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Leo Trotzki 19280400 Dritter Brief an Preobraschenski

Leo Trotzki: Dritter Brief an Preobraschenski

[Nach Leo Trotzki: China, Band 2, Berlin 1975, S. 28-32]

Lieber E. A.,

Gestern erhielt ich Ihren Luftpostbrief. So sind nun alle Briefe angekommen. Der letzte Brief brauchte 16 Tage, d. h. 6 Tage weniger als die gewöhnliche Post. Vor zwei Tagen schickte ich Ihnen einen ausführlichen Brief über Ihren Einwand in Bezug auf die chinesische Revolution. Als ich aber heute morgen aufwachte, erinnerte ich mich daran, dass ich (offensichtlich) versäumt habe, das Argument zu beantworten, dass Ihnen – wie mir scheint – am wichtigsten ist. Sie schreiben:

Ihr fundamentaler Irrtum liegt darin, dass Sie den Charakter einer Revolution auf Grund davon entscheiden, wer sie macht, welche Klasse, d. h. durch das tatsächliche Subjekt, während Sie dem objektiven sozialen Inhalt des Vorgangs eine zweitrangige Bedeutung zu geben scheinen."

Dann führen Sie als Beispiele die Novemberrevolution in Deutschland, die Revolution von 1789 in Frankreich und die künftige chinesische Revolution an.

Dies Argument ist im Wesentlichen nur eine „soziologische" Verallgemeinerung (um die Terminologie Johnsons zu benutzen) aller unserer konkreten ökonomischen und historischen Ansichten. Aber ich möchte auch auf Ihre Ansichten in ihrer verallgemeinerten soziologischen Formulierung antworten, denn dadurch wird der „fundamentale Irrtum" (von Ihnen, nicht von mir) am deutlichsten.

Wie charakterisiert man eine Revolution? Durch die Klasse, die sie vollzieht, oder durch den sozialen Inhalt, den sie besitzt ? Es liegt eine theoretische Falle darin, diese beiden Dinge einander in so allgemeiner Form gegenüber zu stellen. Natürlich war die jakobinische Periode der Französischen Revolution die Zeit der kleinbürgerlichen Diktatur, wobei die Kleinbourgeoisie außerdem – in vollständiger Harmonie mit ihrem „soziologischen Wesen“ – der Großbourgeoisie den Weg bahnte. Die Novemberrevolution in Deutschland war der Anfang der proletarischen Revolution, aber sie wurde bei den ersten Schritten durch die kleinbürgerliche Führung aufgehalten, und konnte nur ein paar Dinge erreichen, die von der bürgerlichen Revolution nicht erfüllt worden waren. Wie sollen wir die Novemberrevolution nennen – bürgerlich oder proletarisch? Beides wäre nicht richtig. Der Platz der Oktoberrevolution wird bestimmt, wenn wir sowohl die Mechanik dieser Revolution angeben, als auch ihre Ergebnisse bestimmen. In diesem Fall wird es keinen Widerspruch zwischen der Mechanik (worunter man natürlich nicht nur die treibende Kraft sondern auch die Führung verstehen muss) und den Ergebnissen geben: beide haben einen „soziologisch" unbestimmten Charakter. Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen die Frage zu stellen: Als was würden Sie die ungarische Revolution von 1919 bezeichnen? Sie werden sagen: als proletarisch. Warum? Stellte sich der soziale „Inhalt" der ungarischen Revolution nicht als kapitalistisch heraus? Sie werden antworten: Das ist der soziale Inhalt der Konterrevolution. Richtig. Wenden Sie das nun auf China an. Der „soziale Inhalt" kann unter der Diktatur des Proletariats (gestützt auf ein Bündnis mit der Bauernschaft) eine gewisse Zeit lang noch nicht sozialistisch sein, aber der Weg von der Diktatur des Proletariats zur bürgerlichen Entwicklung kann nur über die Konterrevolution führen. Aus diesem Grund ist es, was den sozialen Inhalt betrifft, notwendig zu sagen: „Wir werden es noch sehen.“

Der Kern der Sache liegt gerade in der Tatsache, dass der politische Mechanismus der Revolution – obgleich er letzen Endes von einer ökonomischen Basis abhängt (nicht nur national , sondern international), – dennoch nicht mit abstrakter Logik von der ökonomischen Basis abgeleitet werden kann. Erstens ist die Basis selbst sehr widersprüchlich und ihre „Reife" lässt keine platte, statistische Bestimmung zu; zweitens muss man die ökonomische, Basis wie auch die politische Situation nicht im nationalen, sondern im internationalen Rahmen betrachten, indem man die dialektische Aktion und Reaktion zwischen der nationalen und internationalen Lage in Betracht zieht; drittens haben der Klassenkampf und sein politischer Ausdruck, der sich auf wirtschaftlicher Grundlage entwickelt, ihre eigene gebieterische Logik der Entwicklung, die man nicht überspringen kann. Als Lenin im April 1917 sagte, dass nur die Diktatur des Proletariats Russland vor Verfall und Untergang retten könne, wies Suchanow (der hartnäckigste Gegner) dies mit zwei Hauptargumenten zurück: (1) der gesellschaftliche Inhalt der bürgerlichen Revolution ist noch nicht erfüllt worden; (2) Russland ist ökonomisch noch nicht reif für eine sozialistische Revolution. Und wie lautete Lenins Antwort? Ob Russland gereift ist oder nicht, ist etwas, was „wir in Zukunft sehen werden"; man kann das nicht statistisch entscheiden; es wird durch den Lauf der Ereignisse entschieden werden und außerdem nur auf internationaler Ebene. Aber, sagte Lenin, unabhängig davon, wie der soziale Inhalt schließlich bestimmt werden wird, gibt es augenblicklich, heute, keinen anderen Weg zur Rettung des Landes – vor Hungersnot, Krieg und Versklavung – außer durch die Machtergreifung durch das Proletariat.

Genau dasselbe müssen wir heute in Bezug auf China sagen. Zuallererst, es ist nicht richtig darauf anzuspielen, dass die Agrarrevolution den Hauptinhalt des gegenwärtigen historischen Kampfes darstellt. Worin muss diese Agrarrevolution bestehen? In der allgemeinen Aufteilung des Landes? Aber es hat bereits mehrere derartige allgemeine Verteilungen in der chinesischen Geschichte gegeben. Und danach kehrte die Entwicklung stets in „ihre eigene Bahn" zurück. Die Agrarrevolution bedeutet die Vernichtung der chinesischen Grundbesitzer und der chinesischen Funktionäre. Aber die nationale Einigung Chinas und seine wirtschaftliche Souveränität erfordern seine Befreiung vom Weltimperialismus, für den China das wichtigste Sicherheitsventil gegen den Zusammenbruch des europäischen und morgen auch des amerikanischen Kapitalismus ist. Die Agrarrevolution ohne eine nationale Einigung Chinas und ohne Zollautonomie (im Wesentlichen: Außenhandelsmonopol) würde keinerlei Ausweg und keinerlei Perspektiven für China eröffnen. Das ist es, was schon im Voraus den ungeheuren Schwung und die schreckliche Schärfe des Kampfes bestimmt, der China bevorsteht – heute, nach der Erfahrung, die alle Beteiligten bereits gemacht haben. Was sollte ein chinesischer Kommunist unter derartigen Bedingungen zu sich selbst sagen? Kann er wirklich folgendermaßen argumentieren: Der gesellschaftliche Inhalt der chinesischen Revolution kann nur bürgerlich sein (wie durch die und die Tabelle bewiesen wird). Daher dürfen wir uns nicht die Aufgabe der Diktatur des Proletariats stellen; der gesellschaftliche Inhalt schreibt allerhöchstens eine Koalitions-Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft vor. Aber für eine Koalition ( hier geht es natürlich um eine politische Koalition, und nicht um ein „soziologisches Bündnis“ von Klassen), braucht man einen Partner. Moskau lehrte mich, dass die Kuomintang solch ein Partner ist. Aber es ist keine Linke Kuomintang aufgetaucht. Was tun? Offensichtlich bleibt mir, einem chinesischen Kommunisten, nichts anderes übrig, als mich mit dem Gedanken zu trösten, dass „man heute nicht sagen kann, ob die chinesische Kleinbourgeoisie im Stande sein wird, irgendwelche Parteien zu schaffen" … oder nicht. Angenommen, sie tut es plötzlich?

Ein chinesischer Kommunist der nach derartigen Vorschriften argumentiert, würde der chinesischen Revolution zu Kehle durchschneiden.

Am allerwenigsten geht es natürlich darum, die Kommunistische Partei Chinas zusammenzurufen, für einen sofortigen Aufstand zur Eroberung der Macht. Das Tempo hängt vollkommen von den Umständen ab. Die Aufgabe liegt darin, dafür zu sorgen, dass die Kommunistische Partei durch und durch von der Überzeugung durchdrungen ist, dass die dritte chinesische Revolution nur durch die Diktatur, des Proletariats unter der Führung der Kommunistischen Partei zu einem siegreichen Abschluss gelangen kann. Außerdem darf man diese Führung nicht „allgemein" verstehen, sondern im Sinn eines direkten Strebens nach der revolutionären Macht. Und was das Tempo betrifft, in dem wir den Sozialismus in China aufbauen werden müssen, so – „werden wir das in Zukunft sehen".

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