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Leo Trotzki 19290612 Über Brandler-Thalheimer

Leo Trotzki: Über Brandler-Thalheimer

Brief an einen „Versöhnler"

[Nach Die Aktion, 19. Jahrgang, Heft 5-8 (Ende September 1929), Spalte 156-159]

Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren ausführlichen Brief vom 3. Juni: er enthält eine Reihe für mich wichtiger Nachrichten, die ich künftig zu benutzen hoffe. Hier will ich mich nur auf die Frage unseres Verhältnisses zu der deutschen rechten Opposition beschränken.

1. Sie erkennen an, dass Brandler-Thalheimer die revolutionäre Lage in Deutschland im Jahre 1923, die revolutionäre Lage in China 26-27, die revolutionäre Lage in England im Jahre 26, und endlich den thermidorianischen Charakter des Kampfes gegen den „Trotzkismus" von 1923-1927 nicht verstanden haben. Das alles erkennen Sie an. Aber damit geben Sie zu, dass Brandler-Thalheimer keine Revolutionäre sind, denn Revolutionäre werden bestimmt und erkannt nach ihrem Verhältnis zu den Grundproblemen der Weltrevolution. Was können denn wir, Bolschewiki, Gemeinsames in der Politik haben mit Nicht-Revolutionären, noch mehr, mit Menschen, die in den verantwortungsvollsten Momenten im Laufe der letzten 6-7 Jahre gegen unsere revolutionären Entschließungen und Losungen kämpften?

2. Dennoch sind Sie gekränkt, dass man Brandler-Thalheimer als „Liquidator-Menschewiki" bezeichnet. Wenn man das buchstäblich auffasst, ist es natürlich unrichtig. Aber die Tendenz, die sie in Gegensatz zu uns stellt, ist zweifellos eine liquidatorische und menschewistische Tendenz, Die Wiener „Arbeiter-Zeitung" kritisiert mich genau so, wie Thalheimer. Zusammen mit Thalheimer sympathisiert die Wiener „Arbeiter-Zeitung" mit Stalin gegen mich, mit Rykow und Bucharin gegen Stalin. Aber die Wiener „Arbeiter-Zeitung" tut das offen, während Brandler-Thalheimer jämmerlicherweise Versteck spielen. In diesem Falle ziehe ich die Wiener „Arbeiter-Zeitung", d. h, den offenen Feind, vor.

3. In Ihrem Briefe gibt es tödliche Argumente gegen die Rechten. Dessen ungeachtet halten Sie es für nötig, hinzuzufügen, dass die Lage „in der deutschen kommunistischen Partei besser wäre, wenn sie die sogenannte rechte Politik und nicht die heutige durchführen würde".

Aber wir haben doch schon einmal die Brandlersche Politik als führende Politik der Partei gesehen. Sie führte zum größten katastrophalen Ende des Jahres 1923. Diese Katastrophe liegt allen Wendungen des deutschen Kommunismus nach rechts und links zu Grunde. Diese Katastrophe ist die politische Voraussetzung der weiteren Stabilisation des europäischen Kapitalismus. Wie kann man da nicht sehen, dass Brandler, als Politiker, auf der anderen Seite der Barrikade steht?

4. Sie wissen, ich habe nicht sogleich diesen vernichtenden Schluss gezogen. Ich wollte hoffen, dass Brandler lernen wird. Im Herbst 1923 war er sich seiner Unfähigkeit bewusst. Er sagte mir selbst mehrere Male, dass er außerstande sei, die revolutionäre Lage zu erkennen. Allerdings nachdem er die revolutionäre Lage versäumt hatte, wurde er hochmütig. Er fing an, mich des „Pessimismus" zu beschuldigen. Er sah dem Jahre 1924 optimistischer entgegen. Da begriff ich, dass dieser Mann das Antlitz der Revolution von deren Rücken nicht zu unterscheiden vermochte.

Wäre das nur individuelle Eigenart – so wäre das nur ein halbes Unglück. Aber das ist jetzt zu einem System erhoben und auf diesem System die Fraktion aufgebaut. Was können wir mit solcher Fraktion Gemeinsames haben?

5. Damit verteidige ich nicht im geringsten die Politik Maslows und der Anderen. Im Jahre 1923 war der Wort-Radikalismus Maslows mit der gleichen Passivität, wie bei Brandler verbunden. Ohne auch nur das Abc der Frage zu begreifen, versuchte Maslow meine Forderung der Festsetzung eines Termines des Aufstandes zu verhöhnen. Noch auf dem X. Kongress dachte er, dass die Revolution aufwärts ginge. Mit anderen Worten, er teilte in allen Grundfragen Brandlers Fehler, indem er sie mit der Sauce der Ultralinken servierte. Aber Maslow versuchte zu lernen, bis er in den Sumpf des Kapitulantentums plumpste. Andere gewesene Ultra-Linke haben etwas gelernt. Ich übernehme durchaus keine Verantwortung für die Linie des „Volkswillens" im Ganzen. Dort gibt es auch jetzt noch nicht wenig Rückfälle in die Vergangenheit, d. h. Vereinigung von opportunistischen Tendenzen mit ultralinken. Immerhin haben diese Genossen viel gelernt und viele von ihnen haben gezeigt, dass sie fähig seien, auch weiter zu lernen. Umgekehrt, Brandler-Thalheimer haben einen Riesenschritt zurück getan, indem sie ihre revolutionäre Blindheit zur Plattform erhoben.

6. Sie sehen ihren Verdienst in ihrem Kampf für Partei-Demokratie. Diesen Verdienst sehe ich nicht. Brandler-Thalheimer haben niemals ihre Stimme gegen die Zerschmetterung der linken Opposition erhoben. Sie haben Stalins Regime nicht nur geduldet, sondern auch unterstützt. Sie sangen bei der thermidorianischen Hetze gegen den Trotzkismus mit. Wann fühlten sie sich zum Kampf für die Partei-Demokratie berufen? Als der Apparat anfing, sie selbst zu drücken und als sie sich überzeugt hatten, dass sie durch Liebedienerei allein bei den Stalinisten doch nicht zur Macht gelangen konnten. Kann man denn ein Verdienst der Opportunisten darin sehen, dass sie zu schreien anfangen, wenn die Zentristen, die Kritik der Linken fürchtend, sie zu vernichten anfangen? Niemand liebt geprügelt zu werden. Darin liegt kein Verdienst.

Die zentristischen Kampfmethoden gegen die Rechten sind widerwärtig und helfen den Rechten letzten Endes. Das bedeutet aber durchaus nicht, dass das demokratische Regime der kommunistischen Partei den opportunistischen Tendenzen Brandlers das Bürgerrecht sichern muss. Man darf die Partei-Demokratie nicht als Ding an sich betrachten. Wir sprechen von Partei-Demokratie auf bestimmten revolutionären Grundlagen, die den Brandlerismus ausschließen.

7. Den zweiten Verdienst der Brandlerianer sehen Sie im Kampf für die Übergangs-Forderungen und dem Bestreben, eine Verbindung mit den Massen usw. zu finden. Brauchen wir denn aber die Verbindung mit den Massen an sich und nicht wegen der revolutionären und damit internationalen Ziele? Wenn man von der nackten Verbindung mit den Massen ausgeht, so muss man den Blick nach der 2. Internationale und nach Amsterdam richten. In dieser Hinsicht ist die deutsche Sozialdemokratie viel anregender als Brandler-Thalheimer.

Man kann natürlich sagen, das ist Übertreibung: Brandler-Thalheimer sind nicht die Sozialdemokratie. Natürlich, noch nicht Sozialdemokratie und natürlich nicht die heutige Sozialdemokratie. Man muss aber verstehen, die Erscheinungen in ihrer Entwicklung zu betrachten. Die deutsche Sozialdemokratie hat auch nicht mit Hermann Müller angefangen. Andrerseits, Brandler will erst vorläufig die Massen haben, hat sie aber noch nicht. Sie sprechen ja selbst mit Empörung davon, dass die Brandlerianer dem internationalen Proletariat den Rücken kehren. Weder die russische Revolution, noch die chinesische, noch die ganze übrige Menschheit geht sie etwas an, Sie wollen ihre Politik in Deutschland machen, wie Stalin den Sozialismus in Russland aufbauen will. Lebe und lass die Anderen leben. Wir wissen aber, wozu das geführt hat: zum 4. August 1914. Erlauben Sie, Sie noch einmal zu erinnern, dass junge, besonders oppositionelle opportunistische Fraktionen genau um so viel „sympathischer" als die alten sozial-chauvinistischen Parteien sind, um wie viel ein Ferkel sympathischer ist als ein altes Schwein.

8. Diejenigen irren sich aber gründlich, die sich einbilden, Brandler könne in Wirklichkeit die Massen auf dem Boden der „Realpolitik" (d. h. des National-Reformismus) führen. Nein, auf diesem Boden hat Brandler einen unbesiegbaren Konkurrenten. Insofern ein Massen-Arbeiter zwischen Brandler und Wels wählen wird, wird er sich für Wels entscheiden und seinerseits Recht haben: Unnötig etwas noch einmal anzufangen, was schon durchgemacht ist.

9. Es scheint, Sie rechnen Brandler-Thalheimers Kritik der 1. Mai-Politik Thälmanns als verdienstvoll an. Dabei drücken Sie Ihre Überzeugung aus, dass ich diese Politik nicht billigen könne. Ich weiß nicht, haben Sie meinen Brief an den VI. Kongress „Was weiter?" gelesen? In diesem Brief befindet sich ein spezielles Kapitel, das der Perspektive der Linksschwenkung der deutschen Arbeiterklasse gewidmet ist und direkte und kategorische Warnung vor Thälmanns gehirnloser Überschätzung des Grades dieser Linksrichtung und vor der daraus folgenden Gefahr ultra-linker Abenteuer enthält. Über dies alles werde ich in einer Broschüre, die ich im nächsten Monat herauszugeben hoffe, ausführlicher reden. Aber indem ich das bürokratische Abenteurertum kritisiere, ziehe ich doch einen desto schärferen Trennungsstrich zwischen meiner Kritik und der von Brandler. Die Opportunisten sehen immer sehr siegreich aus, wenn sie das revolutionäre Abenteurertum kritisieren. Aber sie bereiten es auch vor; Brandler bereitete Maslow vor, wie Maslow Thälmann vorbereitet hat, der alle Fehler Brandlers und Maslow vereinigte und seine eigenen hinzufügte, die aus bürokratischer Dummheit und prahlerischer Unwissenheit hervorgingen.

10. Sie zeigen einzelne Gruppen der linken Opposition und nennen Sie „sektantisch". Man muss sich über den Inhalt dieses Wortes einigen. Wir haben Elemente, die sich mit häuslicher Kritik der Fehler der offiziellen Partei zufrieden geben, ohne sich breitere Aufgaben zu stellen, ohne sich irgend welche praktische revolutionäre Verpflichtungen aufzuerlegen. Sie machen aus der revolutionären Opposition einen Titel, etwas in der Art des Ordens der Ehrenlegion. Es gibt auch sektantische Tendenzen, die sich mit Spaltungen eines jeden Haares in 4 Teile befassen. Damit muss man kämpfen. Und ich persönlich bin zum Kampfe bereit ohne, wenn es nötig sein sollte, vor alter Freundschaft, persönlichen Beziehungen usw. usw. Halt zu machen.

Dennoch, man darf sich keine Illusionen machen, Die revolutionären Marxisten sind wieder einmal – nicht zum ersten und wahrscheinlich nicht zum letzten Male – in die Lage einer internationalen Propaganda-Gesellschaft getrieben worden. In solcher Lage, ihrem ganzen Wesen nach, liegen schon Elemente des Sektierertums, die man nur stufenweise überwinden kann. Es scheint die Tatsache schreckt Sie einfach, dass Sie wenig zahlreich sind. Natürlich, das ist unangenehm. Natürlich, es wäre besser hinter sich Millionen-Organisationen zu haben. Aber woher sollen wir, die Avantgarde der Avantgarde hinter uns Millionen-Organisationen haben, den nächsten Tag, nachdem die Weltrevolution in den wichtigsten Ländern der Welt eine katastrophale Niederlage erlitten hat, hervorgerufen durch menschewistische Führung unter der falschen Maske des Bolschewismus? Woher? Woher? Wir durchschreiten eine Periode kolossaler Reaktion nach den revolutionären Jahren (1917-1923). Auf einer neuen, höheren historischen Stufe sind wir, revolutionäre Marxisten, in die Lage einer kleinen verfolgten Minderheit zurückgeworfen worden, beinahe wie am Anfang des imperialistischen Krieges. Wie die ganze Geschichte zeigt, von der 1. Internationale z.B. angefangen, sind solche Rückfälle unvermeidlich. Unser Vorteil vor unseren Vorgängern besteht darin, dass unsere Umgebung reifer, und wir selbst reifer sind, denn wir stehen auf den Schultern von Marx, Lenin und vielen anderen. Diesen unseren Vorteil realisieren können wir nur in dem Falle, wenn wir die größte ideologische Unversöhnlichkeit offenbaren, eine grausamere als Lenins Unversöhnlichkeit am Anfang des imperialistischen Krieges. Von uns werden noch solch charakterlose Impressionisten wie Radek weggehen. Sie werden unbedingt von unserem „Sektierertum" reden. Man darf keine Worte fürchten. Wir haben schon zweimal alles das durchgemacht. So war es während der Reaktion 1907-1912 in Russland. So war es während des Krieges in ganz Europa. Die heutige Reaktion ist tiefer als die vorhergehenden. Einzelne Kapitulationen, Desertionen und direkter Verrat werden noch stattfinden. Das liegt in der Natur der jetzigen Periode. Desto vertrauenswürdiger wird die Auslese sein. Die größte Ehre für einen wahren Revolutionär ist jetzt ein „Sektierer" des revolutionären Marxismus in den Augen dieser Philister, der Greiner, der Maulaffen zu sein. Ich wiederhole: jetzt sind wir wieder nur eine internationale Propaganda-Gesellschaft. Darin sehe ich nicht den geringsten Grund zum Pessimismus, ungeachtet dessen, dass wir hinter uns den großen historischen Berg der Oktoberrevolution haben. Richtiger gesagt gerade darum. Ich zweifle nicht, dass die Entwicklung des neuen Kapitels der proletarischen Revolution ihren Stammbaum von unserer „Sektierer"-Gruppe ableiten wird.

11. Zum Schluss einige Worte über die Fraktion Brandler-Thalheimer im Ganzen. Sie sind mit mir darüber einig, dass Brandler-Thalheimer selbst unverbesserlich sind. Ich bin bereit, Ihnen zuzustimmen, dass ihre Fraktion besser als die Führer ist. Viele Arbeiter schließen sich dieser Fraktion an, verzweifelt über die Politik der offiziellen Partei und doch nicht imstande, die unglückselige Führung der Ultra-Linken nach 1923 zu vergessen. Das ist alles richtig. Ein Teil dieser Arbeiter, ebenso wie ein Teil der ultralinken Arbeiter wird zur Sozialdemokratie übergehen. Ein Teil wird zu uns kommen, wenn wir die Rechten nicht unterstützen werden. Unsere Aufgabe besteht darin, dass wir erklären, die Brandlersche Fraktion sei nur eine neue Tür zu den Sozialdemokraten.

12. Brauchen wir eine Plattform von Übergangs-Forderungen? Sie ist nötig. Brauchen wir eine richtige Taktik in den Gewerkschaften? Unbedingt. Aber über diese Fragen kann man mit denen reden, die fest und klar für sich entschieden haben, wozu das alles notwendig ist. So, wie ich nicht über die verschiedenen Strömungen im Materialismus mit einem Menschen reden werde, der sich bekreuzigt, wenn er an einer Kirche vorbei kommt, genau so werde ich nicht Losungen und Taktik mit Brandler erörtern, der den Rücken der Revolution prinzipiell als Antlitz ansieht (und umgekehrt). Man muss sich erst auf den prinzipiellen Stellungen befestigen, den richtigen Ausgangspunkt besetzen, und dann die taktischen Linien entfalten. Wir befinden uns in der Periode der prinzipiellen Selbstaufklärung und der unerbittlichen Absonderung von den Opportunisten und Verwirrern. Nur in dieser Richtung liegt der Ausgang auf den großen Weg der Revolution.

Mit starkem und unversöhnlichen Gruß

Konstantinopel, 12. Juni 1929

Ihr L. Trotzki

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