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Leo Trotzki 19291014 Kommunismus und Syndikalismus

Leo Trotzki: Kommunismus und Syndikalismus

[Nach Marxismus und Gewerkschaft. Essen 1976, S. 35-48]

Die Gewerkschaftsfrage ist eine der wichtigsten für die Arbeiterbewegung und deshalb auch für die Opposition. Ohne eine eindeutige Haltung in der Gewerkschaftsfrage wird die Opposition unfähig sein, einen wirklichen Einfluss in der Arbeiterklasse zu gewinnen. Das ist der Grund, warum ich es für notwendig halte, hier einige Überlegungen zur Gewerkschaftsfrage zur Diskussion vorzulegen.

Die Partei und die Gewerkschaften

1. Die Kommunistische Partei ist die grundlegende Waffe der revolutionären Aktion des Proletariats, die Kampforganisation seiner Avantgarde, die sich selbst zur Rolle des Führers der Arbeiterklasse in allen Bereichen ihres Kampfs, ohne Ausnahme, erheben muss und in Konsequenz davon auch innerhalb des Kampffeldes der Gewerkschaften.

2. Diejenigen, welche aus Prinzip die Unabhängigkeit der Gewerkschaft gegen die führende Rolle der kommunistischen Partei stellen, halten dabei –- ob sie es wollen oder nicht – die rückständigste proletarische Schicht der Avantgarde der Arbeiterklasse entgegen, stellen den Kampf für Tagesforderungen dem Kampf für die völlige Befreiung der Arbeiter entgegen, den Reformismus dem Kommunismus, den Opportunismus dem revolutionären Marxismus.

Revolutionärer Syndikalismus und Kommunismus

3. Indem er für die Unabhängigkeit der Gewerkschaften kämpfte, kämpfte der französische Vorkriegs-Syndikalismus in der Epoche seines Aufstiegs und seiner Ausbreitung wirklich für die Unabhängigkeit der Gewerkschaften vom bürgerlichen Staat und seinen Parteien, unter ihnen auch der des reformistisch-parlamentarischen Sozialismus. Dies war ein Kampf gegen den Opportunismus für einen revolutionären Weg.

Der revolutionäre Syndikalismus machte in diesem Zusammenhang aus der Autonomie der Massenorganisationen keinen Fetisch. Im Gegenteil, er verstand und predigte die führende Rolle der revolutionären Minderheit in Bezug auf die Massenorganisationen, welche die Arbeiterklasse mit all ihren Widersprüchen, ihrer Rückständigkeit und ihrer Schwäche widerspiegeln.

4. In ihrem Wesen war die Theorie der aktiven Minderheit eine unvollständige Theorie einer proletarischen Partei. In seiner ganzen Praxis war der revolutionäre Syndikalismus der Embryo einer revolutionären Partei, etwa gegenüber dem Opportunismus, das heißt, er war eine bemerkenswerte Ankündigung des revolutionären Kommunismus.

5. Die Schwäche des Anarchosyndikalismus, auch in seiner klassischen Zeit, war das Fehlen einer korrekten theoretischen Grundlage, und als ein Ergebnis daraus, ein falsches Verständnis von der Natur des Staates und seiner Rolle im Klassenkampf; eine unvollständige, nicht voll entwickelte und deshalb falsche Auffassung von der Rolle der revolutionären Minderheit, das heißt, der Partei. Von daher die Fehler in der Taktik, solche wie die Fetischisierung des Generalstreiks, das Verneinen einer Verbindung zwischen dem Aufstand und der Eroberung der Macht, etc.

6. Nach dem Krieg fand der französische Syndikalismus nicht nur seine Widerlegung, sondern auch seine Weiterentwicklung und seine Vollendung im Kommunismus. Bemühungen, den revolutionären Syndikalismus wiederzubeleben, können jetzt nur noch den Versuch bedeuten, die Geschichte zurückzudrehen. Für die Arbeiterbewegung haben sie nur noch eine reaktionäre Bedeutung.

Die Epigonen des Syndikalismus

7. Die Epigonen des Syndikalismus verwandeln (in Worten) die Unabhängigkeit der Gewerkschaftsorganisation von der Bourgeoisie und den reformistischen Sozialisten in eine Unabhängigkeit überhaupt, in eine absolute Unabhängigkeit von allen Parteien, die Kommunisten eingeschlossen. Wenn der Syndikalismus sich in der Epoche der Expansion als Avantgarde betrachtete und für die führende Rolle dieser Minderheitsvorhut unter den rückständigen Massen kämpfte, so kämpften jetzt die Epigonen des Syndikalismus gegen die gleichen Bestrebungen von Seiten der kommunistischen Avantgarde, indem sie, wenn auch ohne Erfolg, versuchen, sich selbst auf den Mangel an Entwicklung und die Vorteile der rückständigeren Teile der Arbeiterklasse zu stützen.

8. Unabhängigkeit vom Einfluss der Bourgeoisie kann kein passiver Status sein. Sie kann sich selbst nur äußern durch politische Handlungen, d.h. durch den Kampf gegen die Bourgeoisie. Dieser Kampf muss angeleitet sein durch ein eindeutiges Programm, welches eine Organisation und die Taktiken für ihre Anwendung erfordert. Es ist die Vereinigung von Programm, Organisation und Taktiken, was die Partei ausmacht. In diesem Sinne kann die wirkliche Unabhängigkeit des Proletariats vom bürgerlichen Staat nur dann erzielt werden, wenn das Proletariat seine Kämpfe unter einer revolutionären und nicht einer opportunistischen Partei austrägt.

9. Die Epigonen des Syndikalismus möchten einem weismachen, dass die Gewerkschaften für sich selbst ausreichend sind. Theoretisch bedeutet das nichts, aber praktisch heißt das die Auflösung der Avantgarde in die rückständigen Massen, d.h. in die Gewerkschaften. Je größere Massen die Gewerkschaften umschließen, desto besser sind sie in der Lage, ihre Aufgabe zu erfüllen. Im Gegensatz dazu aber wird eine proletarische Partei erst ihrem Namen gerecht, wenn sie ideologisch homogen ist, zusammengehalten wird durch die Einheit von Aktion und Organisation. Die Gewerkschaften aber als sich selbst genügend darzustellen, weil das Proletariat schon seine „Mehrheit“ erreicht hat, heißt, dem Proletariat zu schmeicheln, heißt, es anders darzustellen als es ist und unter dem Kapitalismus sein kann, der große Massen von Arbeitern in Unwissenheit und Rückständigkeit hält und nur der Avantgarde des Proletariats die Möglichkeit lässt, alle diese Schwierigkeiten zu durchbrechen und zu einer klaren Auffassung der Aufgaben ihrer Klasse als Gesamtheit zu gelangen.

Die wirkliche Autonomie der Gewerkschaften wird nicht durch die Führung der Partei verletzt

10. Die wirkliche, praktische und nicht metaphysische Unabhängigkeit der Gewerkschaftsorganisation ist durch den Kampf der kommunistischen Partei um Einfluss nicht im Geringsten gestört noch ist sie eingeschränkt. Jedes Gewerkschaftsmitglied hat das Recht, vorzuschlagen, was es für notwendig erachtet und denjenigen zu wählen, der ihm am geeignetsten erscheint. Kommunisten besitzen dieses Recht in gleicher Weise wie andere. Die Eroberung der Mehrheit in den führenden Organen durch die Kommunisten findet in völliger Übereinstimmung mit den Prinzipien der Autonomie statt, das heißt der Selbstverwaltung der Gewerkschaften. Andererseits kann kein Gewerkschaftsstatut die Partei daran hindern oder es ihr verbieten, dass sie den Generalsekretär der Gewerkschaft in ihr Zentralkomitee wählt, denn hier befinden wir uns gänzlich auf dem Gebiet der Autonomie der Partei.

11. Natürlich unterwerfen sich die Kommunisten innerhalb der Gewerkschaften der Parteidisziplin, gleichgültig welche Posten sie innehaben. Dies schließt ihre Unterordnung unter die Gewerkschaftsdisziplin nicht aus, sondern setzt sie voraus. Mit anderen Worten: die Partei wird ihnen nicht irgendeine politische Führungslinie auferlegen, welche dem Bewusstseinsstand oder den Auffassungen der Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder widerspricht.

In ganz seltenen Fällen, wenn die Partei es als unmöglich ansieht, dass ihre Mitglieder sich irgendeiner reaktionären Entscheidung der Gewerkschaften unterwerfen, wird sie ihren Mitgliedern offen die Konsequenzen darlegen, die daraus folgen, nämlich Verdrängung von Gewerkschaftsposten, Ausschlüsse usw.

Mit juristischen Formeln kann man in diesen Fragen nichts erreichen – die Autonomie ist eine rein juristische Formel. Die Frage muss von ihrem Wesen her gestellt werden, d.h. auf der Ebene der Gewerkschaftspolitik. Eine richtige Politik muss der falschen gegenübergestellt werden.

Der Charakter der Führung der Partei hängt ab von besonderen Bedingungen

12. Der Charakter der Führung der Partei, ihrer Methoden und ihrer Formen kann sich grundlegend unterscheiden in Übereinstimmung mit den allgemeinen Bedingungen eines gegebenen Landes oder mit der Periode seiner Entwicklung.

In den kapitalistischen Ländern, wo die kommunistische Partei keine Zwangsmittel besitzt, ist es klar, dass es eine Führung durch die Kommunisten nur in den Gewerkschaften als einfache Mitglieder oder als Funktionäre geben kann. Die Anzahl der Kommunisten in den führenden Positionen der Gewerkschaften ist nur eines der Mittel, um die Rolle der Partei innerhalb der Gewerkschaften zu messen. Ein viel wichtigerer Maßstab ist der Prozentsatz an einfachen kommunistischen Mitgliedern im Verhältnis zur gesamten organisierten Masse. Aber das prinzipielle Kriterium ist der allgemeine Einfluss der Partei in der Arbeiterklasse, der gemessen wird durch die Verbreitung der kommunistischen Presse, den Besuch der Parteiversammlungen, die Anzahl der Stimmen bei Wahlen und was besonders wichtig ist, die Zahl der Arbeiter und Arbeiterinnen, die aktiv die Aufrufe der Partei zum Kampf beantworten.

13. Es ist klar, dass der Einfluss der Kommunistischen Partei im Allgemeinen, die Gewerkschaften eingeschlossen, wächst, je revolutionärer die Situation wird.

Diese Bedingungen gestatten die Einschätzung des Grades und der Form einer wahren, wirklichen und nicht metaphysischen Autonomie der Gewerkschaften. Zu Zeiten des Friedens, wenn die kämpferischsten Formen gewerkschaftlicher Aktionen isolierte wirtschaftliche Streiks darstellen, hat der direkte Anteil der Partei an Gewerkschaftsaktionen zweitrangige Bedeutung. Als eine allgemeine Regel trifft die Partei nicht für jeden isolierten Streik eine Entscheidung. Durch ihre Mittel der politischen und wirtschaftlichen Information und durch ihren Ratschlag hilft sie der Gewerkschaft, die Frage zu entscheiden, ob der Streik günstig ist. Sie unterstützt den Streik durch ihre Agitation etc. Der erste Platz im Streik gehört zweifelsohne der Gewerkschaft.

Die Situation ändert sich radikal, wenn die Bewegung zu einem Generalstreik anwächst und sogar noch weiter zu einem direkten Kampf um die Macht. Unter diesen Bedingungen wird die führende Rolle der Partei ganz direkt, offen und unmittelbar. Die Gewerkschaften – selbstverständlich nicht die, welche auf die andere Seite der Barrikade übergegangen sind – werden der organisatorische Apparat der Partei, die unter den Augen der gesamten Klasse, als der Führer der Revolution an der Spitze steht und die volle Verantwortung trägt.

In dem weiten Bereich zwischen partiellem wirtschaftlichem Streik und der revolutionären Klassenerhebung stellen sich alle möglichen Formen gegenseitiger Verhältnisse zwischen der Partei und den Gewerkschaften, die verschiedenen Grade der direkten und unmittelbaren Führung etc.

Aber unter allen Bedingungen versucht die Partei die allgemeine Führung zu gewinnen, indem sie sich auf die wirkliche Autonomie der Gewerkschaften stützt, die als Organisationen – man braucht es nicht extra zu sagen – ihr nicht „unterworfen“ sind.

Die politische Unabhängigkeit der Gewerkschaften ist eine Einbildung

14. Die Tatsachen zeigen, dass nirgendwo politisch „unabhängige“ Gewerkschaften existieren. Es hat niemals solche gegeben. Erfahrung und Theorie lehren uns, dass es auch niemals solche geben wird. In den Vereinigten Staaten sind die Gewerkschaften durch ihren Apparat direkt an das Management der Industrie und die bürgerlichen Parteien gebunden. In England, wo die Gewerkschaften in der Vergangenheit hauptsächlich die Liberalen unterstützten, bilden sie jetzt die materielle Grundlage der Labour Party. In Deutschland marschieren die Gewerkschaften unter dem Banner der Sozialdemokratie. In der Sowjetrepublik gehört ihre Führung den Bolschewiki. In Frankreich folgt eine Gewerkschaftsorganisation den Sozialisten, die andere den Kommunisten. In Finnland wurden die Gewerkschaften gerade erst vor kurzem gespalten; die eine wird in Richtung der Sozialdemokratie, die andere in Richtung Kommunismus gehen. So wie hier ist es überall.

Die Theoretiker der „Unabhängigkeit“ der Gewerkschaftsbewegung haben sich bis heute nicht die Mühe gemacht, einmal darüber nachzudenken, warum ihre Forderung sich nicht nur nirgendwo ihrer praktischen Verwirklichung nähert, sondern im Gegenteil, überall – ohne Ausnahme – die Abhängigkeit der Gewerkschaften von der Führung einer Partei immer deutlicher und offener wird. Dies entspricht sogar völlig dem Charakter der imperialistischen Epoche, die alle Klassenbeziehungen offenlegt und die gerade innerhalb des Proletariats die Widersprüche zwischen seiner Aristokratie und seinen ausgebeuteten Schichten verschärft.

Die Syndikalistische Liga, Embryo einer Partei

15. Der zusammengefasste Ausdruck des überholten Syndikalismus ist die sogenannte Syndikalistische Liga (Ligue Syndicaliste). Durch alle ihre Merkmale tritt sie als eine politische Organisation in Erscheinung, die versucht, die Gewerkschaftsbewegung ihrem Einfluss zu unterwerfen. In der Tat rekrutiert die Liga ihre Mitglieder nicht in Übereinstimmung mit dem Gewerkschaftsprinzip, sondern in Übereinstimmung mit dem Prinzip von politischen Gruppierungen; sie hat ihre Plattform, wenn nicht sogar ihr Programm und verteidigt sie in ihren Publikationen; sie hat ihre eigene interne Disziplin innerhalb der Gewerkschaftsbewegung. Auf den Kongressen der Konföderationen handeln ihre Parteigänger als eine politische Fraktion in derselben Weise wie die kommunistische Fraktion. Wir wollen uns nicht selbst in Worten verlieren: die Tendenz der Syndikalistischen Liga sieht ihre einzige Aufgabe in einem Kampf zur Befreiung der beiden Konföderationen von der Führung der Sozialisten und Kommunisten, um sie unter der Führung der Gruppe von Monatte zu vereinen.

Die Liga handelt nicht offen im Namen des Rechts und der Notwendigkeit für die fortgeschrittene Minderheit, einen Kampf zur Ausdehnung ihres Einflusses in den rückständigsten Massen zu führen; sie versteckt sich hinter dem, was sie in den Gewerkschaften „Unabhängigkeit“ nennt. Von diesem Standpunkt aus nähert sich die Liga der Sozialistischen Partei, die ihre Führung auch unter dem Deckmantel der Phrase von der „Unabhängigkeit der Gewerkschaftsbewegung“ praktiziert. Die Kommunistische Partei dagegen sagt offen zur Arbeiterklasse: hier ist mein Programm, sind meine Taktiken und meine Politik, die ich den Gewerkschaften vorschlage.

Das Proletariat darf niemals irgend etwas blind glauben. Es muss jede Partei und jede Organisation von ihrer Arbeit her beurteilen. Aber die Arbeiter sollten ein doppeltes und dreifaches Misstrauen gegenüber solchen Heuchlern in Bezug auf die Führung haben, die Inkognito, unter einer Maske handeln und das Proletariat glauben machen wollen, dass es eine Führung im allgemeinen nicht brauche.

Das Proletariat braucht nicht die ,Autonomie‘ der Gewerkschaften, sondern eine richtige Führung

16. Das Recht einer politischen Partei, dafür zu kämpfen, die Gewerkschaften unter ihren Einfluss zu bekommen, soll nicht geleugnet werden, aber man muss doch folgende Frage stellen: im Namen welchen Programms und welcher Taktiken kämpft diese Organisation? Von dieser Sicht her gibt die Syndikalistische Liga nicht die notwendigen Garantien. Ihr Programm ist äußerst verschwommen, ebenso ihre Taktiken. In ihren politischen Einschätzungen handelt sie nur von Ereignis zu Ereignis. Die proletarische Revolution und sogar die Diktatur des Proletariats anerkennend, leugnet sie aber die Partei und kämpft gegen die kommunistische Führung, ohne welche die proletarische Revolution immer riskieren würde, eine sinnlose Phrase zu bleiben.

17. Die Ideologie der Unabhängigkeit der Gewerkschaften hat nichts gemeinsam mit den Ideen und Gefühlen des Proletariats als einer Klasse. Wenn die Partei durch ihre Führung in der Lage ist, eine richtige klar sehende und standhafte Politik in den Gewerkschaften sicherzustellen, wird nicht ein einziger Arbeiter auf die Idee kommen, gegen die Führung der Partei zu rebellieren. Die historische Erfahrung der Bolschewisten hat das bestätigt. Dies gilt genauso für Frankreich, wo Kommunisten bei den Wahlen 1.200.000 Stimmen erlangten, während die Confédération Générale du Travail Unitaire (die zentrale Organisation der Roten Gewerkschaften) nur ein Viertel oder ein Drittel dieser Zahl bekam. Es ist klar, dass die abstrakte Forderung nach Unabhängigkeit unter keinen Umständen von den Massen kommt. Die Gewerkschaftsbürokratie ist eine völlig andere Sache. Sie sieht in der Parteibürokratie nicht nur eine berufliche Konkurrenz, sondern versucht sich sogar von der Kontrolle der Avantgarde des Proletariats unabhängig zu machen. Die Forderung nach Unabhängigkeit ist von ihrem wirklichen Ursprung her eine bürokratische und keine Klassenforderung.

Der Fetisch der Gewerkschaftseinheit

18. Nach dem Fetisch der „Unabhängigkeit“ verwandelt die Syndikalistische Liga auch die Frage der Gewerkschaftseinheit in einen Fetisch. Man braucht nicht extra zu sagen, dass die Erhaltung der Einheit der Gewerkschaftsorganisationen enorme Vorteile hat, sowohl aus der Sicht der täglichen Aufgaben des Proletariats als aus der Sicht des Kampfes der Kommunistischen Partei zur Ausdehnung ihres Einflusses in den Massen. Aber die Tatsachen zeigen, dass gleich nach den ersten Erfolgen des revolutionären Flügels in den Gewerkschaften die Opportunisten wohlüberlegt den Weg der Spaltung eingeschlagen haben. Friedliche Beziehungen zur Bourgeoisie sind ihnen lieber als die Einheit des Proletariats. Das ist die unbezweifelbare Bilanz der Nachkriegserfahrungen.

Wir Kommunisten sind in jedem Fall daran interessiert, den Arbeitern zu versichern, dass die Verantwortung für die Spaltung der Gewerkschaftsorganisationen voll die Sozialdemokratie trifft. Aber daraus folgt noch keineswegs, dass die hohle Formulierung der Einheit wichtiger für uns ist als die revolutionären Aufgaben der Arbeiterklasse.

19. Acht Jahre sind vergangen, seit die Gewerkschaft in Frankreich sich gespalten hat. Während dieser Zeit haben sich die beiden Organisationen endgültig mit den beiden Parteien, die sich als Todfeinde gegenüberstehen, verbunden. Unter diesen Bedingungen zu glauben, dass es möglich sei, durch bloßes Predigen der Einheit, die Gewerkschaftsbewegung wieder zu vereinigen, würde bedeuten, dass man Illusionen nährt. Zu erklären, dass ohne eine vorherige Vereinigung der beiden Gewerkschaftsorganisationen nicht nur die proletarische Revolution, sondern sogar ein ernsthafter Klassenkampf unmöglich sei, hieße, die Zukunft der Revolution von der korrupten Clique von gewerkschaftlichen Reformisten abhängig zu machen.

In Wirklichkeit hängt die Zukunft der Revolution nicht von der Fusion zweier Gewerkschaftsapparate ab, sondern von dem Zusammenschluss der Mehrheit der Arbeiterklasse um revolutionäre Forderungen und die revolutionären Methoden des Kampfs.

Gegenwärtig ist die Vereinigung der Arbeiterklasse nur möglich durch einen Kampf gegen die Klassenkollaborateure (die Koalitionsanhänger), die man nicht nur in den politischen Parteien, sondern auch in den Gewerkschaften findet.

20. Der wirkliche Weg zur revolutionären Einheit des Proletariats liegt in der Entwicklung, Korrektur, Vergrößerung und Festigung der revolutionären CGTU und in der Schwächung der reformistischen CGT. Es ist nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil sehr wahrscheinlich, dass zur Zeit seiner Revolution das französische Proletariat mit zwei Konföderationen in den Kampf treten wird: hinter der einen wird man die Massen finden und hinter der anderen die Arbeiteraristokratie und die Bürokratie.

Der Charakter der Gewerkschaftsorganisation

21. Die neue Gewerkschaftsopposition will nicht den Weg des Syndikalismus beschreiten. Zur gleichen Zeit bricht sie mit der Partei – nicht mit einer bestimmten Führung, sondern mit der Partei im Allgemeinen. Das bedeutet ganz einfach, dass sie sich ideologisch endgültig entwaffnet und zurückfällt auf Positionen der Handwerkelei und des Nur-Gewerkschaftlertums.

22. Die Gewerkschaftsopposition ist als Ganzes sehr vielschichtig. Aber sie ist charakterisiert durch einige allgemeine Erscheinungen, die sie nicht näher an die Linke Kommunistische Opposition heranbringen, sondern sie im Gegenteil entfremden und ihr entgegenstellen.

Die Gewerkschaftsopposition kämpft nicht gegen die gedankenlosen Aktionen und falschen Methoden der kommunistischen Führung, sondern gegen den Einfluss des Kommunismus in der Arbeiterklasse.

Die Gewerkschaftsopposition kämpft nicht gegen die ultralinken Beurteilungen der gegebenen Situation und ihres Entwicklungstempos sondern handelt in der Wirklichkeit gegen die revolutionäre Perspektive im Allgemeinen. Die Gewerkschaftsopposition kämpft nicht gegen die karikierten Methoden des Anti-Militarismus, sondern stellt eine pazifistische Orientierung auf. Mit anderen Worten: die Gewerkschaftsopposition entwickelt sich ganz eindeutig im reformistischen Geiste.

23. Es ist völlig falsch zu behaupten, dass in diesen letzten Jahren – im Gegensatz zu dem, was in Deutschland, der Tschechoslowakei und anderen Ländern geschah – sich in Frankreich keineswegs ein rechter Flügel im revolutionären Lager gebildet habe. Der Hauptpunkt ist, dass die rechte Opposition in Frankreich – in Übereinstimmung mit den Traditionen der französischen Arbeiterbewegung – einen Gewerkschaftscharakter angenommen hat, der auf diese Weise ihre politischen Gesichtszüge verschleiert, wobei sie die revolutionäre Politik des Kommunismus aufgibt. Im Grunde repräsentiert die Mehrheit der Gewerkschaftsopposition den rechten Flügel geradeso wie die Brandlergruppe in Deutschland, die tschechischen Gewerkschafter, die nach der Spaltung eine klare reformistische Position eingenommen haben, etc.

Die Politik der Kommunistischen Partei

24. Man mag versuchen einzuwenden, dass alle vorausgegangenen Überlegungen nur unter der Voraussetzung richtig sein würden, dass die Kommunistische Partei eine richtige Politik verfolgt. Aber dieser Einwand ist unbegründet. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Partei, die das Proletariat in seiner zukünftigen Form repräsentiert, und den Gewerkschaften, welche das Proletariat repräsentieren wie es ist, bildet die grundlegendste Frage des revolutionären Marxismus. Es wäre glatter Selbstmord, die einzig mögliche prinzipielle Antwort auf diese Frage verächtlich beiseite zu schieben, nur weil die Kommunistische Partei unter dem Eindruck von objektiven und subjektiven Gründen – über die wir schon mehr als einmal gesprochen haben – im Augenblick gegenüber den Gewerkschaften und in anderen Bereichen eine falsche Politik betreibt.

Eine richtige Politik muss einer falschen entgegengesetzt werden. Um dieses Ziel zu erreichen hat sich die Linke Opposition als eine Fraktion konstituiert.

Wenn angenommen werden muss, dass die französische Kommunistische Partei in ihrer Gesamtheit sich in einem völlig unveränderbaren und hoffnungslosen Zustand befindet – was wir absolut nicht glauben – muss ihr eine andere Partei entgegengestellt werden. Aber die Frage der Beziehung der Partei zur Klasse wird durch diese Tatsache nicht um einen i-Punkt geändert.

Die Linke Opposition glaubt, dass es nur durch die Kommunistische Partei (oder im Augenblick durch eine Fraktion) möglich ist, die Gewerkschaftsbewegung zu beeinflussen, ihr bei der Suche nach einer richtigen Orientierung zu helfen und sie mit den richtigen Forderungen auszustatten. Neben ihren anderen Eigenschaften ist die Kommunistische Partei das zentrale ideologische Laboratorium der Arbeiterklasse.

25. Die richtig verstandene Aufgabe der Kommunistischen Partei besteht nicht allein darin, Einfluss in den Gewerkschaften zu erlangen, sondern, über die Gewerkschaften Einfluss auf die Mehrheit der Arbeiterklasse zu gewinnen. Das ist nur möglich, wenn die Methoden, die die Partei in den Gewerkschaften anwendet, der Natur und den Aufgaben der letzteren entsprechen. Der Kampf für den Einfluss der Partei in den Gewerkschaften findet seinen objektiven Ausdruck in der Tatsache, dass sie voller Leben sind, oder es nicht sind, und in der Tatsache, dass die Zahl ihrer Mitglieder anwächst, ebenso wie in ihren Beziehungen zu den breitesten Massen. Die Beziehungen zwischen der Partei und den Massen sind falsch, wenn die Partei ihren Einfluss in den Gewerkschaften nur um den Preis einer Einengung und Erhebung der Gewerkschaften zur Fraktion erreicht – sie also in bloße Hilfsmittel der Partei für kurzfristige Ziele verkehrt und sie daran hindert, wirkliche Massenorganisationen zu werden. Wir haben es nicht nötig, uns bei den Ursachen für eine solche Situation aufzuhalten. Das haben wir mehr als einmal getan und tun es jeden Tag. Die Veränderbarkeit der offiziellen kommunistischen Politik spiegelt sich in ihrer abenteuerlichen Tendenz, sich selbst in der kürzesten Zeit zum Herren der Arbeiterklasse zu machen durch Mittel des Theaterspielens, Erfindungen, oberflächliche Agitation etc. Der Weg heraus aus dieser Situation liegt nicht darin, die Gewerkschaften der Partei (oder der Fraktion) gegenüberzustellen, sondern in einem unversöhnlichen Kampf zur Änderung der gesamten Politik der Partei und ebenso der Gewerkschaften.

Die Aufgaben der Kommunistischen Linken

26. Die Linke Opposition muss die Fragen der Gewerkschaftsbewegung in unlösliche Verbindung zu den Fragen des politischen Kampfes des Proletariats stellen. Sie muss eine konkrete Analyse des gegenwärtigen Stadiums der französischen Arbeiterbewegung geben. Von der gegenwärtigen Streikbewegung und ihren Perspektiven in Beziehung zu den Perspektiven der ökonomischen Entwicklung in Frankreich muss sie eine sowohl quantitative als auch qualitative Einschätzung geben. Es ist unnötig zu sagen, dass die Linke Opposition die Perspektive der kapitalistischen Stabilisierung und des Friedens für Jahrzehnte völlig ausschließt. Sie geht aus von der Einschätzung unserer Epoche als einer revolutionären. Sie beginnt bei der Notwendigkeit einer rechtzeitigen Vorbereitung der Avantgarde des Proletariats angesichts von plötzlichen Änderungen, die nicht nur wahrscheinlich, sondern unausweichlich sind. Je energischer und unversöhnlicher ihre Aktion ist gegenüber den angeblich revolutionären hochtrabenden Reden der zentristischen Bürokratie, gegen die politische Hysterie, welche nicht Bedingungen in Rechnung stellt, welche heute mit gestern oder morgen vertauscht, desto fester und unnachgiebiger muss sie sich gegen die Elemente der Rechten stellen, die ihre Kritik aufgenommen haben und sich unter ihr verbergen, um ihre Tendenzen in den revolutionären Marxismus einzuschleusen.

27. Eine neue Definition von Grenzen? Neue Polemiken? Neue Spaltungen? Das werden die Klagen der guten aber müden Seelen sein, die es vorziehen würden, die Opposition in ein ruhiges Rückzugsgebiet zu verwandeln, wo man sich in aller Ruhe von den großen Aufgaben ausruhen kann, während man den Namen der Revolutionäre „der Linken“ rein erhält. Nein! sagen wir ihnen, diesen abgeschlafften Seelen: wir befinden uns bestimmt nicht auf dem gleichen Weg. Die Wahrheit war noch nie die Summe von kleinen Irrtümern. Eine revolutionäre Organisation hat sich bisher noch nie aus kleinen konservativen Gruppen zusammengesetzt, die in erster Linie danach sehen, dass sie sich selbst von allen anderen unterscheiden. Es gibt Epochen, in denen die revolutionäre Tendenz auf eine kleine Minderheit in der Arbeiterbewegung beschränkt ist. Aber diese Epochen erfordern nicht Vereinbarungen zwischen den kleinen Gruppen bei gegenseitigem Verbergen der Fehler, sondern im Gegenteil einen doppelt unversöhnlichen Kampf für eine richtige Perspektive und eine Erziehung der Kader im Geiste des ursprünglichen Marxismus. Der Sieg ist nur auf diesem Wege möglich.

28. Soweit der Autor dieser Zeilen persönlich betroffen ist, muss er zugeben, dass die Einschätzung, die er von der Monatte-Gruppe hatte, als er aus der Sowjetunion deportiert wurde, sich als zu optimistisch und dadurch als falsch herausgestellt hat. Mehrere Jahre lang hatte der Autor dieser Zeilen nicht die Gelegenheit, die Aktivität dieser Gruppe zu verfolgen. Er beurteilte sie auf Grund von alten Erinnerungen. Die Meinungsverschiedenheiten haben sich in der Tat nicht nur als grundsätzlicher, sondern sogar noch brennender erwiesen als man vermutet haben mag. Die Ereignisse der jüngsten Zeit haben ohne Zweifel deutlich gemacht, dass die Kommunistische Opposition in Frankreich nicht vorwärts kommen wird ohne eine klare und präzise ideologische Trennung von der Linie des Syndikalismus. Die vorgeschlagenen Thesen stellen selber den ersten Schritt auf dem Weg zur Abgrenzung dar, welche das Vorspiel ist für einen erfolgreichen Kampf gegen das revolutionäre Geschwätz und das opportunistische Wesen von Cachin, Monmousseau und Konsorten.

14. Oktober 1929

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