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Leo Trotzki 19301004 Auszug aus einem Brief an bulgarische Genossen

Leo Trotzki: Auszug aus einem Brief an bulgarische Genossen

[nach Internationales Bulletin der Komunistischen Linksopposition, No. 2, Ende November 1930, S. 3 f.]

4. Oktober 1930.

Was bildet die Grundlage des Regimes in der UdSSR? Zählen wir dessen wesentliche Elemente auf: a) Das Sowjetsystem als Staatsform; b) Die Diktatur des Proletariats als Klasseninhalt dieser Staatsform; c) Die Führerrolle der Partei, in deren Händen alle Fäden der Diktatur vereinigt sind; d) Der ökonomische Inhalt der Diktatur des Proletariats: Nationalisierung des Bodens, der Banken, Betriebe, des Transportwesens usw., und das Außenhandelsmonopol; e) Die militärische Stütze der Diktatur: Rote Armee.

Alle diese Elemente sind eng miteinander verbunden und beim Ausfall eines von ihnen kann das ganze System zusammenbrechen. Unzweifelhaft ist gegenwärtig das schwächste Kettenglied die Partei, der Grundstein des ganzen Systems.

Gibt es in der UdSSR noch eine Diktatur des Proletariats? Ja. trotz allem besteht sie. Trotz der ganzen verderblichen Politik, dem wirtschaftlichen Zerren nach rechts und links, fährt die Regierung fort, die Nationalisierung der Produktionsmittel und das Außenhandelsmonopol zu verteidigen. Der Übergang der Macht in die Hände der Bourgeoisie könnte nicht anders vor sich gehen als auf dem Wege des konterrevolutionären Umsturzes. Die Wiederbelebung der Diktatur des Proletariats indes ist noch denkbar auf friedlichem Wege. Im Voraus, a priori kann man die Wahrscheinlichkeit einer friedlichen Wiederbelebung der Diktatur nicht abwägen. Es ist die Prüfung durch die Ereignisse vonnöten. Die Kräfte des Proletariats müssen sich in der Tat offenbaren, in der lebendigen Erprobung im Kampf. Eine solche Erprobung kann zustande kommen sowohl durch das Wachsen der inneren Widersprüche als auch durch einen Stoß von außen (Blockade, Krieg).

Es ist oben gesagt, dass das schwächste Kettenglied gegenwärtig die Partei bildet. Im Gesamtsystem ist jedoch die Partei das entscheidendste Glied. Die Rede ist von der Partei als Partei, d. h. als freiwillige Auslese der proletarischen Avantgarde und nicht einem System mit dem Staate verschmolzener Apparate. Man kann mit gewissem Rechte sagen, dass die Partei als Partei gegenwärtig nicht existiert. Die wesentlichen Funktionen der Partei, kollektive Ausarbeitung der Ansichten und Beschlüsse, freie Wahl der Funktionäre, und deren Kontrolle – sind endgültig liquidiert. Denkt man sich die Partei vom Sowjetsystem ausgeschlossen, dann geht das ganze System in kürzester Frist in Stücke. Befreit von der Kontrolle der Partei würden die Trusts sehr bald auf die Stellung von staatskapitalistischen und später privatkapitalistischen Unternehmungen übergehen. Die Reibungen zwischen Gewerkschaften und Trusts würden in Klassenkämpfe umschlagen. Der Staat würde ein Organ der Trusts und Banken werden. Das Außenhandelsmonopol würde noch vor seiner Abschaffung an vielen Stellen durchlöchert werden. Einer entsprechenden Evolution würde auch die Rote Armee unterworfen sein. All dies wäre sicherlich begleitet von einer Reihe Erschütterungen und Ausbrüchen von Bürgerkrieg.

Da nun aber die Partei als Partei nicht existiert, ist denn die oben gezeigte Entartung und der Untergang des Regimes nicht unvermeidlich, und dabei in kürzester Frist? Die Sache liegt indes darin, dass in dieser offiziellen «Partei», die zusammen mit der Jugend mehr als vier Millionen Menschen umfasst, um sie zu Schweigen und Gehorsam zu verdammen, – in dieser gewaltigen, zerstäubten, durch den bürokratischen Apparat zusammengehaltenen Masse die Elemente von zwei Parteien verstreut sind. Die Bessedowski, Kajurow, Agabekow zeigen, wie sich aus der offiziellen kommunistischen Partei eine Partei der Konterrevolution herausschält, deren Elemente sich auf verschiedenen Stufen der Reife befinden. Ein symmetrischer Prozess geht auf dem entgegengesetzten, das heißt proletarischen Pol der Partei vor sich, vor allem in Gestalt der Linksopposition. Die lockere, durch den Apparat zusammengehaltene Masse differenziert sich in zwei Richtungen. Indem er einen erbitterten Kampf gegen die linke Opposition führt, die sein Hauptfeind war und bleibt, erweist der Apparat den Thermidorianern direkte Unterstützung. Die Frage lautet: Wer wen? Sie wird sich unmittelbar nicht durch die ökonomische Statistik der sozialistischen und kapitalistischen Wirtschaftstendenzen entscheiden, sondern durch das Kräfteverhältnis zwischen den proletarischen und thermdorianistischen Flanken der gegenwärtigen sogenannten Partei.

Die Kristallisierungsachse der proletarischen Elemente der Partei ist die Linksopposition. Sie ist gegenwärtig schwach in dem Sinne, dass zwischen ihren Kaders und den zu ihr neigenden Elementen der Arbeiterklasse alle Verbindungen unterbrochen sind. Der Kampf um die Wiederherstellung dieser Verbindungen, das heißt die zähe, illegale Arbeit für die Wiederaufrichtung der bolschewistischen Partei ist die grundlegende, wichtigste und unaufschiebbare Pflicht jedes Bolschewiken.

Bei der ersten größeren Prüfung durch die Ereignisse wird sich zeigen, dass die stalinistische Bürokratie keine soziale Stütze hat. Sie wird in der Luft hängen zwischen Thermidorianern und Bolschewiki. Die Kristallisierung des linken Flügels wird umso rascher vor sich gehen, je besser seine Kader vorbereitet, je größer seine illegalen Verbindungen mit der Arbeiterklasse sein werden. Bei sonst gleichen Bedingungen (internationale Lage, innere Situation) wird das Geschick der proletarischen Diktatur abhängen von dem Kräfteverhältnis zwischen der proletarischen und thermidorianischen Flanke der jetzigen offiziellen Partei. Das Ergebnis lässt sich nicht voraussagen. Es heißt alles tun, damit es günstig ausfällt.

Nehmen wir jedoch einen Moment an, dass die thermidorianische Flanke siegt. Das wird die Liquidierung der proletarischen Diktatur bedeuten und einen jähen Schwung des Landes auf den Weg des Kapitalismus. Auch in diesem hypothetischen Falle behält die Arbeit der Linksopposition ihre volle Kraft, denn sie wird das Erbe der revolutionären Partei bewahren. Mit Hilfe des Sowjetstaates kann man die Partei nicht schaffen. Mit Hilfe der revolutionären Partei kann man einen zweiten Sowjetstaat schaffen, wenn der erste einen Zusammenbruch erlitten hat.

Aber die Aufgabe der Opposition wird nicht nur durch die Lage in der UdSSR bestimmt. Die Komintern ist in ihrer Gesamtheit zu einer Waffe der zentristischen Bürokratie geworden, die den Kommunismus untergräbt, vernichtet, und dadurch allein die Lage der Sowjetrepublik verschlimmert. Die Opposition ist endgültig ein internationaler Faktor geworden und in dieser Perspektive muss man auch ihre Arbeit innerhalb der UdSSR ansehen.

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