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Leo Trotzki 19280103 Brief an Genossen

Leo Trotzki: Brief an Genossen

[Nach Fahne des Kommunismus, 3. Jahrgang Nr. 2, 11. Januar 1929]

Liebe Genossen,

Die Genossen Sinowjew und Kamenew und deren nächste Freunde beginnen nach einer längeren Pause wieder mit der Legende von dem „Trotzkismus". Während der letzten zwei Jahre gingen sie mit uns. mit uns gemeinsam haben sie die wichtigsten Dokumente der Opposition ausgearbeitet, darunter auch die Plattform. Damals gab es keinen „Trotzkismus". Als sich aber im Kampfe um die Durchführung der Linie der Opposition unter dem Ansturm der Weltreaktion und dem Angriff im Lande Schwierigkeiten ergaben, da kehrten die Genossen Sinowjew und Kamenew zu dem Schreckgespenst „Trotzkismus" zurück. Aus diesem Anlass möchte ich einige Tatsachen feststellen.

1. Als die sogenannte „literarische Diskussion" (im Jahre 1924) entbrannte, haben sich einige unserer Gruppe nahestehende Genossen dahin geäußert, dass die Veröffentlichung der „Lehren des Oktober" ein taktischer Fehler gewesen sei, da sie der damaligen Mehrheit des Pol Büro die Möglichkeit gab, die „literarische Diskussion" zu entfesseln. Ich meinerseits behaupte, dass die „literarische Diskussion" auf jeden Fall gekommen wäre, aus dem einen oder dem anderen Grunde. Der Kern der „literarischen Diskussion" bestand darin, aus der gesamten Geschichte der Partei so viel Tatsachen und Zitate wie nur möglich gegen mich herauszusuchen und – unter Verletzung der Perspektiven und der historischen Wahrheit – sie der uninformierten Parteimasse zu unterbreiten. Mit den „Lehren des Oktober" stand die „literarische Diskussion" in gar keinem Zusammenhang. Jedes meiner Bücher und jede meiner Reden hätte einen Anlass dazu bieten können, in der Partei mit der Hetze gegen den „Trotzkismus" zu beginnen. Das waren meine Erwiderungen an jene Genossen, die dazu neigten, in der Veröffentlichung der „Lehren des Oktober" einen taktischen Fehler zu erblicken.

Nachdem unser Block mit der Leningrader Gruppe zustande gekommen war, stellte ich in einer Aussprache mit dem Genossen Sinowjew ungefähr folgende Frage:

Sagen Sie, bitte, wenn ich die „Lehren des Oktober" nicht veröffentlicht hätte, würde die sogenannte „literarische Diskussion" gegen den „Trotzkismus" trotzdem stattgefunden haben oder nicht?"

Ohne zu schwanken, antwortete Sinowjew. Selbstverständlich waren die „Lehren des Oktober" nur ein Vorwand. sonst wäre der Anlass ein anderer, die Formen der Diskussion wären etwas andere geworden, nichts weiter."

2. In der Julideklaration, von Sinowjew und Kamenew unterschrieben, steht: „Es kann jetzt keinen Zweifel darüber geben, dass, wie es die Entwicklung der jetzt führenden Fraktion bewiesen hat. die Opposition von 1923 vor den Gefahren des Verlassens der proletarischen Linie, vor dem bedrohlichen Wachstum des Apparatregimes zu Recht gewarnt hat. Und doch hält man Dutzende und Hunderte Führer der Opposition von 1923 darunter viele Arbeiter, alte Bolschewiki, die der Kampf gestählt hat und denen Karrierismus und Kriechertum fremd sind, trotz aller Disziplin, die sie üben, von jeglicher Parteiarbeit fern."

3. Auf dem vereinigten Plenum des ZK und des ZKK vom 14. bis 23. Juli 1923 sagte Sinowjew „Ich habe viele Fehler gemacht. Aber zwei Fehler bereue ich als meine wichtigsten. Mein erster Fehler von 1917 ist allen bekannt …“ … „Den zweiten Fehler halte ich für gefährlicher, denn der erste war unter Lenin begangen und von Lenin wie auch mit seiner Hilfe nach wenigen Tagen von uns gemacht woden, aber mein Fehler von 1923 bestand darin …“

Ordschonikidse: Dass Sie der Partei etwas weismachen wollten?"

Sinowjew: „Wir sagen: es können jetzt keine Zweifel darüber bestehen, dass der Kern der Opposition von 1923, wie die Entwicklung der führenden Fraktion es erwiesen hat, zu Recht vor der Gefahr des Verlassens der proletarischen Linie und vor dem bedrohlichen Anwachsen des Apparatregimes gewarnt hat … In der Frage des Hinabrutschens und in der Frage des Bürokratismus hat der „Trotzkismus" gegen euch Recht behalten." (Stenogr. IV. B. S. 33.)

Auf diese Weise hatte Sinowjew seinen Irrtum von 1923 im Kampfe gegen Trotzki zugegeben, den er sogar als gefährlicher kennzeichnete als den von 1917.

4. Dieses Geständnis des Genossen Sinowjew hat bei vielen Leningrader Oppositionellen, die aufrichtig an die Legende von dem „Trotzkismus" geglaubt hatten, Erstaunen hervorgerufen. Genosse Sinowjew hatte mir wiederholt gesagt:

In Leningrad haben wir das tiefer als anderswo den Genossen ins Bewusstsein eingehämmert, dort ist es deshalb am schwierigsten, umzulernen."

Kurz vor der Abreise des Genossen Laschewitsch zur Ost-Chinesischen Eisenbahn (an das genaue Datum erinnere ich mich nicht) kamen zwei Oppositionsmitglieder aus Leningrad nach Moskau, um auf die Gruppe von 1923 in der Frage des „Trotzkismus" einen Druck auszuüben. Sie wiederholten alle die stehende Redensart von der ..Permanenten Revolution", der nicht genügenden Bewertung des Bauerntums usw.

Genosse Sinowjew bat mich, zusammen mit den anderen führenden Genossen der Gruppe 1923, an einer Aussprache teilzunehmen, die in der Wohnung des Gen. Kamenew stattfinden sollte. Die Diskussion nahm einen ziemlich heftigen Charakter an, hauptsächlich zwischen Sinowjew und Laschewitsch einerseits und der aus Leningrad angekommenen Genossen andererseits.

Ich erinnere mich ganz genau der Worte, die Laschewitsch den Leningradern entgegen schrie:

Stellt die Sache nicht auf den Kopf. Den „Trotzkismus" haben wir zusammen mit euch im Kampfe gegen Trotzki erfunden. Wie wollt ihr das nicht einsehen. Ihr helft nur Stalin! usw."

Genosse Sinowjew sagte:

Man muss doch erkennen, was war. Es war ein Kampf um die Macht. Die Kunst bestand darin, die alten Meinungsverschiedenheiten mit den neuen Fragen zu verknüpfen. Dazu wurde der „Trotzkismus" erfunden …"

Auf uns, Mitglieder der Gruppe 1923, hat diese Unterhaltung einen großen Eindruck gemacht, wenn wir auch die Mechanik des Kampfes gegen „Trotzkismus" schon früher erkannt hatten. Auf dem Rückwege tauschten wir unsere Eindrücke aus und wiederholten die krassesten Äußerungen von Laschewitsch und Sinowjew. Außerdem berichtete ich noch am selben Tage über die Aussprache einigen nahestehenden Genossen, die an der Diskussion nicht teilgenommen hatten. Deshalb sind mir manche Formulierungen von Sinowjew und Laschewitsch so gut im Gedächtnis haften geblieben.

Da die Genossen Kamenew und Sinowjew jetzt wiederum versuchen, dieselbe „Kunst" anzuwenden, das heißt alte Meinungsverschiedenheiten mit ganz neuen Fragen der Kapitulation zu verknüpfen, so bitte ich, ihr möget euch erinnern, ob ihr an einer solchen Diskussion teilgenommen habt, welche Äußerungen euch in Erinnerung sind, was ich oder ein anderer Teilnehmer dieser Verhandlungen euch über die Äußerungen von Laschewitsch und Sinowjew berichtet haben. Die genaue Feststellung dieser Tatsachen hat jetzt eine große politische Bedeutung und kann nötig sein, um ein Fazit über die „Lehren des Dezember" (1927) zu ziehen.

Mit kommunistischem Gruß

L. Trotzki.

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