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Leo Trotzki 19300213 Abenteurertum in der Wirtschaftspolitik, seine Folgen und Gefahren

Leo Trotzki: Abenteurertum in der Wirtschaftspolitik, seine Folgen und Gefahren

[Nach Sonntagsblatt der New Yorker Volkszeitung, 8. Juni 1930, S. 3 f. und 22, Juni 1930, S. 6 f.]

I.

Die Ergebnisse der industriellen Entwicklung in der USSR. haben eine internationale Bedeutung.

Die Sozialdemokraten, unfähig, den wirtschaftlichen Rhythmus der Sowjets zu verstehen, verdienen nur Verachtung. Dieser Rhythmus ist noch nicht stabilisiert, ja, es ist aus Gründen, mit denen wir uns noch befassen werden, nicht einmal gewiss, dass er sich behaupten wird. Aber er zeigt, was für große Möglichkeiten die Anwendung sozialistischer Methoden auf die Wirtschaft des Staates eröffnet.

Wenn die Sozialdemokraten in Deutschland im Jahre 1918 die Macht, die ihnen die Revolution in den Schoß warf, ausgenützt hätten, um einen sozialistischen Staatsstreich zu machen – die Möglichkeit dazu hatten sie – so würde, das kann man sich nach der Sowjeterfahrung leicht vorstellen, dieser feste sozialistische Block, den Mitteleuropa, Osteuropa und der größte Teil Asiens zusammen bilden würden, eine ungeheure wirtschaftliche Macht darstellen. Das ganze menschliche Geschlecht würde heute ein ganz anderes Gesicht zeigen. Die Menschheit wird diesen Verrat der deutschen Sozialdemokraten mit neuen Kriegen und neuen Revolutionen bezahlen. Die Geschichte kennt kein größeres Verbrechen. Aber diese Frage berührt nicht den Gegenstand, den wir heute untersuchen wollen.

Noch vor der Periode des Wiederaufbaues, das heißt Anfang 1925, haben wir in unserem Buch „Zum Kapitalismus oder zum Sozialismus" bereits im Vorhinein eine gedrängte Analyse der unendlichen Möglichkeiten gegeben, die die sozialistische Industrialisierung in sich birgt. Wir haben bewiesen, wenn die Sowjetindustrie den vom kapitalistischen Regime ererbten Produktionsapparat benutzt und sich aus eigener Kraft zu entwickeln angefangen hat, wird sie Fortschritte machen, so rasch, dass sie die kühnsten Träume des kapitalistischen Regimes überflügeln.

Wir haben vorsichtig eine jährliche Steigerung von 15 bis 20 Prozent vorausgesagt. Die Spießbürger vom Schlage Stalins und Molotows machten sich lustig über diese angenommenen Zahlen, die nach ihrer Meinung nur Träume von einer „Überindustrialisierung" waren. Nun hat die Wirklichkeit unsere Voraussagen weit übertroffen. Und jetzt hat sich der gewöhnliche Fehler wiederholt: geblendet von diesen Tatsachen glaubten die „Tatsachenmenschen", sich alles erlauben zu dürfen, und sie fielen aus krämerhaft ängstlicher Kurzsichtigkeit in Größenwahn.

Der ultralinke Fünfjahresplan.

Wie die Ereignisse der letzten Monate zeigen, ist die Stalinfraktion in ihrer Wirtschaftspolitik wie auch in der KI von ihrem rechten Zickzackkurs zu einer ultralinken Politik übergegangen.

Diese Politik ist zugleich eine Verleugnung und eine neue vermehrte Auflage der opportunistischen Politik, die seit 1923 – besonders von 1926 bis 1928 – gemacht wurde und nicht weniger gefährlich – oft sogar gefährlicher als die frühere Politik.

Gegenwärtig entwickelt sich die ultralinke Wirtschaftspolitik in der UdSSR in zwei Richtungen: der Industrialisierung und der Kollektivierung.

Schon 1923 forderte die Opposition die Beschleunigung der Industrialisierung; sie stützte diese Forderung auf die Möglichkeiten, die damals bestanden, und auf das sich stark fühlbar machende Bedürfnis nach einer rascheren Industrialisierung.

Die herrschende Fraktion (zuerst Sinowjew-Stalin-Bucharin, dann Stalin und Bucharin ohne Sinowjew) warf der Opposition vor, sie wolle zur Förderung der „Überindustrialisierung" „den Bauer ausplündern“ und so den wirtschaftlichen Bruch zwischen Stadt und Land herbeiführen

Die Erfahrung zeigte aber, dass die Opposition recht hatte. Die opportunistische Führung unterschätzte systematisch die Hilfsquellen der verstaatlichten Industrie. Deren tatsächliche Entwicklung ging dank der Lage des Marktes und der Aktion der Opposition Jahr für Jahr über die offiziellen Erwartungen hinaus.

Und gerade in dem Augenblick, der die volle Bestätigung der Behauptungen der Opposition brachte, erreichte der Kampf zwischen der zentristischen Führung und der Opposition die größte Schärfe. Durch Monate sah sich die Führung gezwungen, ihren alten „Fünfjahresplan" – ein Minimum, dessen Lächerlichkeit die Plattform der Opposition aufgezeigt hatte – mit einem neuen, viel kühneren Fünfjahresplan" zu vertauschen. Von dem Augenblick an, in dem das erste Jahr zum großen Erstaunen der Führung die Möglichkeit der Einhaltung dieses neuen Rhythmus gezeigt hatte, ließ die Führung alle ihre gewohnten jämmerlichen Bedenken fahren und stürzte sich kopfüber in das entgegengesetzte Extrem. Fortan gab es nur noch eine Losung: vorwärts, ohne zurückzublicken. Der Plan sollte beständig Ärderungen im Sinne einer Vergrößerung aller seiner Posten erfahren; vom possibilistischen Opportunismus ging man über zu einem maßlosen Subjektivismus Wenn der Leiter eines Unternehmen« oder ein Arbeiter auf wirkliche, handgreifliche Hindernisse hinweist – etwa auf Unzulänglichkeiten des Produktionsapparates, Mangel an Rohstoffen oder schlechte Beschaffenheit der Rohstoffe – so wird das als Hochverrat an der Revolution angesehen.

Hohen Orts verlangt man Tatkraft, Schwung, Unternehmungsgeist. Alles, was sich dem widersetzt, gilt als aufwieglerisch.

Das erste Viertel des laufenden Wirtschaftsjahres, des zweiten des „Fünfjahresplans" – die Zeit vom Oktober bis zum Februar – brachte einen Fehlschlag, obwohl es gegenüber derselben Zeit des vorigen Jahres einen Fortschritt um 26 Prozent bedeutet. Zum ersten Mal unter der Herrschaft der neuen Führung sind die Ergebnisse hinter dem Voranschlag zurückgeblieben. Dieses Zurückbleiben macht sich besonders fühlbar in der Schwerindustrie. Die Selbstkostenpreise sind gestiegen. Um den Ausfall wettzumachen oder zu verschleiern, verschlechtern die Fabriken die Qualität. Der Prozentsatz des Abfalls und der Ausschuss-wäre ist in beunruhigender Weise gestiegen.

Auf alle Beschwerden hat das Zentralkomitee mit der Forderung geantwortet, das Programm sei nicht nur einzuhalten, sondern sogar zu überschreiten.

Die gegebenen Tatsachen beweisen immer deutlicher, was schon die theoretische Behandlung des Problems ergeben hat: Man hat sich in diesem Jahre übernommen. Immer mehr vollzieht sich die Industrialisierung nur unter der „Knute" der Verwaltung. Man überanstrengt den Produktionsapparat und die Arbeit. Das Missverhältnis zwischen den verschiedenen Zweigen der Industrie vergrößert sich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die rückläufige Bewegung im nächsten Vierteljahre noch zunimmt. Die Regierung sieht sich gezwungen, die Löcher in der Produktion zu verstopfen, indem sie zur Aufstellung neuer Budgets oder zur Eröffnung neuer Kredite übergeht. Das führt zur Inflation des Papiergeldes, die eine künstliche Steigerung der Nachfrage nach Waren bewirkt; um diese zu steuern, muss man den Produktionsplan wieder aufblähen und dies wieder führt zu neuen Störungen des Gleichgewichts zwischen den verschiedenen Zweigen der Wirtschaft.

Der Plan und die Weltwirtschaft.

Die Sowjetwirtschaft hängt von der Weltwirtschaft ab. Diese Abhängigkeit drückt sich aus in dem Verhältnis der Einfuhr zur Ausfuhr. Der auswärtige Handel ist der wunde Punkt des Sowjetwirtschaftssystems. Diese Schwierigkeiten unseres auswärtigen Handels haben zur Grundlage Schwierigkeiten, die sich aus unserer Rückständigkeit ergeben.

Diese besondere Schwierigkeit wird gegenwärtig verschärft durch die allgemeine Konjunktur. Die Erscheinungen, die sich aus der internationalen Krise erklären, machen sich nun in der Ausfuhr aus der Sowjetunion fühlbar, indem sie die Nachfrage nach den ausgeführten Waren vermindern und deren Preis herabdrücken.

Wenn die Welthandels- und -industriekrise zunimmt und sich entwickelt, muss die Einengung unserer schon früher ungenügenden Ausfuhr auf unsere Einfuhr von Maschinen und Werkzeugen zurückwirken. Für diese Einfuhr kann die Führung der Sowjets natürlich nicht verantwortlich gemacht werden. Aber die Führung kann und muss mit ihr rechnen. Der abenteuerliche Schwung der Industrialisierung muss, wenn die verschiedenen Wirtschaftszweige kein harmonisches Ganzes bilden, im auswärtigen Handel an den Schranken, die ihm die Weltkrise setzt, zu Schanden werden; die Einfuhr der unbedingt notwendigen Waren wird zurückgehen, und in den „Fünfjahersplan." wird sich eine neue Kraft der Desorganisation einnisten.

Andererseits ist es möglich, dass die industrielle Krise in Amerika und Europa in ihrem weiteren Verlauf zur Gewährung von Industrie- und Handelskrediten an die USSR, führt. Aber das ist eine zweischneidige Waffe. Bei einer normalen Geschwindigkeit der Entwicklung könnten diese Kredite den Prozess der Industrialisierung erleichtern und beschleunigen. Aber bei einer Steigerung der inneren Schwierigkeiten würden die Kredite die Krise nur zurückdrängen; später würde sie mit doppelter Kraft; wieder ausbrechen.

Im Übrigen machen wir diesmal nur vermutungsweise aufmerksam auf die Gefahren, die aus der Weltkrise entstehen könnten. Der Schwerpunkt ist offenbar nicht da gelegen. Die drängendsten und schwersten Gefahren sind die, die sich an der empfindlichsten Stelle des Sowjetregimes zusammenballen: in den Beziehungen zwischen Stadt und Land.

Der Anfang der Kollektivierung der Landwirtschaft.

Die Opposition hat während der letzten Jahre fortwährend verlangt, dass man zur Förderung der industriellen Entwicklung die oberen Schichten auf dem Lande stärker besteuern solle. Die offizielle Führung leugnete die Erstärkung der „Kulaken" und beschuldigt die Opposition, sie wolle „den Bauern ausplündern."

Unterdessen entwickelte sich der „Kulak" so, dass er eine wirkliche Macht wurde; er riss den Mittelbauern mit und unterwarf die Industrie und die Städte einer Hungerblockade. Der Einfluss der Kulaken machte sich am deutlichsten bemerkbar genau zu der Zeit, da die Opposition durch Polizeimaßregeln erledigt wurde (Anfang 1928).

Die Bürokratie musste eine Haupt- und Staatsaktion unternehmen. Man dekretierte den Kreuzzug gegen den „Kulaken". Als der Kampf ums Brot gegen den „Kulaken" begann, stellte sich heraus, dass die von der Opposition zur Bändigung der Ausbeutungstendenzen auf dem Land empfohlenen Maßregeln weit überboten werden mussten.

Aber der Kulak und der Mittelbauer sind nicht durch eine unübersteigbare Mauer voneinander getrennt. Die Kulaken kommen aus den Reihen der Mittelbauern – eine Erscheinung, die in jedem Augenblick der Lage auf dem Lande entspricht.

Die Lawine der ohne Plan, ohne Methode, blindlings geführten Angriffe auf den Kulak versperrte der Entwicklung der oberen Schichten der Mittelbauern den Weg. Daher der Bruch mit dem Lande. Der Bauer, der die Erfahrung der Revolution gemacht hatte, hatte durchaus keine Lust, wieder den Weg des Bürgerkrieges zu betreten, und suchte nach einem anderen Ausweg. So kam es zur „allgemeinen Kollektivierung".

Die Sowjetmacht fördert getreu ihren Endzielen die Produktiv- und die Konsumtivgenossenschaften. Trotzdem nahm bis in die letzte Zeit die Produktivgenossenschaft auf dem Lande (in der Form der „Kolchosen" oder Kollektivbetriebe in der Landwirtschaft) einen sehr bescheidenen Platz ein.

Vor kaum zwei Jahren schrieb der gegenwärtige Volkskommissar „Kolchosen“ (Kollektivbetriebe) müssten angesichts der Rückständigkeit und Zersplitterung unserer Bauern noch viele Jahre „kleine abgeschiedene und verlorene Eilande im Meere der Landwirtschaft'' bleiben.

Nun, während der allerletzten Zeit hat die Kollektivierung wider Erwarten der Führung einen großartigen Aufschwung genommen. Es genügt die Feststellung, dass die Kollektivierung, die nach dem Plan am Ende der Periode des Fünfjahresplanes 20 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe hätte erfasst haben sollen, tatsächlich schon heute, kaum dass das zweite Jahr des Planes begonnen hat, bereits 40 Prozent erfasst hat.

Wenn es bei dieser Geschwindigkeit bliebe, so müsste die Kollektivierung durch die „Kolchosen" im Laufe der kommenden zwei Jahre die ganze Bauernklasse erfassen. Scheint es nicht, dass das ein ungeheurer Fortschritt wäre? In Wirklichkeit kann es nur eine tödliche Gefahr sein.

Die Kollektivierung der landwirtschaftlichen Produktion setzt eine ganz bestimmte technische Grundlage voraus. Die Kollektivwirtschaft ist vor allem Bewirtschaftung der großen landwirtschaftlichen Betriebe. Die Wirtschaftsführung ist abhängig von den Produktionsmitteln und Produktionsmethoden. So wenig man durch das Zusammenfassen von Schifferbooten ein Schiff bekommt, so wenig kann man mit den Pflügen und den Schindmähren der Bauern selbst bei der straffen Zusammenfassung große landwirtschaftliche Betriebe errichten. Die Kollektivierung der Landwirtschaft kann nur das Ergebnis der Ersetzung der vorhandenen primitiven Werkzeuge durch Maschinen sein.

Daraus folgt, dass die Möglichkeit der Kollektivierung der Landwirtschaft abhängt von dem Grad der Industrialisierung des Landes.

Die Industrialisierung der Landwirtschaft.

In der Tat sieht man, dass diese beiden Faktoren sich ganz verschieden entwickeln. So rasch sich auch die Entwicklung der Sowjetindustrie vollziehen mag, sie muss noch lange rückständig bleiben. Der Fortschritt erscheint unbedeutend in Hinsicht auf das allgemeine Niveau, das sehr niedrig ist. Aber man darf nie außer Acht lassen, dass die Industrie, selbst wenn sie sich entwickelt, wie es geplant ist, auch im bester Fall am Ende der fünf Jahre nur 20 bis 25 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Betriebe des Landes mit Traktoren und Geräten versorgen kann. Hier stoßen wir auf die tatsächlichen Grenzen, die der Kollektivierung auf dem Lande gezogen sind.

Solange die UdSSR in der Welt isoliert bleibt, kann die Industrialisierung der Landwirtschaft (Einführung von Maschinen, Elektrifizierung) nur im Rahmen der aufeinander folgenden „Fünfjahrespläne“ betrachtet werden. Das war übrigens bis heute auch der Standpunkt der Führung selbst. Jetzt auf einmal erfahren wir, dass die Kollektivierung bereits die Hälfte der landwirtschaftlichen Produktion erfasst und in gewissen ländlichen Bezirken im Laufe des kommenden Jahres die Gesamtheit erfassen wird. Es springt also in die Augen, dass man es hier nicht mit einer auf den Tatsachen der Produktion beruhenden Rechnung zu tun hat, sondern mit einer Bürokratenrechnung.

Dieses jähe Herumwerfen des Steuers, das der panische Schrecken der Führung vor dem Kulaken, ja sogar vor dem Mittelbauern verursacht hat, hat im abgelaufenen Jahr zu der fast vollständigen Liquidierung der NEP (der neuen ökonomischen Politik) geführt.

Nun ist der Bauer ein kleiner Produzent und kann als solcher nicht ohne Markt bestehen. Die Liquidierung der NEP hat also dem Mittelbauer nur die Wahl zwischen folgenden drei Möglichkeiten gelassen: entweder zur Naturalwirtschaft zurückzukehren, die ein langsames Sterben bedeutet, oder den Weg des Bürgerkriegs zu beschreiten, um zu einem Markt zu kommen, oder sein Glück auf den neuen Wegen der Kollektivierung zu versuchen.

Nun scheint es, dass der Bauer nur aus dem letztgenannten Weg keinen Verfolgungen mehr ausgesetzt ist, ja sogar im Gegenteil Vorteile zu erwarten hat: Herabsetzung der Steuern, unentgeltliche Verteilung von Rohstoffen, Kredite usw.

Und wenn gegenwärtig der Bauer in Massen in die Kollektivwirtschaft drängt, so nicht, weil diese ihm tatsächlich ihre Nützlichkeit bewiesen hätte, auch nicht, weil es dem Staat gelungen war; den Bauern davon zu überzeugen (wovon die Führung ebenso wenig überzeugt ist), dass es ihm in der allernächsten Zeit möglich sein werde, die Landwirtschaft auf neuen, rein kollektiven Grundlagen wieder aufzubauen, sondern ganz einfach deswegen, weil nach Jahren der „liberalen" Politik Stalin-Ustrialows die Bauern sich in einer Sackgasse befanden, besonders die der oberen Schichten, die bis dahin in der Lage gewesen waren, ihre Wirtschaft in rein kapitalistischer Weise zu führen. Zum Markt gekommen, fand der Bauer die Tür zu ihm versperrt. Er versuchte aufzubegehren, aber dann stürzte er, in einer wahren Todesangst, auf den einzigen offenstehenden Ausweg – die Kollektivierung.

Die Führung selbst war von diesem Andrang der Bauernmassen zu den Kollektivwirtschaften noch viel mehr überrascht, als die Bauern es von der Liquidierung der NEP waren. Als sie sich wieder einigermaßen erholt und zurückgefunden hatte, glaubte sie sich helfen zu können, indem sie eine neue Theorie zusammenschusterte: der Aufbau des Sozialismus tritt in seine „dritte Periode“, man braucht keinen Markt mehr; in den allernächsten Jahren werden die Kulaken als Klasse erledigt sein.

Im Grunde ist diese Theorie durchaus nicht neu. Es ist die alte Theorie vom „Sozialismus in einem Lande“, sozusagen im Schnellzugtempo.

Einst hat man uns gelehrt, dass in Russland, einem rückständigen Land, der Aufbau des Sozialismus ungeheuer langsam, im Schneckengange, vor sich gehen würde, da der Kulak dazu bestimmt sei, in der sozialistischen Wirtschaft ohne großen Schaden für sie Wurzel zu fassen. Heute tritt an die Stelle der schleichenden Schnecke das da-hinsaiwende Flugzeug; was Wunder, dass bei einer solchen Geschwindigkeit der Kulak nicht mehr Zeit hat, Wurzel zu fassen – man beseitigt ihn ganz einfach durch eine Verwaltungsregel.

Gewiss, die ernstliche Liquidierung des Kulaken wäre die Liquidierung der letzten kapitalistischen Klasse.

Ohne Kulaken können Zwischenhändler, Schieber, städtische Nep-Leute nicht länger bestehen, um so mehr, als das offizielle Programm der Liquidierung der Kulaken sich auch auf das Kleinbürgertum der Städte bezieht. Die vollständige Aufsaugung der Bauernklasse durch die Sozialisierung der Wirtschaft des Landes, ergänzt durch die Liquidierung der Kulaken, bedeutet in der Tat die Umbildung der UdSSR im Laufe der nächsten zwei, drei Jahre in eine klassenlose Gesellschaft. In einer klassenlosen Gesellschaft braucht man keine Regierung, insbesondere nicht eine Regierung mit so ungeheuren Machtbefugnissen, wie es eine Diktatur ist. Kein Wunder, dass sich unter solchen Umständen gewisse junge Theoretiker des neuen Kurses für die Beseitigung der Sowjets – wenigstens der ländlichen – und für deren Ersetzung durch reine Produktionsorgane, in unserem Fall also durch die Verwaltung der Kollektivwirtschaften ausgesprochen haben.

Jedoch diese „Theoretiker“ wurden hohen Orts in ihre Schranken gewiesen und man erklärte ihnen mit aller Entschiedenheit, dass die Diktatur noch lange unerlässlich sei.

Wozu sie aber nach der Liquidierung des Kulaken in den kommenden zwei Jahren dienen sollte – das zu erklären hat die Leitung unterlassen. Das war übrigens kein zufälliges Vergessen, denn sonst hätte man sich selbst eingestehen müssen, dass das Stegreif-Programm einer Liquidierung des Kulaken mit Hilfe der Kollektivierung der armseligen Geräte und der Schindmähren der Bauern nichts anderes ist als reines bürokratisches Abenteurertum, das sich hinter einer marktschreierischen Theorie versteckt.

In der Tat hat die Liquidierung des Kulaken nur zu rein administrativen Maßregeln geführt: Konfiskation der Güter, Konfiskation der individuellen Landparzelle und schließlich Vertreibung. Und diese Politik wurde genau so durchgeführt, als ob der Kulak ein fremdes Element in der ländlichen Gesellschaft wäre, ein Ausländer, der Angehörige einer fremden Rasse. In Wirklichkeit ist der Kulak eine der Entwicklungsphasen, die der Mittelbauer durchläuft. Natürlich ist es jederzeit möglich, jeden beliebigen Kulak zu erledigen, man braucht dazu nur zwei Milizionäre (allerdings müssen sie gut bewaffnet sein). Aber viel schwerer ist es zu verhindern, dass er in der Kollektivwirtschaft selbst erstehe.

II.

Aber es handelt sich nicht bloß um die Geräte und die Produktionsmittel überhaupt. Eine Familie, die die Arbeitskräfte stellt, wird einen größeren Anteil verlangen als eine Familie, die nur eine Arbeitskraft stellt. Wenn die Kollektivwirtschaft den nicht zur Verbesserung des Produktionsapparate verwendeten Teil des Ertrages behalten will, muss sie diese Aufwendungen der verschiedenen Mitglieder nach einem bestimmten Schlüssel bezahlen. Das macht wieder den Weg frei für die soziale Differenzierung innerhalb der Kollektivwirtschaften und für deren Umwandlung in kleinbürgerliche Genossenschaften, von deren Mitgliedern die meisten sehr bald Pächtern gleich werden, da die Leitung sich in den Händen einer reicheren Oberschicht befindet. Diese Erscheinung war schon früher oft aufgetreten, als die Kollektivwirtschaften noch eine Ausnahme waren und durch individuelle Auslese zustande kamen.

Das heißt, dass nach der „Liquidierung der Kulaken als Klasse" durch dieses rein administrative Mittel und nach der Expropriation und Ausweisung der „nominellen" Kulaken die Stalinsche Bürokratie die in den Kollektivwirtschaften entstandenen Kulaken für „gebildete und fortschrittliche Genossenschaftler" erklären und sich im übrigen auf die Formel Lenins („Über das Genossenschaftswesen") berufen wird. In diesem Falle würde die Kollektivwirtschaft nichts anderes werden als eine neue soziale und politische Einrichtung zur Maskierung des Kulakentums. Man muss gestehen, dass der neue Volkskommissar für Ackerbau, Jakowlew der berufene Mann zu sein scheint, sich dieses neuen Schwindels zu bedienen. Nicht umsonst hat er sich jahrelang bemüht, unter Aufwand einer großen Gelehrsamkeit durch statistische Seiltänzerkunststücke den Beweis zu erbringen, dass der Kulak nur eine Erfindung der Opposition sei. Er war es auch, der kürzlich im Verein mit anderen Funktionären das Programm der Opposition, das auf die Notwendigkeit einer beschleunigten Kollektivierung auf Grundlage eines fortschreitenden Industrialisierung hinwies, für ein konterrevolutionäres Dokument erklärte.

Unterdessen beeilt sich der Bauer, den Widerspruch zwischen den kollektivistischen Formen und der unzulänglichen technischen Grundlagen vorwegnehmend, sein Vieh um jeden Preis loszuschlagen, bevor er in die Kollektivwirtschaft eintritt. Die Presse ist voll beunruhigender Nachrichten über die massenhafte Verschleuderung des Viehstandes und den Verkauf an die Schlachthäuser. Die Führung antwortet darauf, wie sie kann: mit Zirkularen, Telegrammen und Drohungen. Aber das genügt offenbar nicht. Der Bauer weiß nicht, ob ihm in der Kollektivwirtschaft sein Pferd und seine Kuh angerechnet werden, und wenn sie es werden, wie hoch. Er hofft, dass die Kollektivwirtschaft vom Staate einen Traktor bekommen werde. Er beabsichtigt keinesfalls, seine Kuh der Gemeinschaft unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Der Bauer bleibt ein beschränkter Realist. Da er sich gezwungen sieht, in die Kollektivwirtschaft einzutreten, beeilt er sich, aus der Veräußerung seines persönlichen Eigentums irgendeinen besonderen Vorteil herauszuschlagen. Nun kann der Staat dieses Eigentum durch eine mechanische Kraft oder durch besseres Vieh nicht ersetzen. Und das bringt die Kollektivwirtschaften von vornherein in große Schwierigkeiten.

Es ist leicht vorauszusehen, dass dem jetzigen Vormarsch, der in keiner Weise gesichert ist, bald ein überstürzter, die Massen in Schrecken versetzenden Rückzug folgen wird; höheren Orte wird man ihn natürlich für einen sogenannten strategischen Rückzug erklären. Die leichtfertig improvisierten Kollektivwirtschaften werden sich zersetzen oder verkommen und in schweren inneren Kämpfen das individuelle Eigentum an den Produktionsmitteln wieder herstellen und so den kapitalistischen Tendenzen den Weg ebnen. Dann natürlich wird die stets unfehlbare Führung die ausführenden Organe des „Trotzkismus" beschuldigen, um wieder die Stalinschen Formeln aus den Jahren 1924/25 einzuschmuggeln … vorausgesetzt, dass die Partei die bürokratischen Abenteurer fort wirtschaften lässt.

Was die Bürokraten antworten werden.

Es ist vorauszusehen, welches Echo unsere Analyse in den leitenden Kreisen wecken wird. Die Funktionäre werden behaupten, dass wir auf die Krise spekulieren. Das Gesindel wird beifügen, dass, wir den Sturz der Sowjetmacht wollen. Jaroslawski wird erklären, dass wir für Chamberlain arbeiten. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Menschewiki und die Liberalen ein paar Redensarten loslassen, die beweisen sollen, dass Russland zum kapitalistischen Regime zurückkehren müsse.

Die Beamten des Kommunismus werden aufs Neue eine Solidarität, zwischen der Opposition und den Menschewiki entdecken. Es wäre nicht das erste Mal, es wird nicht das letzte Mal sein. Aber all das wird uns nicht beirren. Das Keifen verhallt, die Tatsachen bleiben. Nach einer langen Periode opportunistischer Politik macht die Stalinsche Bürokratie eine kurze, aber stürmische Periode einer tollen ultralinken Politik durch. Die Theorie und die Praxis der „dritten Periode" führen zu denselben verhängnisvollen Folgen und leisten dieselbe Zerstörungsarbeit wie in der UdSSR so draußen. Man wird sagen: Die Opposition scheint mit dem Apparat zu tauschen. Sie klagt ihn der Überindustrialisierung an und neigt selbst nach rechts. Andere Schlaumeier werden beifügen: der rechte Flügel, der die Stalinisten der Überindustrialisierung und des „Trotzkismus" beschuldigte, kapituliert vor Stalin, während die linke Opposition sich um die Plattform des rechten Flügel zu sammeln scheint.

Alte diese Betrachtungen, Nebeneinanderstellungen und Vergleichungen lassen sich voraussehen und man könnte sogar im Vorhinein die Aufsätze und Reden schreiben, zu denen dieser Gegenstand Anlass geben wird. Wie wenig dahintersteckt, ist leicht aufzuzeigen. Nie hatte sich die Opposition die Aufgabe gestellt, die kapitalistische Welt „in der kürzesten Zeit einzuholen und zu überflügeln". Wir forderten die Beschleunigung der Industrialisierung, weil das das einzige Mittel war, die führende Rolle der Stadt gegenüber dem Lande zu sichern und dadurch die Diktatur des Proletariats aufrechtzuerhalten.

Wir waren weitaus kühner in der Einschätzung der Möglichkeiten der Industrialisierung, als es die Bürokraten bis 1928 waren. Aber nie glaubten wir, dass die Hilfsquellen der Industrialisierung unerschöpflich seien und dass der Rhythmus der Industrialisierung nur von der Fuchtel der Bürokraten abhänge. Wir haben stets mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse die feste Grundlage jeder Industrialisierung sein müsse. Und stets waren wir der Meinung, dass die Kollektivierung von der Industrialisierung abhängig gemacht werden müsse.

Die sozialistische Umwandlung der Landwirtschaft schien uns nicht möglich denn als das Werk mehrerer Jahrzehnte. Nie verloren wir die inneren Widersprüche des Aufbaues des Sozialismus in einem Lande aus den Augen. Man kann die besonderen Widersprüche der Landwirtschaft nicht beseitigen, ohne Aufhebung der Widersprüche zwischen Stadt und Land, die erst durch eine Weltrevolution möglich wird. Wir haben also nie an der Beseitigung ganzer Klassen im Rahmen eines Stalin-Krzizanowskischen „Fünfjahresplans" gedacht. Wir verlangten vielmehr die Eindämmung der Ausbeutungsgelüste des Kulaken und die regelmäßige Beschneidung seiner Einkünfte zugunsten der Industrialisierung. Deswegen sind wir auf Grund des Artikels 58 des Strafgesetzbuches verbannt worden.

Die marxistische Opposition wurde zurückgeschlagen durch den Block des rechten Flügels und des Zentrums. Rechte und Zentrum hatten sich auf einen Augenblick getrennt. Jetzt sind sie wieder einig. Sie haben eine gemeinsame Grundlage: den National-Sozialismus. Über unsere Köpfe hinweg haben sie eine Wendung von 180 Grad gemacht. Zusammen haben sie nach und nach das Problem der sozialistischen Industrialisierung in ein kleines bürokratisch-überindustrialisches Glücksspiel umgewandelt. Sie unterdrücken die NEP und begehen so das „Verbrechen", dessen sie uns früher fälschlich beschuldigten und für das unsere Freunde heute noch ihre Kerker und ihre Verbannungsorte füllen.

Statt den Kulak zu bändigen und zu beherrschen, träumen sie von dessen Beseitigung durch administrative Maßregeln, ein Fehler, dessen sie früher uns beschuldigten und gegen den wir uns mit berechtigter Entrüstung verwahrten. Die Rechten, die Angst davor hatten, die notwendigsten Schritte „vorwärts" zu machen, stürmen jetzt mit den Zentristen blindlings „vorwärts." Der Block ist wiederhergestellt, nur geht's jetzt nicht im Schneckentempo", sondern „mit der Geschwindigkeit eines Flugzeugs." Wie viele Monate noch wird die gegenwärtige Führung die Partei auf dem Wege der ultralinken Politik noch weiter hetzen?

Nur sehr wenige, glauben wir.

Je toller der gegenwärtige Kurs wird, desto schneller werden sich seine inneren Widersprüche zeigen. Jetzt, nach der Drehung um 180 Grad, wird die Führung eine zweite, ebenso große machen und so nach Beschreibung eines vollen Kreises, wieder bei ihrem Ausgangspunkt anlangen:

"Es wird so sein wie es war."

Was tun?

Die hier nur kurz berührten Fragen bilden den Gegenstand einer größeren Arbeit, die wir bald veröffentlichen zu können hoffen. Das erklärt das Schematische dieser Darlegungen. Wir werden auch die Frage beantworten: Was tun?

Die Industrie treibt einer heftigen Krise zu – dank dem ungeheuerlichen Bürokratismus, der bei der Ausarbeitung des Fünfjahresplans gewaltet hat. Dieser Plan hätte entworfen werden müssen unter Beobachtung der Maßverhältnisse und der notwendigen Sicherungen, in einer freien Diskussion über das Tempo und die Fristen, unter Mitarbeit aller interessierten industriellen Kräfte, der Arbeiterklasse mit allen ihren Organen und vor allem der Partei selbst, bei freier Untersuchung der wirtschaftlichen Sowjeterfahrungen der letzten Periode, die sich auch auf die furchtbaren Fehler, die die Führung begangen hat. hätte erstrecken müssen. Der Hauptzweck des Planes ist, zu bestimmen, wie viel die Arbeiter und Bauern unmittelbar verbrauchen wollen und können und wie viel sie ersparen und akkumulieren können. Der Rhythmus der Industrialisierung ist keine Angelegenheit der bürokratischen Phantasie, er ist abhängig von dem Leben und dem Bildungsgrad der Massen.

Darum kam ein Plan sozialistischer Aufbauarbeit nicht von der Bürokratie auf Grund vorgefasster Meinungen dekretiert werden. Er muss sich bilden und vervollkommnen nach Maßgabe der sozialistischen Aufbauarbeit selbst, d.h. auf der Grundlage einer breiten Sowjetdemokratie. Die Feststellung z.B. welche Bedeutung der chemischen Industrie in ihrer Gesamtheit dem Plan der allernächsten Zeit beigemessen werden muss, kann nur erfolgen durch die freie Entwicklung der chemischen Industrie in den verschiedenen wirtschaftlichen Gruppen und der vielfachen Industriezweige des Landes. Die Sowjetdemokratie ist keine Angelegenheit der abstrakten Politik, noch weniger der Moral Sie ist nunmehr eine wirtschaftliche Notwendigkeit geworden.

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