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Leo Trotzki 19301116 Brief an Kurt Landau

Leo Trotzki: Brief an Kurt Landau

[Nach dem maschinenschriftlichen Text in Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 866, International Institute of Social History, Amsterdam]

Büyükada, 16. November 1930

Werter Genosse Landau,

Nachdem ich heute Ihren Brief an die Adresse der Genossen Rosmer und Markin bekommen hatte, habe ich ein Protesttelegramm gegen Ihre Haltung in der österreichischen Frage an Sie und das Internationale Sekretariat gesandt. Es würde mir schwer fallen, in Ihrem Schreiben einen einzigen richtigen und gerechten Satz zu finden und da ich aus Erfahrung weiß, dass Sie auch richtig zu urteilen imstande sind, so kann mir nur fraktionelle Voreingenommenheit als Erklärung dienen. Ihre Anklagen gegen die Genossen Molinier und Mille sind vollständig unbegründet und gehören zu der Art, die eine ernste Arbeit unmöglich machen und den Fortschritt der Opposition hindern.

1° Der Charakter der Mission der beiden genannten Genossen war nicht offiziell, aber ziemlich offiziös, da wir unter Beteiligung der Genossen Naville, Frankel, Markin und meiner mit den beiden Genossen die notwendigen Vorschläge und Maßnahmen ausgearbeitet haben. Da alle beteiligten Gruppen von dem wirklichen Charakter der Mission im Voraus schriftlich informiert waren und da die Genossen M. und M. ihre Vorschläge dem Internationalen Büro zur Prüfung vorlegten, ist Ihre Beschuldigung, sie hätten eine sich illoyal angeeignete Autorität missbraucht, absolut grundlos.

2° In der Frage Erich Kernmayer hat die Provisorische Kommission, wie sie selbst sich nennt, die einzig mögliche Entscheidung gefällt. Man kann jemanden, den man verdächtigt, nicht in die eigenen Reihen zulassen, auch den anderen revolutionären Organisationen privatim den Rat geben, ihn nicht zuzulassen. Wenn man öffentlich jemanden als Spitzel denunziert, ohne Beweise dafür zu haben, so begeht man den schlimmsten Missbrauch des öffentlichen Vertrauens und versperrt sich für die Zukunft die Möglichkeit, den wirklichen Spitzel beim Namen zu nennen. Die Genossen haben aber noch Schlimmeres getan. Sie haben eine Organisation, die der Internationalen Opposition angehört, des Protegierens der Spitzel angeklagt. Sie haben sich jedenfalls in einem persönlichen Brief mit ihnen solidarisiert. Aber Ihr sehr mildes Urteil über den von der Leitung der „Mahnruf“gruppe begangenen Fehler, der eher ein politisches Verbrechen ist, ändert an diesem letzteren nicht viel. Ich bin bereit anzunehmen, dass der Grund in der politischen Unerfahrenheit der Mahnruf-Leitung liegt. Desto unzulässiger ist es aber, solche Aktionen schweigend zu decken und ihre symptomatische Bedeutung nicht sehen zu wollen.

3° In ihren Berichten haben M. u. M. Sie mit keinem Wort angeklagt. Sie haben nur behauptet, dass die Verdächtigungen des Genossen Daniel dem Kernmayer gegenüber nicht, wenigstens nicht so ernst und tief gewesen wären, weil Sie, Genosse Landau, noch im September mit Kernmayer in intimer politischer Verbindung standen. Sie behaupten Ihrerseits zur Widerlegung des oben Angeführten, dass Sie erst im September über die Verdächtigungen Bescheid bekommen hätten. Damit bekräftigen Sie aber nur, was M. u. M. feststellen, nämlich dass die Verdächtigungen von Daniel politisch lanciert wurden erst im Moment der entstandenen Differenzen und Spaltung. Das Wort Leichtfertigkeit, das Sie in diesem Zusammenhange gebrauchen, ist somit nicht am Platze. Die Art, wie Sie von den beiden ganz ernsten und der Sache ergebenen Genossen sprechen, ist völlig unangemessen und beweist, dass Sie der ganzen Sache mit Voreingenommenheit gegenüberstehen. Das ist umso bedauerlicher, als Sie in der Eigenschaft eines Mitglieds des Internationalen Büros doch zu völliger Objektivität in den nationalen Streitigkeiten verpflichtet sind.

4° Sie klagen ferner die Genossen M. u. M. an, sich über die politischen Meinungsverschiedenheiten nicht ausgesprochen zu haben. Wir besitzen alle die Zeitungen der beiden Gruppen und andere Publikationen, was genügt, um uns eine Meinung über die wirklichen, vermeintlichen oder künstlich aufgebauten Differenzen zu bilden. Der „Mahnruf“ ist kein lebensfähiges Organ. Seine Basis und seine führenden Kräfte reichen für ein Organ nicht aus. Das ist jedenfalls erwiesen. Er ist weder ein Massenorgan, obwohl er sich diesen Anschein gibt, noch ein Erziehungsorgan für die Kader. Es besteht absolut kein politischer Grund anzunehmen, dass dieses Organ selbständiges Zentrum der Kristallisation der revolutionären Arbeiter werden kann. Der Mangel an Standhaftigkeit ist durch die Tatsache erwiesen, dass dieses Organ in der Hauptfrage seiner Existenz – Organ der Linken Opposition oder nicht – im Laufe weniger Monate seine Position änderte, wobei die Erklärung war, dass ein Genosse beigetreten oder zurückgetreten sei. Da ich keinen Zweifel hegte, dass neben Elementen mit ungerechtfertigten Ambitionen am „Mahnruf“ sich auch gute Elemente beteiligen, hatte ich desto weniger Grund, meine Meinung über die politische Lebensunfähigkeit des Organs auszusprechen, da ich mit der baldigen Verschmelzung mit der „Arbeiterstimme“ rechnete. Die großen politischen Meinungsverschiedenheiten werden aufgetischt nur, um die Vereinigung unmöglich zu machen. Was für einen Sinn hätte es für die Internationale Opposition, sich in diesem Falle auf die Seite der Mahnrufgruppe zu stellen? Nehmen wir die Frage ganz objektiv: a) Die Mahnrufgruppe ist politisch weniger klar und weniger standhaft, wie ihr Organ beweist. b) hat weniger Arbeiter, einen kleineren Wirkungskreis. c) hat weniger qualifizierte Kader. Da die beiden Gruppen sich zur internationalen Opposition bekennen und politische Meinungsverschiedenheiten, die die Wahl ermöglichen würden, nicht vorhanden sind, da die Einigung sich als unmöglich erweist (oder falls sie sich als unmöglich erweist), so würde die Internationale Opposition sich für die „Arbeiterstimme“ entscheiden müssen, jedenfalls würde ich mich in diesem Sinne entschließen und für diesen Entschluss Propaganda führen.

5° Die Frage steht aber noch ungünstiger für die Mahnrufgruppe. Denn die „Arbeiterstimme“-Gruppe hat ja den Entwurf einer Einigungsplattform ausgearbeitet, von dem Sie leider mit keinem Worte Erwähnung tun und was ich mir nicht anders erklären kann, als dass Sie sich nicht vom politischen, sondern vom organisations-persönlichen Standpunkt leiten lassen. Ich finde diesen Entwurf mit zwei Abänderungen, die ich vorschlage, für ganz geeignet als Plattform der Vereinigung. Wenn die Mahnrufgruppe die Fragen anders behandelt, warum hat sie keinen Gegenentwurf oder keine Amendments ausgearbeitet?

6° Wenn man die Plattform annimmt, so ist in Österreich, wie in China, wie in Deutschland kein anderes Verhätnis für die Vereinigung möglich wie das Proporzverhältis. Die Forderung der Parität ungeachtet der Mitgliederanzahl ist ungeheuerlich. Dass der Vorschlag des Proporz für Österreich keine Ausnahme ist, wissen Sie selbst sehr gut, weil wir dasselbe Vorgehen für Deutschland angewendet und später auch den chinesischen Genossen mit Ihrer Zustimmung vorgeschlagen haben. Die Zahl der organisierten Arbeiter zu ignorieren und die Prätentionen der Führer durch Paritätseinrichtungen zu prämieren, widerspräche vollständig der Parteidemokratie.

7° Ich mache mir keine Illusionen über die Art und Weise des Genossen Frey, an gewisse Fragen heranzugehen und auch über das Regime in der Organisation, die er leitet. Ich werde ganz konkrete organisatorische Vorschläge unterbreiten, die das Verhältnis zwischen der österreichischen Opposition und der Internationalen, die das Regime der ersteren, in Zukunft regulieren soll. Dies aber ist eine andere Frage, die praktisch zu lösen eine systematische und andauernde Arbeit von uns allen fordern wird.

Heute handelt es sich um eine gewisse Etappe, d.h. die Existenz paralleler Organisationen in Österreich ein Ende zu setzen. Ich schlage in dieser Richtung vor, den Plattformentwurf der Freygruppe als grundlegend anzuerkennen, die Genossen von der Mahnrufgruppe aufzufordern, ihre Abänderungs- oder Zusatzanträge zu formulieren (selbstverständlich in Bezug auf politische, programmatische und taktische Fragen, nicht in Bezug auf die Vergangenheit der verschiedenen österreichischen Gruppen). Bis zum 20. Dezember muss das Internationale Büro die endgültige Plattform ultimativ, mit fixierter Frist den beiden Organisationen zur Vereinigung vorschlagen. Die Vereinigungskonferenz muss sodann im Verlaufe von zwei Wochen, d.h. nicht später als anfangs Jänner auf der einzig möglichen Basis der Proporzwahlen stattfinden. Das internationale Büro kann, ohne in die demokratischen Befugnisse der Konferenz einzugreifen, jedenfalls noch der Konferenz seinen guten Rat erteilen, in die neu zu wählende Leitung die führenden Genossen des „Mahnruf“ einzugliedern, aufgrund desselben Proporzverhältnisses.

Falls die Mahnrufgruppe Widerstand leistet, wird die KPÖ (Opposition) als die einzige Sektion der Linksopposition in Österreich anerkannt. Das sind meine Vorschläge.1

Diesen Brief betrachte ich als vertraulichen Brief, bestimmt nur für die Mitglieder des Internationalen Büros und Sekretariats, da niemand den Wunsch haben kann, diese internen Differenzen öffentlich auszutragen.

L. D. T.

1Der letzte Satz ist handschriftlich ergänzt.

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