Leo Trotzki‎ > ‎1929‎ > ‎

Leo Trotzki 19291004 Die Abrüstung und die Vereinigten Staaten von Europa

Leo Trotzki: Die Abrüstung und die Vereinigten Staaten von Europa

[Nach Die Aktion, 19. Jahrgang, Heft 5-8 (Ende September 1929), Spalte 126-133]

1. Wie ist Europa zu vereinigen?

Briand verspürt das Bedürfnis, das historische Schicksal von dreihundertfünfzig Millionen Europäern zu verbessern, die die Träger der höchsten Zivilisation sind, aber nicht ein Jahrhundert ohne ein Dutzend Kriege und Revolutionen leben können. Im Interesse der Friedfertigkeit unseres Planeten hat MacDonald den Atlantischen Ozean durchquert. Die Vereinigten Staaten von Europa, Abrüstung, Handelsfreiheit und Frieden sind auf die Tagesordnung gestellt worden. Die kapitalistische Diplomatie bereitet an allen Ecken und Enden eine pazifistische Suppe vor, Völker Europas, Völker der Welt, bereitet Euch darauf vor, sie auszulöffeln!

Weshalb denn? Stehen denn nicht in allen wichtigsten Ländern Europas Sozialisten an der Macht oder bereiten sich vor, sie zu übernehmen? Ja, gerade deshalb! Es ist schon jetzt ganz offensichtlich, dass der Plan Briands und der MacDonalds, den „Frieden“ der Menschheit aus ganz entgegengesetzten Richtungen anstreben. Briand will Europa vereinigen, um gegen Amerika einen Schutz zu finden. MacDonald will sich Amerikas Wohlwollen verdienen, indem es ihm hilft den Druck auf Europa auszuüben. Zwei Züge sind aufeinander losgelassen worden, um die Passagiere vor einer … Katastrophe zu retten.

Das englisch-französische Marineabkommen vom Juli 1928 ist auf ein Brauenrunzeln Amerikas hin liquidiert worden, Diese Tatsache bildet eine ausreichende Demonstration des heutigen Kräfteverhältnisses der Welt. „Ihr glaubt vielleicht“, machte Amerika eine Anspielung, „dass ich mich den Verhandlungen, die ihr um den europäischen Kanal führt, anpassen werde? Um ernste Gespräche zu führen, bemüht euch gefälligst, den Atlantischen Ozean zu durchqueren“. Und so bestellte sich MacDonald ein Coupé. Dies war der am leichtesten durchführbare Teil des pazifistischen Programms.

In Genf fühlten sich die zukünftigen „Vereiniger“ des europäischen Kontinents nicht viel besser als die Alkoholschmuggler jenseits des Ozeans: ängstlich sahen sie sich nach der amerikanischen Polizei um. Briand begann und schloss seine Reden mit dem Schwur, die Vereinigung Europas dürfe sich keinesfalls und unter keinen Umständen gegen Nordamerika richten. Gott bewahre! Die amerikanischen Politiker mussten beim Lesen dieser Worte ein doppeltes Vergnügen empfunden haben: „Briand hat mächtig Angst vor uns … Aber er wird uns nicht täuschen können …“

Während er Briands Worte in Bezug auf Amerika wiederholte, polemisierte Stresemann gleichzeitig verschleiert gegen ihn. Henderson polemisierte gegen beide, besonders gegen den französischen Premier. Im Ganzen entwickelte sich die Diskussion in Genf etwa nach folgendem Schema:

Briand: Keinesfalls gegen die Vereinigten Staaten.

Stresemann: Sehr richtig, mancher aber hat dabei Hintergedanken — verlassen kann sich Amerika nur auf Deutschland.

MacDonald: Ich schwöre bei der Bibel, dass Treue und Freundschaft nur den Briten eigen ist, besonders den Schotten.

So entstand in Genf die „neue internationale Atmosphäre“.

Die Schwäche des heutigen Europas wird in erster Linie durch seine ökonomische Zersplitterung hervorgerufen. Die Stärke der Vereinigten Staaten dagegen bildet deren ökonomische Einheit. Es entsteht die Frage: wie ist es einzurichten, dass die Vereinigung Europas sich nicht gegen Amerika wendet, das heißt, das Kräfteverhältnis nicht zu Amerikas Ungunsten verändert?

Der Offiziosus MacDonalds, „The Daily Herald“, nannte in seiner Nummer vom 10. September den Gedanken der Vereinigten Staaten von Europa grotesk und sogar provokatorisch. Wenn das Vorhaben gelingen sollte, so hätten die Vereinigten Staaten von Europa eine mächtige Zollmauer gegen die Vereinigten Staaten von Amerika errichtet — fährt MacDonalds Offiziosus fort — und im Resultat wäre Großbritannien völlig in die Klemme beider Kontinente geraten. Und außerdem: kann man denn auf die Hilfe Amerikas rechnen, wenn man den Kurs auf die Vereinigung Europas hält? „So zu handelt, wäre Wahnsinn und noch schlimmer als Wahnsinn“. Dies klingt offenherzig genug.

Praktisch weiß niemand, was die Vereinigten Staaten von Europa eigentlich bedeuten sollen. Stresemann brachte die Frage auf die Formel — gemeinsame Geldeinheit und gemeinsame … Briefmarken. Das ist ein bisschen wenig. Briand schlägt vor, über die Frage, deren Inhalt noch unbekannt ist, zu „diskutieren“.

Die wichtigste Aufgabe der Vereinigung müsste ökonomischer Natur sein, und nicht nur den Handel, sondern auch die Produktion betreffen. Es würde eine Verfassung notwendig machen, welche nicht durch künstliche Absperrungen die europäische Kohle von dem europäischen Eisen trennt, es würde nötig sein, dem System der Elektrifizierung die Möglichkeit zu geben, sich entsprechend den natürlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen, nicht aber entsprechend den Versailler Grenzen entwickeln zu lassen; es würde nötig sein, die europäischen Eisenbahnen zu einer Einheit zu gestalten und so endlos weiter. Das ist alles undenkbar, ohne die Abschaffung des altchinesischen Systems der inneren Zollgrenzen in Europa. Das würde schließlich bedeuten, eine einzige gesamteuropäische Zollgrenze gegen die amerikanische Zollgrenze.

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das kapitalistische Europa, wenn man seine gesamten Grenzabsperrungen hinwegfegte, nach einer Periode krisenhafter Umgruppierungen und Anpassungen, auf der Basis der neuen Verteilung der Produktivkräfte ungeheuer emporkommen würde. Dies ist ebenso unzweifelhaft, wie die Tatsache, dass Großbetriebe bei Vorhandensein der dafür notwendigen ökonomischen Bedingungen entscheidende Vorteile vor den Kleinbetrieben bieten. Aber noch haben wir nicht gehört, dass deshalb die kleinen Unternehmer auf ihre Unternehmen freiwillig verzichtet hätten. Um das Absatzfeld zu beherrschen, muss der Großkapitalist zuvor den Kleinkapitalisten vernichten. Dasselbe gilt für die Staaten. Die Zollgrenzen werden gerade deshalb errichtet, weil sie für die eine nationale Bourgeoisie auf Kosten einer anderen von Vorteil und Nutzen sind, unabhängig davon, ob sie die Entwicklung der Gesamtwirtschaft hemmen.

Seit dem Bestehen der von der Liga der Nationen einberufenen Wirtschaftskonferenz, die in Europa das Reich des freien Handels aufrichten sollte, sind die Zölle ununterbrochen gestiegen. Im Augenblick hat die englische Regierung einen Vorschlag eingebracht: zweijährige Zollferien einzuführen d. h. während der Dauer von zwei Jahren die Zölle nicht zu erhöhen. So sieht der bescheidene Vorschuss auf die Vereinigten Staaten von Europa aus. Aber auch er bleibt vorläufig noch ein Projekt.

Auf der Wacht an den Zollmauern, die nach dem Kriege dauernd gewachsen sind, stehen die nationalen Armeen, die verglichen mit dem Vorkriegsdurchschnitt ebenfalls gewachsen sind.1 Das zeigt deutlich genug, wie hoch die nationalen Bourgeoisien aller dreißig europäischen Staaten ihre nationalen Zollgrenzen einschätzen. Wenn der Großkapitalist den kleinen ruinieren muss, so muss der Großstaat die kleineren Staaten besiegen, um deren Zollgrenzen niederzureißen.

Das heutige Europa mit dem alten Deutschland vergleichend, als Dutzende deutscher Vaterländer noch ihre Zollämter hatten, versuchte Stresemann in der ökonomischen Vereinigung Deutschlands ein Vorbild für die ökonomische Föderation Europas und der Welt zu geben. Das ist keine schlechte Analogie. Nur verschwieg Stresemann, dass Deutschland, um zu einer Einheit auf einer nationalen Basis zu gelangen, abgesehen von den Reformationskriegen eine Revolution (1848) und drei Kriege (1864, 1866 und 1870) hatte durchmachen müssen. Aber auch jetzt noch, nach der „republikanischen“ Revolution (1918), bleibt das deutsche Österreich außerhalb Deutschlands. Es fällt etwas schwer, unter den gegebenen Umständen zu glauben, um zur ökonomischen Vereinigung aller europäischen Nationen zu kommen, könnten diplomatische Frühstücke genügen.


2. Die Abrüstung auf amerikanische Art

Aber neben der Frage der Vereinigung Europas ist ja gerade die Frage nach der Einschränkung der Rüstung auf die Tagesordnung gestellt worden? MacDonald hat doch erklärt, dass der Weg der allmählichen Abrüstung der sicherste Weg zum ewigen Frieden sei — könnte ein Pazifist erwidern. Gewiss, wenn alle Länder abgerüstet haben würden, dann wäre dies eine ernste Friedensgarantie. Doch eine Selbstabrüstung ist ebenso ausgeschlossen, wie eine freiwillige Abschaffung der Zollmauern. Zur Zeit gibt es in Europa nur ein großes Land, das ernstlich abgerüstet ist: Deutschland. Doch wurde, wie bekannt, seine Abrüstung erreicht durch seine Niederschlagung in dem Kriege, durch den Deutschland selbst bestrebt war, „Europa“ unter seiner Herrschaft zu vereinigen.

Es ist nicht schwer nachzuweisen, dass das Problem der „allmählichen Abrüstung“, wenn man sich ihm aufmerksamer nähert, das Aussehen einer tragischen Farce bekommt. Die Frage der Abrüstung ist durch die Frage der Rüstungseinschränkung abgelöst worden. Und schließlich wurde diese letzte Aufgabe darauf reduziert, die Flotten der Vereinigten Staaten und Englands einander anzugleichen. Jetzt wird bereits diese „Errungenschaft“ im Voraus als ein großes Friedenspfand proklamiert. Das ist dasselbe, wie wenn man sagen würde, die Reglementierung der Revolver für Duellteilnehmer sei der sicherste Weg, das Duell abzuschaffen. Es sollte scheinen, für den gesunden Menschenverstand stellt sich die Sache gerade umgekehrt dar. Wenn die zwei stärksten Seemächte mit solcher Verbissenheit um einige Tausend Tonnen handeln, so zeigt es nur, dass jede von ihnen bestrebt ist, sich im Voraus durch diplomatische Mittel eine vorteilhaftere Position in dem zukünftigen kriegerischen Zusammenstoß zu sichern.

Was bedeutet jedoch vom Standpunkte der internationalen Situation die „Gleichheit“ zwischen der amerikanischen und englischen Flotte? Sie bedeutet die Schaffung einer ungeheuren Ungleichheit zwischen diesen Ländern zugunsten Amerikas. Dies ist selbstverständlich allen ernsten Teilnehmern des Spieles klar, vor allem den Admiralitäten in London und in Washington. Sie schweigen darüber nur aus diplomatischer Schüchternheit. Wir haben keinen Grund, ihrem Beispiel zu folgen.

Nach der Erfahrung des letzten Krieges gibt es keinen einzigen Menschen, der es nicht begriffen hätte, dass ein neuer Krieg zwischen den Weltriesen nicht einen blitzartigen, sondern einen langwierigen Charakter tragen wird. Die Entscheidung wird von der Produktivkraft der Partner abhängen. Das bedeutet unter anderem, dass die Kriegsflotten der Seemächte sich nicht nur erneuern und ergänzen, sondern während des Krieges selbst gesteigert und neu geschaffen werden.

Wir haben gesehen, welchen besonderen Platz in den Kriegsoperationen die deutschen Unterseeboote während des dritten Jahres des Schlachtens einnahmen, Wir haben gesehen, wie England und die Vereinigten Staaten mitten im Krieg mächtige Armeen schufen, die besser bewaffnet und ausgerüstet waren als die alten Armeen des europäischen Kontinents. Das bedeutet, dass die Soldaten, Matrosen, Schiffe, Kanonen, Tanks, Flugzeuge, die zu Beginn eines Krieges existieren, nur der Auftakt sind. Die Lösung der Frage wird davon abhängen, wie stark die Macht eines Landes ist, um im Feuer selbst Schiffe, Kanonen, Soldaten und Matrosen zu stellen. Sogar die zaristische Regierung war imstande, gewisse Vorräte für den Kriegsbeginn bereit zu halten. Sie war aber außerstande, sie im Feuer zu ergänzen und zu erneuern. Für England kann für den Fall eines Krieges mit Amerika die einzige theoretisch denkbare Bedingung eines Erfolges darin bestehen, dass es sich schon vor dem Kriege ein sehr großes kriegstechnisches Übergewicht sichert, was bis zu einem gewissen Grade das technische und ökonomisch unermessliche Übergewicht der Vereinigten Staaten ausgleichen könnte. Die Ausgleichung beider Flotten vor dem Kriege bedeutet ein unzweifelhaftes Übergewicht Amerikas schon in den ersten Kriegsmonaten. Nicht umsonst haben die Amerikaner vor einigen Jahren gedroht: wenn es nötig sei, die Kreuzer wie Kuchen zu backen.

Bei den Verhandlungen Hoovers mit MacDonald handelt es sich nicht um die Abrüstung und nicht einmal um die Einschränkung der Seerüstungen, sondern ausschließlich um die Rationalisierung der Kriegsvorbereitungen. Die Typen der Schiffe veralten. Heute, wo die ungeheure Erfahrung des Krieges und der durch ihn hervorgerufene Strom von Erfindungen für die Kriegsbedürfnisse sich erst in Vorbereitung befindet, ist die Frist für den moralischen Verbrauch der Mittel der Kriegstechnik ein viel kürzerer als vor dem Kriege. Das bedeutet, dass der wichtigste Teil der Flotte sich als veraltet herausstellen kann, noch bevor er in Gebrauch genommen wird. Hat es unter solchen Bedingungen einen Sinn, Schiffe aufzustapeln? Die rationelle Wirtschaft erfordert, eine solche Flotte zu besitzen, die für die erste Periode des Krieges hinreicht und im Frieden ein zulängliches Laboratorium bildet, neue Erfindungen und Entdeckungen auszuprobieren, um sie während des Krieges als standardisierte Serienproduktion in Gebrauch zu nehmen. Mehr oder weniger sind an der „Reglementierung“ der Rüstungen, besonders der Seerüstungen, die so kostspielig sind, alle Großmächte interessiert. Fatalerweise jedoch verwandelt sich diese Reglementierung in die größte Überlegenheit des ökonomisch stärkeren Landes.

Das Kriegs- und Marineamt der Vereinigten Staaten beschäftigte sich in den letzten Jahren systematisch mit der Vorbereitung der gesamten amerikanischen Industrie auf die Bedürfnisse des zukünftigen Krieges. Einer der Magnaten der amerikanischen Marineindustrie, Schwab, endete vor einiger Zeit in einer der Kriegsschulen seinen Vortrag mit folgenden Worten: „Ihr müsst euch klar werden, dass der Krieg in unseren Tagen ein großes Industrieunternehmen darstellt.“

Die Presse des französischen Imperialismus tut natürlich alles, was in ihren Kräften steht, um Amerika und England gegeneinander zu hetzen. In einem dem Marineabkommen gewidmeten Artikel schreibt der „Temps“, dass eine gleichstarke Flotte noch keinesfalls ein gleiches Kräfteverhältnis darstellt, denn Amerika könne von den Seebasen, die England sich im Laufe von Jahrhunderten erobert hat, nicht einmal träumen. Die Vorteile der englischen Seebasis sind ganz unbestreitbar. Aber das Abkommen über eine gleichstarke Flotte, wenn ein solches getroffen werden sollte, wird keinesfalls das letzte Wort der Vereinigten Staaten bedeuten. Ihre Parole ist die „Freiheit der Meere“, das heißt, ein Regime, das vor allem England in der Ausnutzung seiner Seebasen einschränken muss, Nicht weniger wichtig ist eine andere Parole Amerikas, die der „offenen Tür“. In diesem Zeichen wird Amerika nicht nur China, sondern auch Indien und Ägypten der englischen Seeherrschaft gegenüberstellen. Gegen die englischen Seebasen und Stützpunkte wird Amerika den Feldzug nicht auf dem Wasser, sondern auf dem Lande führen, d. h., über die englischen Kolonien und Dominien. Amerika wird seine Kriegsflotte erst in dem Moment in Bewegung setzen, wo die Situation dafür reif sein wird. Gewiss ist das alles Zukunftsmusik. Aber uns trennen von dieser Zukunft weder Jahrhunderte, noch Jahrzehnte. Der „Temps“ kann ruhig sein. Die Vereinigten Staaten werden stückweise das nehmen, was man stückweise nehmen kann, dabei auf allen Gebieten der Technik, des Handels, der Finanzen, des Krieges, das Kräfteverhältnis zu Ungunsten seines wichtigsten Rivalen verschiebend, ohne auch nur für einen Augenblick dessen Seebasen außer Acht zu lassen.

Die amerikanische Presse beantwortete mit einem verächtlichen Lächeln die Reklame Snowdens, der in Den Haag mit Schrecken einflößenden Gestikulationen zugunsten Englands an die zwanzig Millionen Dollar abgehandelt hat, etwa eine Summe, die vielleicht den amerikanischen Touristen für Zigarren ausreichte. „Ist Snowden Sieger geblieben?“ fragte der New Yorker Times. Nein! Der wirkliche Sieger (the real victor) ist der Youngplan, d. h. das amerikanische Finanzkapital. Mit Hilfe der Reparationsbank wird das System Young Amerika die Möglichkeit geben, seine Hand fest am Goldpuls Europas zu halten. Von der Finanzkugel, die an Deutschlands Beine gebunden ist, gehen starke Ketten, die um die Arme Frankreichs, um die Beine Italiens und um den Hals Englands gelegt sind. MacDonald, der zur Zeit bei dem britischen Löwen den Dienst eines Wärters ausübt, zeigt mit Stolz auf das Halsband, als auf das beste Friedensinstrument. Man bedenke dabei: um diese Resultate zu erreichen, hat Amerika sich nur großmütig zu zeigen gebraucht: Europa zu „helfen“, den Krieg zu liquidieren, und der Angleichung der Flotten mit dem schwächeren England „zuzustimmen“.

3. Die imperialistische Diktatur Amerikas

Seit 1923 mussten wir einen Kampf darum führen, dass die Leitung der Komintern endlich belieben möchte, die Vereinigten Staaten zu bemerken und einzusehen, dass der angloamerikanische Antagonismus die grundlegende Linie der Weltgruppierungen und des Weltkampfes ist, Noch in der Epoche des V. Kongresses (Mitte 1924) galt es als Ketzerei. Man beschuldigte uns, wir „übertrieben“ die Rolle Amerikas. Es wurde eine besondere Legende erfunden, als hätten wir eine Ära des Verschwindens des kapitalistischen Antagonismus in Europa angesichts der amerikanischen Gefahr proklamiert. Ossinski, Larin und andere haben nicht wenig Papier verdorben, um die Macht Amerikas zu „entthronen‘. Gleichzeitig mit den bürgerlichen Journalisten versuchte Radek zu beweisen, dass wir vor einer Periode der englisch-amerikanischen Zusammenarbeit stehen, wobei er zeitliche, konjunkturmäßige, episodische Formen der Beziehungen mit dem Wesen des Weltprozesses verwechselte.

Allmählich wurde jedoch Amerika von der offiziellen Leitung der Komintern „anerkannt“, und nun begann sie unsere gestrigen Formulierungen zu wiederholen, wobei sie es selbstverständlich nicht unterlassen konnte, jedes Mal hinzuzufügen, dass die Opposition die Rolle Amerikas überschätze. Die richtige Einschätzung Amerikas bildete zu jener Zeit bekanntlich das Patent Peppers und Lovestones.

Mit der Aufrichtung des linken Kurses fielen jedoch auch die Vorbehalte weg. Nun gehörte es bereits zur Pflicht der offiziellen Theoretiker, zu verkünden, England und Amerika treiben unmittelbar zum Krieg. Ich schrieb darüber im Februar des vorigen Jahres an Freunde in der Verbannung: „Der anglo-amerikanische Antagonismus ist endlich ernstlich nach außen gedrungen. Jetzt scheint es, dass auch Stalin und Bucharin etwas zu begreifen beginnen. Unsere Zeitungen vereinfachen jedoch die Sache sehr, wenn sie es so darstellen, dass der sich dauernd verschärfende anglo-amerikanische Antagonismus unmittelbar zum Kriege führen müsse. Man braucht daran nicht zu zweifeln, dass es in diesem Prozess noch viele Wendungen geben wird. Eine zu ernste Angelegenheit wäre der Krieg heute für beide Partner. Sie werden noch manche Anstrengung für eine Verständigung und einen Frieden versuchen. Aber im Ganzen geht die Entwicklung mit gigantischen Schritten zu einer blutigen Lösung.“

Die heutige Etappe nimmt wieder die Form einer kriegsmaritimen „Zusammenarbeit“ von Amerika und England an, und einige französische Zeitungen fürchten sogar eine anglosächsiche Weltdiktatur. Sicherlich könnten die Vereinigten Staaten Englands „Mitarbeit“ ausnutzen, um Japan und Frankreich enger im Zaum zu halten, Doch werden das alles Etappen nicht einer anglosächsischen, sondern einer amerikanischen Beherrschung der Welt, darunter auch Englands, sein.

Von dieser hier aufgestellten Perspektive werden die Leiter der Komintern wieder sagen können, wir sähen vor uns nichts außer den Sieg des amerikanischen Kapitalismus. So haben die kleinbürgerlichen Theoretiker des Narodnitschestwo (Volkstümlerei) die ersten russischen Marxisten beschuldigt, diese sähen nichts vor sich außer dem Sieg des Kapitals. Diese Beschuldigungen sind einander wert. Wenn wir sagen, dass Amerika sich zur Weltherrschaft bewege, so heißt das nicht, dass sie sich restlos verwirklicht, und noch weniger, dass, wenn sie sich in dem einen oder dem anderen Umfange verwirklicht, sie Jahrhunderte oder auch Jahrzehnte existieren wird. Es geht hier um die historische Tendenz, die in der Wirklichkeit von anderen historischen Tendenzen durchkreuzt und abgeändert werden wird. Könnte die kapitalistische Welt noch Jahrzehnte ohne revolutionäre Erschütterung am Leben bleiben, so würden diese Jahrzehnte zweifellos Zeugen eines ununterbrochenen Wachstums der amerikanischen Weltdiktatur werden. Aber gerade darum handelt es sich, dass dieser Prozess unweigerlich die eigenen Widersprüche des kapitalistischen Systems steigern wird. Amerika wird Europa zu einer immer gesteigerteren Rationalisierung zwingen und wird gleichzeitig Europa einen immer kleineren Teil des Weltmarktes überlassen, Das wird zu einer ununterbrochenen Verschärfung der Schwierigkeiten in Europa führen. Die Konkurrenz der europäischen Staaten um den Teil des Weltmarktes wird sich immer weiter verschärfen. Gleichzeitig werden die europäischen Staaten unter dem Druck Amerikas bestrebt sein, ihre Kräfte zu koordinieren. Dies ist ja gerade die Grundquelle des Briandschen Programms der Vereinigten Staaten von Europa. Wie auch die einzelnen Etappen der Entwicklung sein mögen, eines ist klar: die ständige Störung des internationalen Gleichgewichts zugunsten Amerikas wird in der nächsten Epoche die Quelle von Krisen und revolutionären Erschütterungen in Europa sein. Wer der Meinung ist, dass die europäische Stabilisierung für Jahrzehnte gesichert sei, der begreift nichts von der Weltsituation und wird unweigerlich mit dem Kopf im Sumpf des Reformismus versinken.

Betrachtet man diesen Prozess vom anderen Ufer des Atlantischen Ozeans aus, d. h. unter dem Gesichtswinkel des Schicksals Nordamerikas, so eröffnen sich auch hier Perspektiven, die von einem sorglosen kapitalistischen Idyll weit entfernt sind. Die Vorkriegsmacht der Vereinigten Staaten beruhte auf der Basis des Innenmarktes, d. h, des dynamischen Gleichgewichts zwischen Industrie und Landwirtschaft. Der Krieg hat auch hier eine schroffe Wendung hervorgerufen. Die Vereinigten Staaten exportieren in immer steigendem Maße Kapital und Industrieerzeugnisse. Der Machtzuwachs der Vereinigten Staaten bedeutet, dass das ganze System der amerikanischen Industrie und der amerikanischen Banken — dieser gigantischen kapitalistischen Wolkenkratzer — sich in immer größerem Umfange auf das Fundament der Weltwirtschaft stützt. Dieses Fundament aber ist unterminiert, und die Vereinigten Staaten minieren es immer stärker. Indem es Ware und Kapital exportiert, die Flotte baut, England verdrängt, die wichtigsten Unternehmen in Europa aufkauft, nach China vorstößt usw., füllt das Finanzkapital der Vereinigten Staaten mit eigenen Händen die Keller seines Fundaments mit Pulver und Dynamit. Wo wird das Feuer an die Zündschnur gelegt werden? In Asien, in Europa oder in Südamerika, oder — was noch wahrscheinlicher ist — gleichzeitig überall, — doch das ist schon eine andere Frage.

Es ist ein direktes Unglück, dass die heutige Leitung der Komintern ganz unfähig ist, alle Etappen dieses gewaltigen Prozesses zu übersehen. Es erledigt die Tatsachen durch Banalitäten. Selbst die pazifistische Agitation für die Vereinigten Staaten von Europa hat sie unvorbereitet gefunden.

4. Die Vereinigten Sowjetstaaten von Europa

Die Frage nach den Vereinigten Staaten von Europa wurde vom proletarischen Gesichtspunkte aus zum ersten Mal im September 1914 gestellt, d. h. zu Beginn des imperialistischen Krieges. In der Broschüre „Krieg und Internationale“ hat der Autor dieser Zeilen zu beweisen versucht, dass die Vereinigung Europas von seiner ökonomischen Entwicklung unabwendbar auf die Tagesordnung gestellt worden ist; dass aber die Vereinigten Staaten von Europa nur denkbar sind als politische Form der revolutionären Diktatur des europäischen Proletariats.

Im Jahre 1923, als die Ruhrokkupation die grundlegenden Probleme der europäischen Wirtschaft (vor allem der Kohle und des Eisens) und gleichzeitig auch die Fragen der Revolution, wieder scharf herausgestellt hatte, gelang es, zu erreichen, dass die Parole der Vereinigten Staaten von der offiziellen Leitung der Komintern adoptiert wurde. Doch blieb das Verhältnis zu dieser Parole ein gespanntes. Außerstande, sie abzulehnen, benahmen sich die Leiter der Komintern zu ihr wie zu einem untergeschobenen Kind des „Trotzkismus“. Nach dem Zusammenbruch der deutschen Revolution im Jahre 1923, begann in Europa das Leben der Stabilisierung. Die grundlegenden revolutionären Fragen verschwanden von der Tagesordnung. Die Parole der Vereinigten Staaten geriet in Vergessenheit. In das Programm der Komintern wurde diese Parole nicht aufgenommen. Stalin erklärte diese Schwenkung mit unvergleichlichem Tiefsinn: da man nicht voraussehen kann, in welcher Reihenfolge die Länder ihre proletarische Revolution vollbringen werden, so kann man auch nicht voraussehen, ob die Vereinigten Staaten von Europa sich als notwendig erweisen werden. Das heißt mit anderen Worten: es ist leichter eine Prognose nachträglich aufzustellen. In Wirklichkeit handelt es sich gar nicht darum, in welcher Reihenfolge die Revolutionen kommen werden. Darüber sind nur Mutmaßungen möglich. Das entbindet aber weder das europäische Proletariat noch die Internationale von der Notwendigkeit, eine klare Antwort auf die Frage zu geben: wie ist die europäische Wirtschaft seiner heutigen Zersplitterung zu entreißen und wie sind die Volksmassen Europas vor Verfall und Versklavung zu retten.

Das Unglück besteht aber darin, dass die ökonomische Begründung der Forderung der Vereinigten Staaten von Europa einen der wichtigsten Gedanken des heutigen Programms der Komintern umwirft, nämlich, den Gedanken vom Aufbau des Sozialismus in einem Lande. Das Wesen unserer Epoche besteht darin, dass die Produktivkräfte über die Rahmen nationaler Staaten endgültig hinausgewachsen sind und vor allem in Amerika und Europa — teils einen kontinentalen Maßstab, teils einen Weltmaßstab angenommen haben. Aus dem Gegensatz zwischen den Produktivkräften und den nationalen Grenzen erwuchs der imperialistische Krieg. Und der ihn beschließende Versailler Vertrag hat diesen Gegensatz verschärft. Mit anderen Worten: infolge der Entwicklung der Produktivkräfte kann der Kapitalismus in einem Lande nicht mehr bestehen. Der Sozialismus aber wird (und muss) sich auf noch entwickeltere Produktivkräfte stützen: sonst wäre er nicht ein Fortschritt, sondern ein Rückschritt im Vergleich zum Kapitalismus. Im Jahre 1914 schrieben wir: „Wenn das Problem des Sozialismus sich mit dem Rahmen des nationalen Staates vereinen ließe, dann könnte es sich auch mit der nationalen Verteidigung vereinen lassen“. Die Vereinigten Staaten von Europa sind der politische Ausdruck des Gedankens, dass der Sozialismus in einem Lande unmöglich ist. Gewiss: seine völlige Entwicklung kann er auch nicht im Rahmen eines Kontinents erreichen. Die sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa sind die Parole einer historischen Etappe auf dem Wege zur sozialistischen Weltföderation.

Es ist in der Geschichte schon wiederholt vorgekommen, dass, wenn eine Revolution außerstande war, eine zur Reife entwickelte historische Aufgabe zu lösen, die Reaktion ihre Lösung vorzunehmen gezwungen war. So hat Bismarck nach dem Misserfolg der Revolution von 1848 auf seine Art Deutschland vereinigt. So hat Stolypin nach der Niederlage der Revolution von 1905 die Agrarfrage zu lösen versucht. So lösten die Versailler Sieger auf ihre Art die nationale Frage, der gegenüber alle vorangegangenen Revolutionen Europas sich ohnmächtig gezeigt hatten. Das Hohenzollerndeutschland hatte auf seine Art versucht, Europa zu organisieren, d. h. unter seinen Helm zu vereinigen. Das gelang nicht. Dann beschloss der Sieger Clemenceau, den Sieg in der Weise auszunutzen, dass er Europa in möglichst viele Stücke zerschnitt. Jetzt schickt sich Briand mit Nadel und Faden bewaffnet an, diese Stücke zusammenzunähen, obwohl er nicht weiß, von welchem Ende zu beginnen.

Die Leitung der Komintern, darunter auch die Leitung der französischen Kommunistischen Partei beschäftigten sich mit der Entlarvung des offiziellen Pazifismus. Dies allein genügt jedoch nicht. Den Kurs auf die Vereinigung Europas nur mit der Vorbereitung eines Krieges gegen die UdSSR zu erklären, ist eine Kinderei, um nicht zu sagen, noch etwas Schlimmeres, und kompromittiert nur die Aufgabe der Verteidigung der Sowjetrepublik. Die Parole der Vereinigten Staaten von Europa ist nicht eine schlaue Erfindung der Diplomatie, Sie ergibt sich vielmehr aus den dringenden wirtschaftlichen Bedürfnissen Europas, die um so schärfer und mächtiger nach außen dringen, je stärker der Druck Amerikas ist, Gerade jetzt müssen die kommunistischen Parteien dem pazifistischen Brei der Imperialisten die Parole der Vereinigten Sowjetstaaten entgegenstellen.

Aber den kommunistischen Parteien sind die Hände gebunden. Die Lebenserfahrungen mit dem tiefen historischen Inhalt sind im Interesse des Kampfes gegen die Opposition aus dem Programm der Komintern gestrichen worden. Umso entschiedener muss die Opposition diese Parole vertreten. In ihrer Person sagt die Avantgarde des europäischen Proletariats den heutigen Herren: Um Europa zu vereinigen, dazu ist vorerst vor allem nötig, Euch die Macht zu entreißen. Das werden wir machen. Wir werden Europa vereinigen. Wir werden es gegen die uns feindliche kapitalistische Welt vereinigen. Wir werden es zu einer mächtigen bewaffneten Basis des kämpfenden Sozialismus machen. Wir werden es zum Eckstein der sozialistischen Weltföderation machen.

(übersetzt von A[lexandra] R[amm])

1 Anmerkung. Bis zum Kriege verausgabte England für seine Flotte 237 Millionen Dollar. Jetzt beträgt diese Ausgabe jährlich 270 Millionen. Den Vereinigten Staaten kostete ihre Flotte im Jahre 1913 t30 Millionen. Im laufenden Jahre kostet sie 364 Millionen. Schließlich stieg ja der gleichen Zeit die Ausgabe für die Flotte in Japan. von 48 Millionen auf 127 Millionen, d. h. fast um das Dreifache. Es ist nicht verwunderlich, wenn die Finanzminister Anfälle von Seekrankheit zu verspüren beginnen. Die Gesamtausgaben des Militarismus zu Wasser, zu Lande und in der Luft) der fünf wichtigsten kapitalistischen Länder sind allein in den drei letzten Jahren von 2170 Millionen Dollar auf 2292 Millionen gewachsen und betragen für drei Jahre insgesamt 6600 Millionen Dollar.

Kommentare