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Leo Trotzki 19280909 Über den VI. Weltkongress

Leo Trotzki: Über den VI. Weltkongress

[Nach Die Aktion, 18. Jahrgang, Heft 10-12 (Mitte Dezember 1928) Spalte 202-207]

Alma-Ata, 9. September 1928.

Werter Genosse! Sie bitten mich um meine Meinung über den VI. Kongress der „Kommunistischen Internationale". Ich habe bis jetzt weder den endgültigen Text des Programms, noch die Resolutionen des Kongresses außer der taktischen Resolution nach dem Bericht von Bucharin, den ich gestern erhalten habe. Die Resolutionsentwürfe wurden, wie bekannt, nicht gedruckt, um den „Abseitsstehenden" nicht die Gelegenheit zu geben, sie mit dem endgültigen Text zu vergleichen. Darum klang ein bedeutender Teil der Reden den Lesern wie „ein Hinweis aus etwas, wovon niemand was wusste". Ein endgültiges Urteil kann man erst nach Erhalt aller Beschlüsse abgeben. Jetzt begnüge ich mich mit vorläufigen Bemerkungen.

1. Der Kongress versucht eine neue Linie in Angriff zu nehmen, ohne die alte zu beenden, Und beide Linien stießen sich mechanisch aneinander. In vielen Fragen erhalten opportunistisch revisionistische Ausgangspunkte bald opportunistische, bald ultralinke Schlussfolgerungen. Der Kongress verfärbte sich sogar im Laufe des Monats seiner Sitzungen, verfärbte sich wohl eher nach „links". Die stärksten opportunistischen Auslegungen über die Stabilisierung sind im ersten Berichte Bucharins gegeben. Aber schon ganz am Ende der Thesen nach seinem Bericht sind die Worte über „die Möglichkeit von schroffen historischen Wendungen" hinzugefügt, die Wort für Wort aus unseren Dokumenten entnommen wurden, aber gar nicht motiviert sind durch eine Charakterisierung der imperialistischen Epoche.

Ungeachtet des Zustroms von neuen kolonialen und überhaupt überseeischen Elementen, ungeachtet der frischen Strömungen, die in den Reden und Vorschlägen vieler Delegierten zum Vorschein kamen, war der allgemeine Geist der Leitung des Kongresses und seiner Beschlüsse der Geist des Eklektizismus und des Epigonentums.

2. Wenn auch, wie gesagt, der endgültige Text des Programms noch nicht vorliegt, so ist doch schon klar, dass die Sache weiter als bis zur Deckung der nacktesten Teile nicht gediehen ist.

Das Programm ist die Besiegelung des Eklektizismus und wird darum die Quelle der verschiedensten opportunistischen, revisionistischen und ultralinken Geschwüre sein. Das Programm, wie auch die Beschlüsse des Kongresses überhaupt eröffnen eine Periode der stärksten Differenzierung innerhalb der Komintern.

3. Der Kongress beschäftigte sich während der ganzen Zeit seiner Arbeit mit der Opposition. Der Kongress stand unter dem Zeichen der Verteidigung – der Verteidigung gegen uns. Daher die besondere Note der Unsicherheit. Er sicherte sich in jeder Frage durch Klausulierungen. Wer da wollte, nahm die These, wer da nicht wollte, bediente sich der Klausulierung. In jedem Falle nahm die Opposition eine der wichtigsten „Sektoren" im Sitzungssaale ein, obgleich dort unserer Vertreter anscheinend nicht vorhanden waren. Nur in der Frage des Programms sprach scharf in unserem Sinne der Vertreter Indonesiens, Alfonso. (Prawda Nr. 191.)

4. Die Frage der Stabilisierung wurde in den verschiedenen Momenten des Kongresses verschieden beurteilt, wiederum unter dem Einfluss unserer Stellung zu dieser Frage. Für Europa und Amerika ist die Stabilisierung in eine „organische" und nicht in eine „zufällige" gedreht worden (Bucharin). Außer dieser unsinnigen Gegenüberstellung können leicht Schlussfolgerungen gezogen werden, die mit der ganzen leninistischen Bewertung der imperialistischen Epoche brechen. (Siehe das 2. Kapitel meiner Kritik des Programms.) Zu gleicher Zeit „dauert für China die Revolution weiter". Wer da meint, dass China nach den Niederlagen eine ziemlich andauernde zwischenrevolutionäre Periode durchmacht, der ist ein Liquidator,

5. Für die Periode der „organischen Stabilisierung" ist kein Programm der Übergangsforderungen gegeben außer der Losung Kampf dem Kriege.

6. Die Lösung des „Kampfes gegen den Krieg" ist isoliert, mechanisch, auf Bucharinsche Art gestellt, und den Parteien ist vorgeschlagen, in diesem Kampf „ihre ganze Kraft zu konzentrieren". Als ob es einen anderen Kampf gegen den Krieg gebe außer einen richtigen revolutionären Kampf gegen die Bourgeoisie und ihren Staat.

Genau so ist von Bucharin die Frage des Kampfes gegen Sozialdemokratie gestellt worden. „Wir haben schon vieles gelernt, aber gegen die Sozialdemokratie zu kämpfen, haben wir noch nicht gelernt," Als ob der Kampf gegen die Sozialdemokratie eine bessere „Kunst" wäre, unabhängig von der richtigen revolutionären Linie.

7. Wenn aber das Programm der Übergangsforderungen nicht gegeben ist, so ist der Kampf um die Macht in die weiteste Ferne gerückt worden. Als eine der wichtigsten Aufgaben der europäischen kommunistischen Sektionen ist der … Kampf für die chinesische Revolution bezeichnet worden. Aber in China ist jetzt keine Revolution, sondern da gibt es eine Konterrevolution. Wann in China die Revolution wieder auflebt – ist unbekannt. Die Perspektive auf die Revolution in Europa selbst ist praktisch ganz gestrichen.

8. Einen ganz beschämenden Charakter trug der Bericht Kuusinens über die kolonialen und halbkolonialen Länder. Der Ärmste hat einfach den Menschewismus in unverdautem Zustande wieder von sich gegeben. Martynow hatte das Vergnügen, sich selbst so zu hören, wie er vor zwanzig Jahren war. Der Umstand, dass der Kongress den Kuusinen nicht mit einem schmutzigen Besen von der Tribüne gefegt hat, ist an und für sich bedrohlich.

9. Die Frage der „Bauern" und „Arbeiter- und „Bauern"-Parteien blieb offen. Die Bauerninternationale wagte man nicht anzurühren. Es erhoben sich Stimmen für die Schaffung von Bauern- und Arbeiterparteien und Bauernparteien unter Hinzuziehung der kommunistischen Parteien, Die Entgegnungen trugen keinen prinzipiellen, sondern einen feig-begrenzten Charakter, Ob diese Frage irgendeine Widerspiegelung in den Resolutionen gefunden hat, weiß ich noch nicht. Indessen ist diese Frage eine Frage des Lebens und Sterbens der kolonialen Kommunistischen Parteien, ja der gesamten Komintern,

10. Die Losung der „demokratischen Arbeiter- und Bauerndiktatur" ist endgültig in eine überhistorische Abstraktion verwandelt worden für 4/5 der Menschheit (Asien, Afrika, Südamerika …), Die Debatten auf dem Kongress, sogar in den gereinigten, geglätteten, übermalten Berichten der „Prawda" zeugen unzweifelhaft davon, dass „die demokratische Diktatur des Proletariats und des Bauerntums" den Weg der Kuomintang in allen möglichen historischen Variationen bedeutet,

11. Ich halte es für notwendig, hier auf dieses Thema die wahrhaft erfrischenden Worte Martynows zu bringen.

Nach der Meinung Bucharins stehen wir in Indien am Vorabend der Umwandlung der bürgerlich-demokratischen Revolution in eine sozialistische. Aber das ist doch dasselbe, was Radek von China gesagt hat. Wo bleibt denn der Kampf gegen den Imperialismus, der Kampf für die nationale Befreiung, die Etappe der antiimperialistischen Diktatur der Arbeiter und Bauern? Sie entschwinden."

Der Kampf gegen den Imperialismus „entschwindet", wenn er unter der Diktatur des Proletariats geführt wird. So ist bei uns die Agrarrevolution „verschwunden", die erst nach der Oktoberumwälzung gemacht wurde.

12. Die „Antiimperialistische Liga" ist geblieben als eine Über-Kuomintang, als eine Arena, auf welcher Abenteurer und Karrieristen der kolonialen und imperialistischen Länder ihre Reputation auffrischen werden auf Konto der unterdrückten Völker und des Proletariats, Es genügt zu sagen, dass ein Vertreter dieser Maskerade-Parlamentsliga einer der englischen Halbpurcells, Maxton ist, für welchen unsere „TASS" Reklame macht, wie seinerzeit für Purcell.

13. Da die chinesische Revolution einfach als eine „fortlaufende" erklärt wurde, so befreite dies die Führer von der Pflicht, der KP Chinas ein Aktionsprogramm für diese stolypinsche Tschiang Kai-Schek-Periode, in der China sich jetzt befindet, zu geben. Nicht aufgestellt worden sind die notwendigsten Übergangslosungen: Expropriierung des Bodens der „Gutsbesitzer", Achtstundentag, Liquidierung der ungleichen Verträge. Der Kampf für diese Losungen, auch im Parlament – wenn das Parlament verwirklicht wird – muss beim ersten Aufflammen der Revolution zur Schaffung von Sowjets führen und zum Kampfe für die Diktatur des Proletariats, hinter dem die Dorf- und Stadtarmut steht. Währenddessen „überspringen" unsere Helden der Strategie die jetzige reaktionäre Periode in der Entwicklung Chinas und versuchen alle Löcher mit dem Universalmittel der demokratischen Diktatur zu stopfen, die für China eine anerkannte kuomintangsche Bedeutung trägt. Der Bericht Manuilskis ist nur durch die Persönlichkeit des Berichterstatters bemerkenswert.

Die Sache ist weit genug gediehen, wenn man diesen Harlekin, den niemand ernst nimmt – am wenigsten seine Auftraggeber – als den Generalstaatsanwalt, als Hüter der marxistischen Doktrin und der bolschewistischen Lehren, auf die Bühne stellt. Hier ist der Kampf gegen die Opposition auf das Niveau einer Anekdotensammlung aus dem nationalen und anderen Leben gebracht worden. Ein unvorsichtiger Schritt.

Die Gruppierung, welche den Manuilski als Träger ihrer Ideen hinstellt, bezeugt, dass sie bis zur letzten Grenze gekommen ist.

14. Der Bericht Vargas ist eine vorsichtig abwägende Servierung von Material unter dem Gesichtswinkel des „Sozialismus in einem Lande", aber so, dass er die volle Verantwortung für diese Theorie nicht tragen muss. Varga ist theoretisch zu sehr geschult, um nicht die ganze Unhaltbarkeit der Theorie des „Sozialismus in einem Lande" zu verstehen.

Als ich im Frühjahr 1926 in Berlin war, hat mir Varga in Gegenwart von Lalenski und Krestinski folgendes wörtlich gesagt:

Es versteht sich, dass diese Theorie falsch ist, aber sie gibt dem russischen Arbeiter eine Perspektive und unterstützt seinen Geist. Wenn der russische Arbeiter so weit in seiner Entwicklung wäre, um sich an der internationalen Perspektive zu begeistern, so brauchten wir nicht die Theorie des „Sozialismus in einem Lande". „Mit einem Worte eine Pastorenlüge", aber es ist die Rettung."

In der Komintern ist Varga der theoretische Polonius (aus Hamlet). Er ist bereit, theoretisch zu beweisen, dass die Wolken am Horizont einem Kamele ähneln, übrigens auch einem Fisch, und wenn es dem Prinzen gefällig ist, so auch dem „Sozialismus in einem Lande" und überhaupt wem und was du willst. Die Komintern besitzt schon ein ganzes Korps solcher Poloninusse aller Art,

15. Die Thesen konstatieren „eine Bolschewisierung und innere Konsolidierung" der Parteien in der Komintern und „die Bewältigung des inneren Kampfes" Währenddessen bringt der Kongress, selbst wenn man ihn nur durch das Nadelöhr der redaktionellen Zensur sehen kann, ein Bild von ganz anderem Charakter. Ein heftiger stiller Kampf ging auf der ganzen Linie vor sich. Fraktionelle Gruppierungen größeren und kleineren Stils, zeigten sich auch auf dem Kongress in den Delegationen Deutschlands, Englands, Polens, der Vereinigten Staaten, Rumäniens, Jugoslawiens usw. Die Delegation der USSR bildete natürlich keine Ausnahme, im Gegenteil, sie brachte die Spaltung auch in die anderen Parteien. In unzähligen Reden ertönten Klagen über den „harten fraktionellen Kampf", der nicht gerechtfertigt war durch große politische Meinungsverschiedenheiten.

16. Aber keiner gab sich die Mühe, die Frage zu stellen, warum der „fraktionelle Kampf" die „innerlich konsolidierte Komintern" zerfrisst? Die Antwort ist jedoch klar. Die heutige Komintern stützt sich auf einen Block der rechten-zentristischen, oder gerade heraus gesagt, der opportunistischen Fraktion. Die Lage in der USSR. und des Regimes der Komintern halten die Meinungsverschiedenheiten dieser Gruppierungen in einem entwickelteren Sinne zurück, währenddessen machte der Klassenkampf den Block, der nach verschiedenen Seiten strebt, unertragbar. Hieraus folgt der harte fraktionelle Kampf bei Abwesenheit „wichtiger politischer Meinungsverschiedenheiten".

17. Auf dem Kongress wurde mehr als einmal von dem Zusammenwachsen der Sozialdemokratie mit den kapitalistischen Staaten gesprochen. Unzweifelhaft wird die sozialdemokratische und gewerkschaftliche Bürokratie, durch die Lage der kleinbürgerlichen Schichten zwischen der imperialistischen Bourgeoisie und dem Proletariat gezwungen, in allen kritischen Momenten, bei allen wichtigen Fragen die direkte Verantwortung für den bürgerlichen Staat auf sich zu nehmen. Aber hiermit selbst bereitet die sozialdemokratische Bürokratie den Platz für eine neue kleinbürgerliche Schicht vor.

Diesen Platz nimmt zum Teil die linke Sozialdemokratie ein. Zum größten Teil der rechte Flügel der Komintern. In China und in England hat sich dieses in klassisch vollendeter Form gezeigt. Aber die gleichen Tendenzen sind auch in den anderen Ländern vorhanden. Die Grundlage dazu ist die WKP.

In den linkszentristischen Gruppierungen der Komintern sehen wir öfters ein verzerrtes Bild der proletarischen Tendenz, welche unter dem jetzigen Regime und bei der mechanischen Vernichtung der Opposition keinen legalen Ausdruck findet.

Die Differenzierung der proletarischen und kleinbürgerlichen Tendenzen in den Komintern ist absolut unausbleiblich, und sie steht uns bevor.

18, Hiermit verbunden sind die Thesen über „Überwindung der trotzkistischen Opposition". Es war schon weiter oben gesagt, dass der ganze Kongress unter dem Zeichen der Verteidigung gegen uns stand. Wir haben schon den ideellen Angriff auf der ganzen Linie der internationalen Front aufgenommen. Nur hoffnungslose Dummköpfe können denken (und heuchlerische Bürokraten es bestätigen), dass die Resolutionen des 6. Kongresses, die die Beschlüsse des 15. Kongresses der WKP bestätigen, das „Ende der Opposition" bedeuten. Nein, bis zum Ende ist es noch weit. Die Opposition steht erst im Anfang.

19. Die Resolution macht den elenden Versuch, uns die Gruppe der Suhler Abenteurer zu unterschieben, welche mit verwirrten Arbeitern zusammen von der Opposition zur Sozialdemokratie übergetreten sind. Ich werde hier nicht auseinandersetzen, dass die Schuld dafür, dass manchmal gute revolutionäre Arbeiter in alle möglichen Sackgassen hinein gejagt werden, von wo sie mit eigenen Kräften den Ausweg nicht finden können, ganz an der Leitung der Komintern liegt. Es versteht sich, dass die Schuld indirekt auch uns trifft: Wir haben es bis jetzt nicht verstanden, genügend klar, entschieden und konkret unsere Ansichten, angepasst an die Lage jedes einzelnen Landes, darzulegen. Aber klar ist eines: dafür, dass eine gewisse Gruppe, die für eine kurze Zeit zu uns und unseren ehemaligen Blockverbündeten (Sinowjew u. Co.) gekommen waren, zu den Sozialdemokraten übergetreten ist, tragen wir nicht mehr und nicht weniger Verantwortung als die Leiter des heutigen Regimes für die unter ihrer Führung entstandenen Fälle von Smolensk, Artemowsk, Schachty usw.

20. Der Kongress zeigte von neuem die Nichtigkeit des vulgären Sichvertragens. Durch Vertuschung der Meinungsverschiedenheiten und durch einschmeichlerischen Ton kann man wohl in den Zentrosojus (zentrale Konsumgenossenschaft) hinein schlüpfen, aber nicht in die Komintern. Der Wiederherstellung der Einheit der Komintern muss eine tiefgehende innere Säuberung vorhergehen. Die jetzigen Führer werden nicht die Leiter dieser Säuberung sein, sondern sie werden eine ihrer ersten Opfer werden. Sie wissen das sehr gut, und darum werden die naiven Friedensstifter nichts als Beulen und blaue Flecken erhalten. Gar keine Konzessionen an die vulgäre Friedensstifterei. Im Gegenteil unerbittlicher Kampf für die Wiederherstellung der revolutionären Einheit der Komintern, auf Grund einer prinzipiellen Säuberung.

Die tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten, die die Komintern zerreißen und die sogar durch die zensurierten Berichte des 6. Kongresses durchschauen, beweisen, dass von unserer Isolierung auch keine Rede sein kann. Der jetzige taube Fraktionskampf in allen Parteien wird sich unter dem Druck der Ereignisse und unserer Kritik zu einem Kampf klarer Linien entwickeln. Die proletarische Linie wird unsere Feststellungen annehmen als die einzig mögliche.

Das sind vorläufige Eindrücke beim Lesen der Berichte in der „Prawda".

Drücke die Hand Ihr

L. Trotzki.

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