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Leo Trotzki 19300918 Brief an ungarische Genossen

Leo Trotzki: Brief an ungarische Genossen

[Nach dem maschinenschriftlichen Text in Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 1059, International Institute of Social History, Amsterdam]

Teure Genossen,

Ich erhielt Euer Schreiben vom 30. August und die ihm beigelegten Bemerkungen zu meinem Rundschreiben. Die Verspätung meiner Antwort erklärt sich dadurch, dass ich Euren Brief zur Übersetzung ins Deutsche verschicken musste. Wenn Ihr aus Budapest deutsch schreiben könntet, würde dies den Briefwechsel beschleunigen. Ist dies aber für Euch mit Mühen verbunden, schreibt ungarisch, ich werde auch in Hinkunft Eure Briefe zur Übersetzung weitersenden.

Ich war sehr erfreut, sowohl aus dem Bericht der beiden französischen Genossen, wie auch aus Euren Briefen von der Existenz einer Organisation junger kommunistischer Arbeiter in Ungarn zu erfahren, die auf dem Standpunkt der Linksopposition steht. Ich werde auch weiterhin sehr gerne die Verbindung mit Euch unterhalten.

Soweit ich aus Euren Auseinandersetzungen schließen kann, gibt es in den Reihen der ungarischen Opposition noch verschiedene Strömungen, die unausweichlich in verschiedene Richtungen auseinandergehen werden müssen, und je früher dies der Fall sein wird, umso besser.

In Ungarn gibt es offenbar bis heute keine selbständige Organisation der Rechtsopposition (so wie die Brandlerianer in Deutschland, die Gruppe Lovestone in Amerika, die Gruppe Neuraths in der Tschechoslowakei usw.). Die rechten Elemente verbergen sich offenbar noch gemeinhin unter dem Banner der Opposition. Das ist gefährlich.

Andererseits sind in den Reihen der Opposition nicht wenige Ultralinke und einfach Wirrköpfe, die rechte Ansichten mit ultralinken vereinigen, wie Korsch oder Urbahns in Deutschland, die Prager Gruppe Arthur Pollaks usw.

Sich von Elementen dieser Art abzugrenzen ist völlig unerlässlich. Das kam nur auf Grund prinzipieller Fragen, sowohl ungarischen als auch internationalen Charakters, geschehen. Es ist unumgänglich notwendig, dass Ihr Euch näher mit jener Diskussion bekannt macht, die zwischen uns, Bolschewiki-Leninisten, einerseits, den Rechten und Ultralinken andererseits, geführt worden ist. Die ungarischen Genossen Emigranten müssen Euch die wichtigsten Dokumente dieser Diskussion oder wenigstens Auszüge aus den Dokumenten übersetzen, damit Ihr vollkommen am Laufenden seid und an der gesamten Arbeit der Internationalen Opposition aktiven Anteil nehmen könnt.

Die Notwendigkeit einer prinzipiellen Abgrenzung bedeutet selbstverständlich keineswegs, dass man jeden Arbeiter ausschließen soll, der sich in der einen oder anderen Frage geirrt hat, oder Zweifel und Schwankungen hat. Im Gegenteil, wir müssen mit größter Geduld und in kameradschaftlicher Weise die Propaganda unserer Ansichten führen und den Mitgliedern der Organisation oder Sympathisierenden die Möglichkeit geben, jede Frage selbständig zu durchdenken und zur richtigen Folgerung zu kommen, sei es auch nach Zweifeln und Schwankungen, besonders wichtig ist dies für eine Organisation der Jugend. Brechen muss man mit jenen Elementen, bei denen schon vollständig eine der unsrigen entgegengesetzte Weltauffassung sich herausgebildet hat und die bloß deshalb die Reihen der Opposition ausfüllen wollen, um ihre dem Marxismus und Leninismus feindlichen Anschauungen zu propagieren.

Ihr schreibt, dass die offizielle ungarische Partei eine ganz kleine Sekte ist, fügt aber dabei auch hinzu, dass Eure Organisation eine noch kleinere Sekte sei. Es scheint mir, dass Ihr die BezeichnungSekte" Euch unnötigerweise gebt. Eine schwache Organisation heißt noch keine Sekte. Hat sie richtige Methoden, wird sie, früher oder später, Einfluss auf die Arbeiterklasse gewinnen. Sekte würde ich nur eine solche Art Organisation nennen, die, kraft der Fehlerhaftigkeit ihrer Methoden, verurteilt ist, stets abseits zu bleiben von Leben und Kampf der Arbeiterklasse.

Ihr seid vollkommen im Recht, wenn Ihr sagt, dass Euch nichts anderes übrig bleibt, als jene Arbeit selbst auf Euch zu nehmen, die die offizielle Partei nicht erfüllen will oder kann. Es wäre ein Unsinn, die Stalinsche Bürokratie um Erlaubnis zu bitten, die die Bolschewiki-Leninisten ausschließt und vernichtet. Selbstverständlich müsst und werdet Ihr selbständig darum kämpfen müssen, die Massen unter das Banner des Kommunismus zu bringen. Daraus aber erfließt durchaus nicht die Politik einer zweiten Partei oder IV. Internationale. Sogar wenn in Ungarn die offizielle Partei weitaus schwächer wäre als Eure Organisation, würde das noch nicht die Frage lösen, denn, wie Ihr ganz richtig schreibt, wird diese Frage im internationalen Maßstabe gelöst. Selbstverständlich werden in jedem einzelnen Lande die Methoden der oppositionellen Tätigkeit durch die nationalen Bedingungen bestimmt und vor alles durch das Kräfteverhältnis zwischen der Opposition und offiziellen kommunistischen Partei im gegebenen Lande.

lch schicke Euch anbei die Kopie meines gestrigen Briefes an die Konferenz der deutschen Opposition, weil der Brief gerade der Frage des Verhältnisses der Opposition zur offiziellen Partei in einen solchen Lande gewidmet ist, wo der Partei Millionen Arbeiter folgen.

Manche ungarische Oppositionelle behaupten, nach Euren Worten, dass der direkte Übergang von Feudalismus zum Sozialismus undenkbar ist, und die Sowjetrepublik daher nicht zum Sozialismus ,sondern nur zum Kapitalismus gelangen kann. Eine solche Fragestellung ist durch und durch irrig. In Russland spielten am Vorabend der Revolution die vorherrschende Rolle nicht die Feudal-, sondern die kapitalistischen Verhältnisse: woher wäre denn anders das Proletariat hergekommen, das sich als fähig erwies, die Staatsmacht zu erobern?

Ebenso unrichtig ist die Behauptung die NEP führe unausweichlich zum Kapitalismus. Diese Frage kann überhaupt nicht von vornherein gelöst werden: alles hängt von den Kräftebeziehungen ab. Das Proletariat der fortgeschrittensten Länder wird nach der Machteroberung für eine ziemlich geraume Übergangsperiode Marktbeziehungen zulassen müssen, sie immer mehr und mehr organisieren und auf diese Weise allmählich die Warenform der Wirtschaft verdrängen.

Um in Russland den Staatskapitalismus im wahren Sinne des Wortes zu errichten, müsste die Macht in die Hände der Bourgeoisie übergehen. Ohne Bürgerkrieg ist dies undenkbar. Ist der Ausbruch eines solchen Bürgerkrieges möglich? Vollkommen möglich. Die Politik der Stalinschen Bürokraten hat die Positionen des Proletariats sehr geschwächt, seinen revolutionären Geist herabgemindert, und gleichzeitig durch eine Reihe irriger und sogar unsinniger Maßnahmen eine erschreckende Erbitterung beim Kleinbürgertum hervorgerufen. Auf wessen Seite würde im Falle eines Bürgerkrieges der Sieg sein? Das kann man niemals im Voraus sagen. Aber wir müssen alles tun, damit er auf Seiten des Proletariats sei. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass, wenn die Bourgeoisie – die einheimische mit Hilfe der ausländischen – versuchen würde, all das ihr im Oktober 1917 Abgenommene sich wieder zu verschaffen, in dem vom stalinschen Apparat niedergehaltenen Proletariat eine gewaltige revolutionäre Kraft wach werden würde. In einem derartigen Kampfe um die Oktoberpositionen würde auch der Stalinsche Apparat seine Vorherrschaft verlieren. Dem Sowjetproletariat die Lösung seiner Aufgeben zu erleichtern, ist die Pflicht der internationalen und in erster Reihe der russischen Opposition.

Richtig ist nur eines: Die Sowjetunion wird eine sozialistische Gesellschaft nicht aufbauen ohne den Sieg des Proletariats im Westen, in den fortgeschrittenen Ländern. Da aber die Existenz der Sowjetunion diesen Sieg erleichtert, ist der Kampf für die Wiederbelebung und Festigung der proletarischen Diktatur in Sowjetrussland eine der wichtigsten Aufgaben der kommunistischen Opposition.

lch drücke Euch fest die Hand, sende Euch einen warmen kommunistischen Gruß und wünsche Erfolg

L. D. Tr.

Prinkipo, den 18. September 1930


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