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Leo Trotzki 19290425 Die Lenin-Opposition und die Rechten in der Komintern

Leo Trotzki: Die Lenin-Opposition und die Rechten in der Komintern

Brief an Boris Souvarine

[Nach Fahne des Kommunismus, 3. Jahrgang, Nr. 23, 28. Juni 1929, S. 181 f.]

[Der nachfolgende Brief des Genossen Trotzki kam leider verspätet in unsern Besitz. Wir bringen ihn als Ergänzung unserer Auseinandersetzungen mit den Brandlerianern zur Kenntnis und werden in der nächsten Nummer der „F. d. K." einen weiteren Brief Trotzkis, der sich mit den Rechten befasst, folgen lassen.]

Ich erhielt Ihren Brief vom 16. April, der mich einigermaßen in Erstaunen setzte. Sie heben hervor, dass Sie von mir etwas anderes in Bezug auf die oppositionellen Gruppen im Auslande erwartet haben.

Ich sollte mich nicht sogleich äußern, sondern vorerst beobachten, studieren, Gruppen und Menschen sammeln, die marxistisch zu denken und zu handeln fähig seien. Sie machen mir den Vorwurf des Übereilens und warnen mich, dass ich sicher bereuen werde, mir nicht Zeit zum Beobachten, Nachdenken und Diskutieren gelassen zu haben.

In Ihrer Kritik die, wie ich mit Vergnügen konstatiere, in überaus freundschaftlichem Ton gehalten ist, äußert sich die ganze Unrichtigkeit ihrer jetzigen Einstellung. Es kann Ihnen nicht unbekannt sein, dass ich mich bis heute über keine einzige der strittigen inneren Fragen, die die französischen, deutschen, österreichischen und anderen oppositionellen Gruppen spalten, geäußert habe. Ich stand während der letzten Jahre zu stark abseits von dem Leben der europäischen Parteien und ich brauche wirklich Zeit, um mich in die allgemeinen politischen Verhältnisse, sowie auch in die oppositionellen Gruppierungen hineinzufinden, Wenn ich mich doch über die letzteren äußerte, so war es nur bezüglich jener drei Fragen, die als grundlegende Fragen für unsere Zeitperiode gelten: Die innere Politik in der UdSSR, die Leitung der chinesischen Revolution und des anglo-russischen Komitees. Ist es nicht merkwürdig, dass Sie mir vorschlagen, mich gerade in diesen drei Fragen nicht zu übereilen, Zeit zu gewinnen, mich zu informieren und nachzudenken? Gleichzeitig verzichten Sie selbst nicht auf Ihr Recht, sich öffentlich über diese drei Fragen zu äußern und zwar direkt im entgegengesetzten Sinne zu den Entscheidungen, die die eigentliche Basis der linken, leninistischen Opposition bilden.

In der Presse habe ich mich vollkommen bereit erklärt, meine Einschätzung der Gruppe Brandler oder der Ihrigen zu korrigieren oder zu ändern, falls mir irgend welche neue Tatsachen oder Dokumente mitgeteilt werden. Die Gruppe Brandler sandte mir nachher, sehr entgegenkommend, ihre sämtlichen in Druck erschienenen Schriften. In der „Arbeiter-Politik" vom 16. März fand ich Thalheimers Bericht über die russische Diskussion. In der Tal hatte ich zum Studium zum Nachdenken nicht viel Zeit nötig, um festzustellen, dass die Gruppe Brandler-Thalheimer jenseits der Barrikaden steht. Wollen wir uns an Tatsachen erinnern:

1. Im Jahre 1923 begriff diese Gruppe nicht, noch verstand sie die revolutionäre Situation auszunützen.

2. Im Jahre 1924 versuchte Brandler die revolutionäre Situation unmittelbar vor sich zu sehen und nicht hinter sich.

3. 1925 erklärte er, dass es gar keine revolutionäre Situation gegeben habe, sondern eine Überschätzung seitens Trotzkis.

4. In den Jahren 25-26-27 war er der Ansicht dass der Kurs auf den Kulaken, der damalige Kurs Stalin-Bucharin, der richtige sei.

5. 1923-1925 unterstützte Thalheimer als Mitglied der Programmkommission Bucharin gegen mich in der eigentlichen Programmfrage (nüchternes Schema des National-Kapitalismus, anstatt der Theorie des Zusammenhanges von Weltwirtschaft und Weltpolitik).

6. Brandler und Thalheimer hatten nirgends, soviel mir bekannt ist, ihre Stimme gegen die Theorie des Sozialismus in einem einzelnen Lande erhoben.

7. Brandler und Thalheimer versuchten, zur Leitung der Partei zu gelangen indem sie sich der schützender Stalinfärbung bedienten (wie es Foster in Amerika tut).

8. In der Frage der chinesischen Revolution hinkten Brand und Thalheimer hinter der offiziellen Leitung nach.

9. Desgleichen in der Frage der englisch-russischen Komitees.

Und so habe ich vor mir die Erfahrung einer sechsjährigen Periode. Es muss Ihnen bekannt sein, dass ich mich mit der Verurteilung Brandlers durchaus nicht beeilte.

Nach dem furchtbaren Zusammenbruch der deutschen Revolution 1923 nahm ich Brandler bedingt unter meinen Schutz.; ich erklärte es für unwürdig, ihn als den Sündenbock hinzustellen, während die Verantwortung für die Katastrophe in Deutschland die Sinowjew-Stalin-Leitung der Komintern im Ganzen trägt! Die negative Einschätzung Brandlers machte ich erst, als ich mich davon überzeugte, dass er nicht einmal an den großen Ereignissen lernen will oder kann. Seine retrospektive Einschätzung der deutschen Situation 1923 ist ganz der Kritik, die die Menschewiki über die Revolution 1905 in den Jahren der Reaktion entwickelten, ähnlich. Über all dies hatte ich Zeit genug, „nachzudenken".

Der ganze Bericht Thalheimers über die russische Diskussion kann in dem einen Satz resümiert werden: „Trotzkis Programm fordert einen stärkeren finanziellen Druck auf die Bauernschaft." Diesen Satz variiert Thalheimer während seines ganzen Berichtes. Kann es für einen Marxisten eine beschämendere Stellungnahme geben? Die eigentliche Frage beginnt für mich mit dem Negieren der Bauernschaft als Ganzes. Es handelt sich um den Klassenkampf innerhalb der Bauernschaft. Die Opposition stellte die Forderung – 40 bis 50 Prozent der Bauernschaft von Steuern gänzlich zu befreien. Seit 1923 hatte die Opposition stets gewarnt, dass das Zurückbleiben in der Industrie die Preisschere bedeuten werde und infolgedessen auch die stärkste und verderblichste Ausbeutung der niedersten Dorfschichten durch die Kulaken, die Vermittler und Händler.

Die mittlere Schicht der Bauernschaft stellt ein soziales Protoplasma dar. Sie nimmt ununterbrochen und unabänderlich gewisse Formen in zwei Richtungen an: In kapitalistischer durch die Kulaken und in sozialistischer durch die Halbproletarier und Agrararbeiter. Wer diesen Grundprozess ignoriert, wer von der Bauernschaft überhaupt spricht, wer nicht sieht, dass die „Bauernschaft" zwei feindliche Gesichter hat, der ist unrettbar verloren. Das Problem des Thermidors und des Bonapartismus ist in seiner Grundlage das Problem des Kulaken. Wer dieses Problem übersieht, dessen Bedeutung vermindert, indem er die Aufmerksamkeit abzulenken sucht auf die Fragen des Parteiregimes, des Bürokratismus, der unreinen polemischen Methoden und andere Erscheinungen und Äußerungen, der Offensive des Kulakentums gegen die Diktatur des Proletariats, der ähnelt einem Arzte, welcher nach den Symptomen jagt, ohne die funktionalen und organischer Störungen zu beachten.

Gleichzeitig wiederholt Thalheimer wie ein gut dressierter Papagei, dass die von uns gestellte Forderung des geheimen Wahlrechtes in der Partei „Menschewismus" sei. Er muss doch wissen, dass die Arbeiter-Parteimitglieder der RKP sich nicht trauen, nach ihrem Gewissen zu sprechen, zu stimmen. Sie fürchten den Apparat, der den Druck des Kulaken, des Beamten, der Spezialisten (Spezialist-Techniker), des Kleinbürgers, der ausländischen Bourgeoisie übermittelt. Auch der Kulak will natürlich geheime Abstimmung in den Sowjets, denn auch ihn stört der Apparat, der, wie auch immer, doch unter dem Drucke der Arbeiter steht. Das sind eben die Elemente der Doppelherrschaft, gedeckt durch die zentristische Bürokratie, welche zwischen den Klassen manövriert und gerade deswegen immer mehr die Positionen des Proletariats untergräbt. Die Menschewiki wollen geheime Abstimmung für den Kulak und den Kleinbürger in den Sowjet – gegen die Arbeiter, gegen die Kommunisten. Ich will – geheime Abstimmung für die Arbeiter-Bolschewiki in der Partei – gegen die Bürokraten, gegen die Thermidorianer. Da aber Thalheimer zu denen gehört, die die Klassen übersehen, so erklärt er die Forderungen der Lenin-Opposition identisch mit den Forderungen der Menschewiken. Mit diesem Unsinn sucht er seine rein bürgerliche Position in der Bauernfrage zu maskieren.

Natürlich werden nicht nur die Arbeiter-Bolschewiki die geheime Abstimmung in der Partei ausnützen, sondern auch deren in die Partei eingedrungenen Feinde. Mit anderen Worten: der Klassenkampf innerhalb der Kommunistischen Partei, niedergedrückt durch den Deckel das bonapartistischen Apparats, wird sich den Weg ins Freie bahnen. Eben das wollen wir. Die Partei wird sich selbst so sehen, wie sie in Wirklichkeit ist. Das würde eine wirkliche Selbstreinigung der Partei bedeuten – als Gegengewicht zu jener bürokratisch verfälschten Säuberung, die im Interesse seiner Selbsterhaltung der Apparat wieder unternimmt. Nur nach der Reinigung der Partei im oben erwähnten Sinne kann die geheime Abstimmung in die Gewerkschaften übertragen werden. Nach einigen Jahren der bürokratischen Nivellierung der Gewerkschaften wird man nur auf diesem Wege feststellen können, wie groß der Einfluss der Menschewiki, der Sozialisten-Revolutionäre und der Weißgardisten in Wirklichkeit sei. Ohne die ganze Klasse ernstlich zu sondieren, wird es unmöglich sein, die wirkliche Diktatur des Proletariats festzuhalten. Gegenwärtig sind die Krankheiten dermaßen ins Innere hineingetrieben dass außergewöhnliche Maßnahmen nötig seien, um sie an die Oberfläche zu bringen. Eine dieser Maßnahmen, sicher nicht die einzige, soll eben die Forderung der geheimen Abstimmung in der Partei sein und nachher auch in den Gewerkschaften.

Was die Sowjets betrifft, so werden wir die Frage erst nach den Erfahrungen in der Partei und in den proletarischen Betriebsorganisationen entscheiden.

Brandler und Thalheimer hatten sich in allen Grundfragen der Weltrevolution und des Klassenkampfes an Stalin-Bucharin angeschlossen, die eben in diesen Fragen (China, englische Trade Unions, Bauernschaft) von der Sozialdemokratie unterstützt wurden. Jedoch die Forderungen der geheimen Abstimmung für die proletarische Avantgarde, gegen den Apparat, der den Menschewismus mit den Methoden des Terrors durchführt, erklärt Thalheimer als Menschewismus.

Kann man sich einen kläglicheren Ideenbankrott denken? Ich zweifle nicht daran, dass in und um die Gruppe Brandler sich viele Arbeiter befinden, die angewidert von der schmutzigen Wirtschaft Thälmann u. Co., ihre Partei verließen, doch nicht in die richtige Tür hineingeraten sind. Diesen Arbeitern muss die Lenin-Opposition helfen, sich in der Lage zurechtzufinden. Dies aber kann nur erreicht werden in einem unversöhnlichen und unerbittlichen Kampf gegen den politischen Kurs Brandler-Thalheimer und aller jener Gruppierungen, die sich mit ihnen solidarisieren oder sie tatsächlich unterstützen.

Der Stalin-Kurs in der Komintern hat noch nicht sein letztes Wort gesprochen. Wir treten erst in die Reihe der Krisen, Spaltungen, Gruppierungen und Erschütterungen ein. Es steht uns eine vieljährige Arbeit bevor. Nicht alle werden ihr gewachsen sein. Sie erzählen von den Schwankungen Radeks. Smilgas und Preobraschenskis. Das alles weiß ich sehr gut. Sie schwanken nicht den ersten Tag, nicht den ersten Monat, nicht einmal das erste Jahr. Es war immer im höchsten Grade bemerkenswert, dass diese Genossen schwankten oder eine unrichtige Position in den Grundfragen der internationale' Revolution einnahmen. Radek verteidigte die unrichtige Linie in der Frage Chinas, des englisch-russischen Komitees und bis zum Jahre 1927 zweifelte er, ob überhaupt ein anderer ökonomischer Kurs als der Kurs Stalin-Bucharin möglich sei. Preobraschenski nahm eine ganz falsche Stellung ein in der chinesischen Frage, sowie in der Frage des Kominternprogrammes (versöhnliches Verhältnis zum National-Sozialismus). Smilga zugleich mit Radek waren gegen den Austritt der Kommunistischen Partei aus dem Kuomintang, gegen die Diktatur der chinesischen Proletariats während der Restaurationsperiode und gegen die Losung der gesetzgebenden Nationalversammlung in der Periode der Konterrevolution. Die jetzigen Schwankungen der obengenannten Genossen in der Frage der Parteiorganisation sind die Folgen der Unklarheit und Halbheit ihrer allgemeinen theoretischen und politischen Stellung. So war es immer und so wird es immer sein.

Lenin lehrte uns, das Abgehen, Abspalten, Überlaufen sogar ganz ehrenwerter, einflussreicher Genossen nicht zu fürchten. Letzten Endes entscheidet die richtig eingehaltene politische Linie. Sich an eine richtige Linie halten können in einer Periode der politischen Ebbe, der Offensive der Bourgeoisie, der Sozialdemokratie und des rechtszentristischen Blocks in der Komintern (dies sind Erscheinungen ein und derselben Ordnung) – das ist jetzt die Hauptpflicht eines proletarischen Revolutionärs. Die richtige Einschätzung der Epoche und deren bewegenden Kräfte, das richtige Voraussehen des morgigen Tages, werden alle wirklich revolutionären Elemente der Arbeiterklasse dazu zwingen, sich umzugruppieren und sich um das bolschewistische Banner zusammenzuschließen. Das ist meine Ansicht über alle diese Fragen. So sehe ich die Sachen.

Ich wurde mich freuen, wenn Sie sich den oben angeführten Betrachtungen anschließen könnten, das würde uns die Möglichkeit geben, gemeinsam zu arbeiten. Ich bin mir ganz klar darüber, wie nützlich ein solches Zusammenarbeiten für unsere Sache wäre.

Konstantinopel, den 25. April 1929

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