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Leo Trotzki 19280302 Erster Brief an Preobraschenski

Leo Trotzki: Erster Brief an Preobraschenski

[Nach Leo Trotzki: China, Band 2, Berlin 1975, S. 9-13]

Die „Prawda" veröffentlicht in mehreren Fortsetzungen einen langen Artikel mit dem Titel: „Die Bedeutung und die Lehren des Kanton-Aufstandes. „Dieser Artikel ist wirklich bemerkenswert, sowohl wegen der unschätzbaren, echten Information aus erster Hand, die er enthält, wie auch wegen seiner klaren Darstellung von Widersprüchen und Verwirrung prinzipieller Art.

Der Artikel beginnt mit einer Beurteilung des gesellschaftlichen Wesens der Revolution selbst. Wie wir alle wissen, handelt es sich um eine bürgerlich-demokratische, eine Arbeiter- und Bauernrevolution. Gestern noch sollte sie sich unter dem Banner der Kuomintang entfalten – heute entfaltet sie sich gegen die Kuomintang.

Aber nach der Einschätzung des Autors bleibt der Charakter der Revolution und sogar die gesamte offizielle Politik, bürgerlich-demokratisch. Jetzt kommen wir zu dem Kapitel, das sich mit der Politik der Sowjetmacht beschäftigt. Hier finden wir die Feststellung, dass „der Kanton-Sowjet im Interesse der Arbeiter Dekrete herausgab, … die Kontrolle der Arbeiter über die Produktion schufen und zwar an Hand von Fabrikkomitees (und) … die Nationalisierung der Großindustrie, des Transportwesens und der Banken durchführten'.'

Weiterhin werden folgende Maßnahmen aufgezählt: „Die Beschlagnahmung aller Wohnungen der Großbourgeoisie zur Nutzung durch Arbeiter.“

Also waren die Arbeiter in Kanton durch ihre Sowjets an der Macht. Tatsächlich befand sich die gesamte Macht in Händen der Kommunistischen Partei, d.h. der Partei des Proletariats. Das Programm sah nicht nur die Beschlagnahmung aller in China noch vorhandenen feudalen Besitzungen vor; nicht nur die Kontrolle der Arbeiter über die Produktion, sondern auch die Nationalisierung der Großindustrie, der Banken und des Transportwesens, die Beschlagnahmung der Wohnungen der Bourgeois und all ihrem Besitz zum Gebrauch durch die Werktätigen. Hier erhebt sich die Frage: wenn das die Methoden einer bürgerlichen Revolution sind, wie sollte dann die sozialistische Revolution in China aussehen? Welche andere Klasse könnte den Umsturz herbeiführen und mit welchen anderen Maßnahmen? Wir stellen fest, dass – bei einer wirklichen Entwicklung der Revolution – die Formel einer bürgerlich-demokratischen, einer Arbeiter- und Bauernrevolution in Bezug auf das heutige China in seinem heutigen Entwicklungsstadium sich als hohle Fiktion, als Bagatelle erwiesen hat. Diejenigen, die vor dem Kanton-Aufstand auf dieser Formel bestanden, und vor allem die, die jetzt, nach diesem Aufstand, noch auf ihr bestehen, wiederholen (unter anderen Voraussetzungen) den prinzipiellen Fehler, den Sinowjew, Kamenew, Rykow und die übrigen im Jahr 1917 begingen. Dagegen könnte man einwenden, dass die Agrarrevolution in China bisher noch nicht gemacht worden ist! Richtig. Aber auch in unserem eigenen Land wurde sie nicht vor der Errichtung der Diktatur des Proletariats gemacht. In unserem Land war es nicht die bürgerlich-demokratische, sondern die proletarisch-sozialistische Revolution, die die Agrarrevolution vollbrachte, die zudem noch weit tiefgreifender war, als das in China möglich ist, angesichts der historischen Bedingungen des chinesischen Systems des Landbesitzes. Man kann sagen, dass China bisher noch nicht reif ist für die sozialistische Revolution. Das wäre aber eine abstrakte und leblose Fragestellung. War den Russland für sich genommen reif für den Sozialismus?

Russland war reif für die Diktatur des Proletariats als der einzigen Möglichkeit, die Probleme des Landes zu lösen; was aber die sozialistische Entwicklung angeht, so ist diese, da sie von den wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen des Landes ausgeht, unlöslich mit der gesamten künftigen Entwicklung der Weltrevolution verbunden.. Das gilt allgemein und daher auch für China im Besonderen. Wenn das vor acht oder zehn Monaten eine Voraussage war (eine recht verspätete zudem), so handelt es sich heute um eine unabweisbare Folgerung aus der Erfahrung des Kanton-Aufstandes. Es wäre falsch zu behaupten, dass der Kanton-Aufstand von Anfang bis Ende nichts als ein Abenteuer war, und dass die tatsächlichen Klassenbeziehungen sich in ihm verzerrt widerspiegeln.

Erstens betrachtet der Autor des erwähnten Artikels den Kanton-Aufstand keineswegs als ein Abenteuer, sondern als ein vollkommen gesetzmäßiges Stadium in der Entwicklung der chinesischen Revolution. Die allgemeine offizielle Ansicht ist folgende: Die Beurteilung der Revolution als bürgerlich-demokratisch soll mit Billigung des Aktionsprogramms der Kantonregierung kombiniert werden. Aber selbst wenn man der Kanton-Aufstand für einen Putsch hält, kann man nicht zu dem Schluss kommen, dass die Formel der bürgerlich-demokratischen Revolution anwendbar ist. Der Aufstand war offensichtlich unzeitgemäß. Er war es. Aber die Klassenkräfte und Programme, die ihnen unvermeidlich entstammen, wurden durch den Aufstand in all ihrer Gesetzmäßigkeit aufgedeckt. Der beste Beweis hierfür ist, dass es möglich und notwendig war, im Voraus das Kräfteverhältnis zu erkennen, das durch den Kanton-Aufstand bloßgelegt wurde. Und das wurde vorhergesehen.

Diese Frage hängt aufs Engste mit der ausschlaggebenden Frage der Kuomintang zusammen. Zufällig berichtet der Autor des Artikels mit scheinbarer Befriedigung, dass eine der Kampflosungen des Kanton-Aufstandes der Ruf war: „Nieder mit der Kuomintang!“ Die Fahnen und Zeichen der Kuomintang wurden heruntergerissen und zertreten. Aber erst kürzlich, sogar noch nach dem „Verrat" Tschiang Kai-scheks, und nach dem „Verrat" Wang Jingweis haben wir feierliche Schwüre gehört, dass „wir das Banner der Kuomintang nicht ausliefern werden!" Oh diese kläglichen Revolutionäre! …

Die Arbeiter von Kanton ächteten die Kuomintang-Partei, indem sie alle ihre Tendenzen für illegal erklärten. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass nicht nur die Groß- sondern auch die Kleinbourgeoisie keine Kraft zur Lösung der grundlegenden nationalen Aufgaben aufbringen konnte, die die Partei des Proletariats in den Stand gesetzt hätte, zusammen mit ihr die Aufgaben der „bürgerlich-demokratischen Revolution" zu lösen. Aber „wir" übersehen die viele Millionen zählende Bauernschaft und die Agrarrevolution.… Ein erbärmlicher Einwand… Denn der Schlüssel zur gesamten Lage liegt eben gerade in der Tatsache, dass dem Proletariat die Aufgabe zufällt, die Bauernbewegung zu erobern, d. h. direkt der Kommunistischen Partei; und diese Aufgabe kann tatsächlich nicht anders gelöst werden, als sie von den Kantoner Arbeitern gelöst wurde, nämlich durch die Diktatur des Proletariats, deren Methoden gleich von Anfang an unausweichlich in sozialistische Methoden hinüber wachsen. Umgekehrt, das allgemeine Schicksal dieser Methoden, wie auch das der Diktatur in ihrer Gesamtheit, wird letzten Endes durch den Verlauf der Weltentwicklung bestimmt, was eine richtige Politik von Seiten der proletarischen Diktatur selbstverständlich nicht ausschließt, sondern ganz im Gegenteil; eine Politik, die in der Stärkung und Entwicklung des Bündnisses zwischen Arbeitern und Bauern besteht, und in einer umfassenden Anpassung an die nationalen Verhältnisse einerseits, und den Lauf der Weltentwicklung andererseits. Wenn man nach der Erfahrung des Kanton-Aufstandes mit der Formel der bürgerlich-demokratischen Revolution spielt, dann geht man gegen den chinesischen Oktober, denn, ohne eine richtige allgemeine politische Orientierung können revolutionäre Erhebungen nicht erfolgreich sein, ganz gleich wie heroisch und selbstaufopfernd sie auch sein mögen.

Sicherlich, die chinesische Revolution ist in „ein neues und höheres Stadium übergegangen" – aber das trifft nicht in dem Sinn zu, dass sie schon morgen oder übermorgen ;einen großen Aufschwung nehmen wird, sondern in dem Sinn, dass sie die Hohlheit der Losung der bürgerlich-demokratischen Revolution aufgedeckt hat. Engels sagte, dass eine Partei, die einen günstigen Augenblick verpasst und infolgedessen eine Niederlage erleidet, - zu einer Null wird. Die Niederlage der chinesischen Revolution ist um nichts geringer als die Niederlage in Deutschland von 1923. Natürlich müssen wir den Hinweis auf die „Null“ vernünftig auffassen. Vieles spricht dafür, dass die nächste Periode in China eine Periode der revolutionären Ebbe sein wird, ein langsamer Lernprozess aus den Lehren der grausamsten Niederlagen, und folglich die Schwächung des direkten Einflusses der Kommunistischen Partei. Daraus ergibt sich für diese die Notwendigkeit, in allen prinzipiellen und taktischen Fragen tiefgreifende Schlussfolgerungen zu ziehen. Und das ist ohne eine offene und umfassende Diskussion der verhängnisvollen Fehler, die bisher gemacht wurden, unmöglich. Natürlich darf diese Aktivität nicht zur Selbstisolierung führen. Man muss die Hand fest am Puls der Arbeiterklasse halten, um keinen Fehler in der Einschätzung der Geschwindigkeit zu begehen, und nicht nur das Aufkommen einer neuen Welle festzustellen, sondern sich auch rechtzeitig darauf vorzubereiten.

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