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Leo Trotzki 19300712 Brief an Genossen Müller

Leo Trotzki: Brief an Genossen Müller

[Nach dem maschinenschriftlichen Text in Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 968, International Institute of Social History, Amsterdam]

Büyükada, den 12. Juli 1930

Werter Genosse Müller,

Ich habe Ihnen nicht unmittelbar geantwortet nicht nur, weil ich mit Arbeit überhäuft war, sondern auch, weil es mir Schwierigkeiten bereitet, Ratschläge in so konkreten und persönlichen Fragen zu geben, wo ich nicht die Möglichkeit habe, die Umstände in jedem gegebenen Augenblick abzuschätzen. Dennoch habe ich beschlossen, mich zu äußern, wenn auch nur in einer bedingten Form.

Selbstverständlich, wenn Sie bei Ihnen eine geschlossene Organisation mit einer festen autoritativen Leitung hätten, würde die Frage der Rückkehr des Genossen Grylewicz im Allgemeinen nicht entstehen. Die Leitung ist kein Gasthof, aus dem man auszieht und wieder zurückkehrt. Das ist vollkommen klar und wir müssen mit allen Kräften danach streben, in der Opposition eine solch feste öffentliche Meinung zu schaffen, der gegenüber niemand sich persönliche Grillen und Kaprizen, mit dem Austritt aus der Leitung zuz drohen u.a., zu gestatten wagen wird.

Doch man darf das, was sein sollte, nicht gleichsetzen dem, was heute besteht. Heute gibt es eine Leitung, die aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt ist. Sie ist noch schwach wie die ganze Opposition. Der gänzliche Abgang Grylewicz' wäre unter diesen Bedingungen ein Minus, besonders wenn man mit der Möglichkeit der Bildung einer neuen Gruppe rechnet, das heißt mit einem neuen Hemmnis. Die Rückkehr des Genossen Grylewicz erhöht hingegen die Autorität der Leitung, denn sie beweist, dass der Genosse Grylewicz seinen Fehler eingesehen und verbessert hat. Jeder Arbeiter wird sich sagen: Der Wirrkopf Joko ist davongegangen, der launische Intellektuelle Neumann ist zur Seite gegangen, aber der Arbeiter Grylewicz, der einen Fehltritt begangen hat, hat sich bedacht und ist in die Leitung zurückgekehrt. Worin besteht also hier der Nachteil für die Opposition? Ich sehe das durchaus nicht. Das Unglück besteht darin, dass die Opposition sich zu sehr in der Psychologie kleiner Zirkel bewegt und alles nach dem Gesichtspunkte der inneren Stimmung des Zirkels beurteilen und nicht von dem Gesichtspunkt, welchen Eindruck der gegebene Schritt bei den Arbeitern hervorrufen wird.

Gewiss braucht man die Tür nicht für unbestimmte Zeit offen lassen. Man muss dem Genossen Grylewicz kameradschaftlich aber nachdrücklich sagen: Wenn Du zu einer gemeinsamen Arbeit in der Direktion zurückkehren willst, so tritt sofort ein, denn von diesem und diesem Tage an werden wir genötigt sein, Dich als endgültig ausgetreten zu betrachten.

Im Allgemeinen muss ich Folgendes sagen: Wenn die Leitung Autorität gewinnen will (und sie ist verpflichtet, dies zu wollen), darf sie nicht so vorgehen, als ob sie bereit unerschütterliche Autorität besäße und darf sich vorerst möglichst wenig auf rein formelle Rechte stützen. Die Leitung muss einen ruhigen, freundschaftlichen Ton wahren und die größte Geduld an den Tag legen, besonders ihren Widersachern gegenüber. Die Leitung kann keine Autorität gewinnen, wenn sie nicht in der Tat der ganzen Organisation ihre volle Objektivität und Gewissenhaftigkeit in aller Art innerer Konflikte beweist und ihre beständige Sorge um das Interesse der Organisation als solcher. Nur aus dieser Art Autorität, die nicht in einem Tag erobert werden kann, kann das Recht der Anwendung organisatorischer Maßnahmen, Repressionen u.a. erwachsen. Ohne dies kann die Organisation nicht leben. Aber der Versuch, Repression ohne die notwendige Autorität anzuwenden und ohne die Überzeugung der Organisation von der Berechtigung dieser Repressionen führt unausweichlich nicht zur Festigung der Organisation, sondern zu ihrer Schwächung und vor allem zum Verfall der Autorität der Leitung selbst.

Mein wärmster Rat ist daher: Bei Festigkeit der politischen Linie möglichst große Vorsichtigkeit und Weichheit, möglichst große Duldsamkeit und Takt in allen persönlichen Fragen, Konflikten und Missverständnissen.

Mit oppositionellem Gruß

L. D. Trotzki

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