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Leo Trotzki 19291109 Was geschieht in China?

Leo Trotzki: Was geschieht in China?

[Nach China. Die erwürgte Revolution. Band 2. Berlin 1975, S. 182-186]

Unter den Telegrammen der Prawda wurde mehrmals im Oktober in der kleinsten Schrift berichtet, dass eine bewaffnete kommunistische Abteilung unter Befehl des Genossen Tschu Deh erfolgreich auf Tschao-Tscho marschiert (Guangdong), dass diese Abteilung von 5.000 auf 20.000 angewachsen ist usw. Wir erfahren so wie zufällig aus den lakonischen Telegrammen der Prawda, dass die chinesischen Kommunisten einen bewaffneten Kampf gegen Tschiang Kai-schek führen. Welche Bedeutung hat dieser Kampf? Seine Ursprünge? Seine Perspektiven? Hierüber wird uns nicht ein Wort mitgeteilt. Wenn die neue Revolution in China soweit gereift ist, dass die Kommunisten zu den Waffen gegriffen haben, dann würde es angesichts von Ereignissen einer solch gigantischen historischen Wichtigkeit notwendig erscheinen, die ganze Internationale zu mobilisieren. Warum also hören wir nichts dieser Art? Und wenn die Situation in China nicht so ist, dass der bewaffnetet Kampf der Kommunisten um die Macht auf der Tagesordnung steht, warum und wie hat dann eine kommunistische Abteilung den bewaffneten Kampf gegen Tschiang Kai-schek angefangen, d. h. gegen die bürgerliche Militärdiktatur?

Ja, warum haben die chinesischen Kommunisten sich im Aufstand erhoben? Vielleicht weil das chinesische Proletariat bereits Zeit fand, seine Wunden zu heilen? Weil die demoralisierte und geschwächte KP Zeit fand, sich auf die revolutionäre Welle zu erheben? Haben die städtischen Arbeiter ihren Kontakt mit den revolutionären Massen auf dem Land gesichert? Haben sich Streiks über das Land verbreitet? Hat der Generalstreik das Proletariat zum Aufstand getrieben? Wenn das der Fall ist, dann ist alles klar und in Ordnung. Aber warum teilt dann die Prawda diese Ereignisse in ein paar Zeilen und kleiner Schrifttype mit?

Oder haben sich vielleicht die chinesischen Kommunisten erhoben, weil sie die letzten Äußerungen Molotows über die Resolution der „dritten Periode" erhalten haben? Es ist kein Zufall, dass Sinowjew, der im Unterschied zu den übrigen Kapitulatoren, immer noch vorgibt, am Leben zu sein, in der Prawda einen Artikel veröffentlicht hat, der zeigt, dass die Herrschaft Tschiang Kai-scheks der zeitweisen Herrschaft Koltschaks völlig gleicht, d. h. sie ist nur eine einfache Episode im Prozess des revolutionären Aufstiegs. Diese Analogie ist natürlich erfrischend für den Geist. Leider ist sie nicht nur falsch, sondern einfach dumm. Koltschak organisierte einen Aufstand in einer Provinz gegen die bereits bestehende Diktatur des Proletariats im größeren Teil des Landes. In China regiert die bürgerliche Konterrevolution das Land, und es sind die Kommunisten, die einen Aufstand von ein paar tausend Leuten in einer der Provinzen angestiftet haben. Daher glauben wir das Recht zu besitzen, folgende Frage zu stellen: Ergibt sich dieser Aufstand aus der Lage in China oder eher aus den Instruktionen in Bezug auf die „dritte Periode"? Wir fragen weiterhin: Welches ist die politische Rolle der chinesischen KP bei all dem? Mit welchen Losungen werden die Massen mobilisiert? Wie groß ist der Einfluss auf die Arbeiter? Darüber hören wir nichts. Die Rebellion von Tschu Deh scheint die Reproduktion der abenteuerlichen Kampagnen von He Long und Ye Ting 1927 und des Kanton-Aufstands zu sein, der auf den Zeitpunkt des Ausschlusses der Opposition aus der russischen KP festgesetzt war.

Vielleicht brach die Rebellion spontan aus? Schön und gut. Aber welche Bedeutung hat dann die Kommunistische Fahne, die über ihr flattert. Welche Haltung nimmt die offizielle chinesische KP zum Aufstand ein? Welche Einstellung hat die Komintern in dieser Frage? Und schließlich, warum enthält sich die Moskauer Prawda bei der Mitteilung dieser Tatsache eines Kommentars?

Aber es ist auch noch eine andere Erklärung möglich, die vielleicht die erschreckendste ist: Haben sie die chinesischen Kommunisten wegen Tschiang Kai-scheks Beschlagnahme der „Chinese Eastern Railway" zum Aufstand erhoben? Hat dieser seinem Charakter nach gänzlich partisanenhafte Aufstand das Ziel, im Rücken Tschiang Kai-scheks Unruhe zu schaffen? Wenn das so ist, fragen wir, wer der chinesischen KP solch einen Rat gegeben hat? Wer trägt die politische Verantwortung für ihr Übergehen zum Guerrillakrieg?

Es ist nicht lange her, dass wir entschieden verurteilten, dass erwogen wurde, ein so wichtiges Instrument wie die „ostchinesische Eisenbahn" aus den Händen der russischen Revolution in die der chinesischen Konterrevolution zu übergeben. Es ist die elementare Pflicht des internationalen Proletariats, in diesem Konflikt die Republik der Sowjets gegen die chinesische Bourgeoisie und alle ihre potentiellen Anstifter oder Verbündete zu verteidigen. Andererseits aber ist es völlig klar, dass das Proletariat der UdSSR, das die Macht der Armee in seinen Händen hat, nicht fordern kann, dass die Avantgarde des chinesischen Proletariats den Krieg gegen Tschiang Kai-schek beginnt, d. h. dass sie die Mittel anwendet, die die Sowjetregierung selbst nicht für anwendbar hält, und das mit Recht. Wenn die Krieg zwischen der UdSSR und China begonnen hätte, oder besser zwischen der UdSSR und den imperialistischen Gebietern Chinas, dann wäre es die Pflicht des chinesischen Kommunisten, diesen Krieg in kürzester Zeit in einen Bürgerkrieg zu verwandeln. Aber selbst in diesem Fall müsste der Beginn eines Bürgerkrieges der allgemeinen revolutionären Politik untergeordnet werden; und selbst dann wären die chinesischen Kommunisten unfähig, willkürlich oder jederzeit, auf dem Weg des offenen Aufstandes zu gelangen, sondern sie könnten das nur, nachdem sie sich der notwendigen Unterstützung der Arbeiter- und Bauernmassen versichert hätten. Der Aufstand in Tschiang Kai-scheks Rücken wäre in dieser Situation die Ausweitung der Front der Sowjets der Arbeiter und Bauern; das Schicksal der Sowjetrepublik verknüpft; die Aufgaben, die Ziele, die Perspektiven wären vollkommen klar.

Aber welches ist die Perspektive, die von dieser Erhebung der heute isolierten chinesischen Kommunisten in Abwesenheit von Krieg oder Revolution eröffnet wird? Die Perspektive eines schrecklichen Unglücks und einer abenteuerlichen Degeneration der Überreste der KP.

In der Zwischenzeit muss man offen sagen: Berechnungen, die auf einem Guerillaabenteuer beruhen, entsprechen vollkommen dem allgemeinen Wesen der stalinistischen Politik. Vor zwei Jahren erwartete Stalin gewaltige Gewinne für die Sicherheit des Sowjetstaates von einem Bündnis mit den Imperialisten der Spitzen der englischen Gewerkschaften.

Heute ist er dazu imstande, sich auszurechnen, dass ein Aufstand der chinesischen Kommunisten, selbst wenn er hoffnungslos ist, „einen kleinen Profit" in einer schwierigen Situation bringen würde. Im ersten Fall war die Kalkulation grob opportunistisch, im zweiten, offen abenteuerlich, aber in beiden Fällen wird die Kalkulation unabhängig von den allgemeinen Aufgaben der Welt-Arbeiter-Bewegung gemacht, gegen diese Aufgaben und zur Verschlechterung der richtig verstandenen Interessen der Sowjetrepublik.

Uns stehen nicht alle notwendigen Daten für eine endgültige Schlussfolgerung zur Verfügung. Deshalb fragen wir:

Was geschieht in China? Es soll uns erklärt werden! Der Kommunist, der sich und der Führung seiner Partei diese Frage nicht stellt, verdient den Namen Kommunist nicht. Die Führung, die gerne diskret beiseite stehen würde, um – wenn die chinesischen Partisanen geschlagen werden – sich ihre Hände zu waschen und die Verantwortung auf das ZK der chinesischen KP zu wälzen – eine solche Führung würde sich selbst entehren: – nicht zum ersten Mal allerdings durch das widerwärtigste Verbrechen gegen die Interessen der internationalen Revolution.

Wir fragen: Was geschieht in China? Wir werden diese Frage solange stellen, bis wir eine Antwort erzwungen haben.

Prinkipo,9. November 1929

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