichnen – um so mehr, als in allen Hauptfragen, die die Linken Kommunisten von Lenin schieden, ich auf Seiten Lenins war.

Dasselbe muss man auch von der Gewerkschaftsdiskussion sagen. Der administrative Überschwang ist aus der ganzen Praxis des Kriegskommunismus erwachsen und hat zahlreiche Kaders der alten Bolschewiken ergriffen. Wenn jemand in der Diskussion vom „Trotzkismus" geredet hätte, so wäre er einfach für verrückt gehalten worden. Das Schreckgespenst des „Trotzkismus" wurde erst dann hervorgeholt, als Lenin endgültig von der Arbeit zurückgetreten war, und zwar während der Diskussion des Jahres 1923. Gerade damals fing die „Kritik" der Theorie der permanenten Revolution an, zu dem Zweck, alle Differenzen, die aus der neuen Etappe der historischen Entwicklung entstanden, auf einen Faden zu reihen. Nicht deshalb wurde gegen Trotzki gekämpft, weil er eine neue Theorie des „Trotzkismus" vorbrachte; im Gegenteil, die Kritiker bauten kunstvoll die Theorie des „Trotzkismus" auf, um gegen Trotzki zu kämpfen. Einige von ihnen bekannten dieses, als sich die Gruppierungen änderten.

65. Über die Theorie der permanenten Revolution muss man ein anderes Mal besonders sprechen. An diese Frage, die längst von der Geschichte liquidiert ist, muss man historisch herantreten und nicht zum Zweck der Intrigen.

Hier genügt es zu sagen, dass bei der Theorie der permanenten Revolution zwei Seiten zu betrachten sind: eine starke und eine schwache. Die starke Seite bestand in der Klärung des nicht unwichtigen Umstandes, dass dank der internationalen Lage und der durch diese Lage bedingten inneren Gruppierung der Klassenkräfte die russische Revolution, die als eine bürgerliche angefangen hat, das Proletariat zur Diktatur früher führen kann, ehe die Arbeiterklasse Westeuropas die Macht erobert haben wird. Dieser Gedanke, den ich 1905 vertrat, erschien 1917 nicht nur den Menschewiken, sondern auch Dutzenden und Hunderten von Bolschewiken als die größte Ketzerei, insbesondere aber Stalin und Rykow.

Die schwache Seite der Theorie der permanenten Revolution bestand in der ungenügend klaren und konkreten Bestimmung der Entwicklungsetappen und insbesondere der Umgruppierungen der Klassen beim Übergang von der bürgerlichen Revolution zu der sozialistischen. Ich habe mehr als einmal gesagt, dass die Leninsche Darstellung viel konkreter war. Aber das bezieht sich nur auf die Leninsche Darstellung. Was die kritischen Schreibereien der Jahre 1923 bis 1927 gegen die Theorie der permanenten Revolution anbetrifft, so sind sie zu neun Zehntel unfruchtbare Scholastik, öfter noch eine freche Fabrikation von „Trotzkismus" – gegen Trotzki.

66. Ich denke nicht daran, die Diskussion 1923 jetzt zu analysieren. Der Streit, der damals anfing, dauert heute noch fort. Die Grundfragen des Streites waren:

a) die gegenseitigen Beziehungen von Stadt und Land (Schere, Disproportion; was droht in der nächsten Zeit der Smytschka [Zusammenschluss zwischen Stadt und Dorf], das Zurückbleiben der Industrie oder ihr Voraneilen?);

b) Rolle der Planwirtschaft vom Standpunkt des Kampfes der sozialistischen und kapitalistischen Tendenzen;

c) das Parteiregime;

d) die Probleme der internationalen revolutionären Strategie (Deutschland, Bulgarien, Estland).

Seit jener Zeit stehen die strittigen Fragen viel deutlicher vor uns und haben in einer Reihe von Dokumenten der Opposition einen vollendeten Ausdruck erhalten. Die Grundlinie jedoch, von der Opposition 1923 angedeutet, ist voll bestätigt.

In der Julideklaration 1926, von Kamenew und Sinowjew unterschrieben, heißt es:

Jetzt kann gar kein Zweifel mehr daran sein, dass der Kern der Opposition 1923 recht gehabt hat mit seiner Warnung vor dem drohenden Abweichen von der proletarischen Linie und vor dem drohenden Wachsen des Apparat-Regimes. Indessen werden Dutzende und Hunderte von Führern der Opposition 1923 bis zum heutigen Tage von der Parteiarbeit ferngehalten, darunter befinden sich alte Arbeiter-Bolschewiken, im Kampfe gestählt, fremd dem Karrierismus und dem Strebertum, ungeachtet der von ihnen gezeigten Disziplin und der Kraft des Durchhaltens."

Diese Erklärung allein genügt, um zu zeigen, wie wenig auf der Waage der Theorie das Gespenst des „Trotzkismus" wiegt, das geschaffen und unterhalten wird zur Betäubung der Partei.

Das, was man seit 1923 und besonders seit 1924 „Trotzkismus nennt, ist die richtige Anwendung des Marxismus an die neue Etappe in der Entwicklung der Oktoberrevolution und unserer Partei.

Einige Schlussfolgerungen

Das ist ein kleiner Teil von jenen Tatsachen, Zeugnissen und Zitaten, welche ich zur Widerlegung der von Stalin, Jaroslawski und Co. gefälschten Geschichte des letzten Jahrzehntes anführen könnte.

Hierbei muss man hinzufügen, dass die Fälschung sich absolut nicht auf dieses Jahrzehnt beschränkt, sondern sich auch auf die gesamte vorhergehende Geschichte der Partei verbreitet, indem sie in einen unaufhörlichen Kampf des Bolschewismus gegen den „Trotzkismus" umgewandelt wird. Auf diesem Gebiet fühlen sich die Fälscher besonders stark, denn die Ereignisse liegen verhältnismäßig weit zurück, und die Dokumente werden nach einer besonderen Auswahl gedruckt, wobei die Ansicht Lenins durch eine einseitige Auswahl von Zitaten gefälscht wird. Für dieses Mal jedoch werde ich die vorhergehende Periode meiner revolutionären Tätigkeit nicht berühren (1897 bis 1917), denn der Grund zu meinem jetzigen Brief an euch ist doch euer Fragebogen über meine Beteiligung an der Oktoberrevolution und über meine Begegnungen mit Lenin und mein Verhältnis zu ihm.

Was die zwanzig Jahre betrifft, die der Oktoberrevolution vorangehen, so beschränke ich mich auf einige Zeilen: Auf dem II. Kongress befand ich mich bei der Minderheit, aus welcher nachher der Menschewismus sich entwickelte. Ich blieb politisch und organisatorisch bei dieser Minderheit bis zum Herbst 1904, bis zur sogenannten „Landkampagne" der neuen „Iskra", als mein unversöhnliches Auseinandergehen mit dem Menschewismus in den Fragen des bürgerlichen Liberalismus und den Perspektiven der Revolution erfolgte. 1904, d. h. vor 23 Jahren, habe ich politisch und organisatorisch mit dem Menschewismus gebrochen. Ich habe mich niemals für einen Menschewisten gehalten und mich nie so genannt.

Auf dem Plenum der Exekutive der Komintern, am 9. Dezember 1926, sprach ich in Verbindung mit der Frage über den Trotzkismus folgendermaßen:

Ich glaube überhaupt nicht, dass die biographische Methode uns zur Entscheidung von prinzipiellen Fragen führen kann. Es ist unbestreitbar, dass ich in vielen Fragen Fehler gemacht habe, besonders während der Zeit meines Kampfes gegen den Bolschewismus. Aber hieraus kann doch kaum die Schlussfolgerung gezogen werden, dass man die politischen Fragen nicht nach ihrem Inhalt durchzusehen hat, sondern auf Grund der Biographie, denn dann müsste man von allen Delegierten ihre Biographien verlangen … Ich selbst kann mich auf einen Präzedenzfall beziehen. In Deutschland lebte und kämpfte ein Mensch, der sich Franz Mehring nannte, und welcher erst nach einem langen und energischen Kampfe gegen die Sozialdemokratie (bis zu den letzten Jahren nannten wir uns immer noch Sozialdemokraten) schon als ein genügend reifer Mensch in die Sozialdemokratische Partei eingetreten ist. Mehring hat zuerst die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie als ein Gegner – nicht als ein Lakai des Kapitalismus, sondern als ein ideeller Gegner – geschrieben, und erst nachher hat er sie in sein ausgezeichnetes Werk über die deutsche Sozialdemokratie umgearbeitet, schon als ihr treuer Freund. Von anderer Seite haben Kautsky und Bernstein nie offen gegen Marx gekämpft, und beide standen lange Zeit unter der Knute Friedrich Engels'. Bernstein war darüber hinaus noch als der literarische Sachwalter Engels bekannt. Nichtsdestoweniger ist Franz Mehring als Marxist, Kommunist gestorben und' beerdigt, während die beiden anderen – Kautsky und Bernstein – heute noch als reformistische Hunde leben. Das biographische Element ist natürlich wichtig; aber an und für sich entscheidend es nichts."

Wie ich schon einmal erklärt habe, ist in meinen Differenzen mit dem Bolschewismus in einer Reihe von prinzipiellen Fragen das Unrecht auf meiner Seite. Aber, um in wenigen Worten wenigstens ungefähr den Inhalt und den Umfang dieser meiner gewesenen Differenzen mit dem Bolschewismus aufzuzeigen, muss ich hier folgendes sagen:

In jenen Zeiten, als ich nicht Mitglied der bolschew. Partei war, in jenen Zeiten, als meine Differenzen mit dem Bolschewismus ihre größte Schärfe erreichten, – war doch niemals der Abstand, der mich von den Ansichten Lenins trennte, so groß, wie der Abstand, welcher die jetzige Position der StaIin-Bucharin von den Grundlagen des Marxismus-Leninismus selbst trennt.

Jede neue Etappe der. Entwicklung der Partei und der Revolution, jedes neue Buch, jede neue moderne Theorie riefen neuen Zickzack und neue Fehler Bucharins hervor. Seine ganze theoretische und politische Biographie ist eine Reihe von Fehlern in dem formellen Rahmen des Bolschewismus. Die Fehler Bucharins nach dem Tode Lenins übersteigen weit – in ihrem Schwung und besonders in ihren politischen Folgen – seine früheren Fehler. Der Scholastiker, der den Marxismus verwüstet, der ihn in ein Spiel von Begriffen verwandelt, nicht selten in eine Sophistik von Worten, erscheint als der besttauglichste „Theoretiker" der Periode des politischen Abweichens der Parteileitung von den proletarischen Schienen auf kleinbürgerliche. Ohne Sophistik kann man das nicht machen. Hieraus folgt die heutige „theoretische" Rolle Bucharins.

In all den – sehr wenigen – Fragen, wo Stalin versuchte eine selbständige Position einzunehmen oder einfach, ohne die unmittelbare Leitung Lenins, seine eigene Antwort auf wichtige Fragen zu geben, nahm er immer und unabänderlich eine opportunistische Position ein.

Den Kampf Lenins gegen den Menschewismus, Wperodstwo und „Kompromisslerei" erklärte Stalin in einem Brief aus dem Exil als einen emigrantischen „Sturm im Glase Wasser". (Siehe „Sarja Wostoka", 23. XII. 1925.)

Irgendwelche politischen Dokumente über den Gedankengang Stalins bis 1917 existieren, soviel ich weiß, nicht, wenn man die mehr oder weniger richtigen, aber rein lehrlingshaften Artikel in der nationalen Frage nicht zählt.

Die selbständige Position Stalins (bis zur Ankunft Lenins) war zu Anfang der Februarrevolution durch und durch opportunistisch.

Die selbständige Position Stalins bezüglich der deutschen Revolution 1923 ist ganz durchdrungen vom Chwostismus und von Kompromisslerei.

Die selbständige Position Stalins in den Fragen der chinesischen Revolution stellt eine schlechtere Ausgabe der Martynowschen Theorie 1903-1905 dar.

Die selbständige Position Stalins in den Fragen der englischen Arbeiterbewegung ist eine zentristische Kapitulation vor dem Menschewismus,.

Man kann die Zitate durcheinander würfeln. Man kann seine eigenen Stenogramme verbergen. Man kann die Verbreitung der Briefe und Artikel Lenins verbieten. Man kann falsch ausgewählte Bände von Zitaten fabrizieren. Man kann historische Dokumente verbieten, verstecken, verbrennen. Man kann die Zensur auch auf photographische und kinematographische Aufzeichnungen ausbreiten. Das wird auch alles von Stalin gemacht. Aber die Resultate entsprechen nicht seinen Erwartungen. Die ganze Beschränktheit Stalins gehört dazu, um zu glauben, dass man durch solche elende kanzleiartige Machinationen die gigantischen Ereignisse der neuesten Geschichte zu vergessen zwingen kann.

1918 war Stalin gezwungen bei den ersten Schritten seines Kampfes gegen, mich, wie wir schon wissen, folgende Worte zu schreiben:

Die gesamte Arbeit der praktischen Organisierung des Aufstandes ging unter der unmittelbaren Leitung des Vorsitzenden des Petrograder Sowjets, Trotzkis, vor sich. Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass der rasche Übertritt der Garnison auf die Seite der Sowjets und die geschickte Organisierung der Arbeit des revolutionären Kriegskomitees die Partei vor allem und hauptsächlich dem Gen. Trotzki zu danken hat". (Stalin, „Prawda", 6. November 1918.) Bei voller Verantwortung für meine Worte bin ich gezwungen, heute zu sagen: die Partei ist für die harte Niederlage des chinesischen Proletariats und der chinesischen Revolution in ihren drei wichtigsten Etappen, für die Verstärkung der Position der trade-unionistischen Agenten des britischen Imperialismus nach dem Generalstreik 1926, und endlich für die allgemeine Schwächung der Position der Komintern und der SSR vor allem und hauptsächlich Stalin zu „Dank" verpflichtet.

21. Oktober 1927.

L. Trotzki.

1 Da die Linke Opposition keine legalen Publikationsmöglichkeiten mehr hatte, versuchte sie eine illegale Druckerei zu organisieren. Dabei gerieten sie an einen Provokateur des sowjetischen Geheimdienstes, der in russischen Bürgerkrieg Offizier der konterrevolutionären Wrangel-Armee gewesen war. Das nahm die Stalin-Fraktion zum Vorwand, die Opposition der Zusammenarbeit mit einem Wrangel-Offizier zu beschuldigen.

2 Russ.: sabegat wperjod i predupreshdat rasnoglassjia ne sleduet.

* Nichtmitglieder des ZK, mit denen Lenin eine „Verschwörung" gegen die Mehrheit des ZK eingegangen ist.

** Hier kann man auf die Tatsache hinweisen, dass Stalin mir eindringlich vorschlug, auf dem XII. Kongress den politischen Bericht des Zentr.-Kom. zu übernehmen. Das geschah im Einverständnis mit dem Vorsitzenden des Politbüros, Kamenew, bei energischer Unterstützung Kalinins und anderer.

Ich schlug ab, auf die bestehenden Meinungsverschiedenheiten in den wirtschaftlichen Fragen insbesondere, hinweisend.

Was sind da für Differenzen – entgegnete Kalinin – in den meisten Fällen werden Ihre Vorschläge angenommen."

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