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Leo Trotzki 19300323 Die Lage der Partei und die Aufgaben der linken Opposition

Leo Trotzki: Die Lage der Partei und die Aufgaben der linken Opposition

Offener Brief an die Mitglieder der WKP (B)

[Nach der in Berlin 1930 erschienen Broschüre]

Liebe Genossen!

Diese Zeilen sind vom Gefühl der größten Sorge um die Zukunft der Sowjetunion und um das Schicksal der Diktatur des Proletariats diktiert. Die Politik der heutigen Leitung, d. h. der engen Gruppe Stalins, führt das Land mit Volldampf gefährlichen Krisen und Erschütterungen entgegen.

Alles, was jahrelang gegen die Opposition, die es angeblich nicht anerkennen wollte, gepredigt wurde, über die „Smytschka", über die Notwendigkeit einer richtigen Politik in Bezug auf die Bauernschaft, das alles ist auf einmal vergessen oder, richtiger gesagt, in sein Gegenteil verwandelt worden. Die Anfangsgrundlagen des Marxismus werden jetzt mit den Füßen getreten. Am schärfsten hat es sich in der Frage der Kollektivierung geäußert. Unter der direkten Wirkung rein administrativer Maßnahmen in den Jahren 1928-29 hat die Kollektivierung im Kampfe um das Brot einen Umfang erreicht, der von niemandem vorausgesehen war und der keinen Stützpunkt in den vorhandenen Produktionsmitteln hat. Daraus ergibt sich unvermeidlich die Perspektive des Zerfalls der Mehrheit der Kolchosen, der von einem tiefen inneren Kampfe und einer anhaltenden Untergrabung der heutigen ohnehin schon äußerst niedrigen Produktionskraft der Landwirtschaft begleitet wird.

Aber auch die lebensfähige Minderheit der Kolchosen, die einen wichtigen Schritt vorwärts bedeuten, sind noch keinesfalls der „Sozialismus". Unter der Bedingung der Warenwirtschaft und der heutigen Produktionsmittel werden die Kolchosen eine neue Schicht Bauern-Ausbeuter erzeugen. Die administrative Zerschlagung der außerhalb der Kolchosen stehenden Kulaken verändert nicht nur nicht das ökonomische Gewebe der Bauernschaft, sondern sie kann auch die Entstehung eines neuen Kulakentums innerhalb der Kolchosen nicht verhindern. Das wird sich zuallererst in jenen Artels zeigen, die den größten wirtschaftlichen Erfolg haben werden. Indem sie die Kolchosen als sozialistische Betriebe proklamiert, schützt die heutige Leitung schon allein damit die Verschleierung des Kulakentums innerhalb der Kolchosen. Selbstredend tut sie es ohne vorgefasste Absicht, zum Unglück ist ihre gesamte Politik derartig; sie überlegt nichts, sie berechnet nichts, sondern trottet am Schwanze der elementaren Prozesse einher und fällt aus einem Extrem in das andere.

Um .die „durchgehende" Kollektivierung auch nur bis zu einem gewissen Grade technisch zu stützen, ist man heute gezwungen, das Programm der Produktion an landwirtschaftlichen Geräten und Maschinen schroff zu steigern. Diese Produktion hängt jedoch von einer Reihe anderer Industriezweige ab. Der Produktionsplan hat ohnehin die höchste Spannung erreicht. Wenn man aber auch annimmt, dass das neue Programm des landwirtschaftlichen Maschinenbaus verwirklicht wird, was noch lange nicht sicher ist, so würde das Tempo der Kollektivierung auch unter dieser Bedingung um ein mehrfaches die materiellen Möglichkeiten übersteigen.

Man darf keinen Augenblick vergessen, dass die Kollektivierung nicht aus den durch breiteste Erfahrung der Gesamtbauernschaft bewiesenen Vorzügen der Kollektivwirtschaft vor der Individualwirtschaft erwachsen ist, sondern aus administrativen Sondermaßnahmen im Kampfe um das Brot. Die Notwendigkeit, dieser Maßnahmen ist wiederum aus der falschen Wirtschaftspolitik der Jahre 1923-1928 entstanden, vor allem aus dem Zurückbleiben der Industrie und aus der falschen Einstellung zum armen Bauern und zum Kulaken.

Es ist selbstverständlich, dass die grundlegenden Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaus vom Willen der Leitung unabhängig sind. Sie wurzeln in der Unmöglichkeit des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft in einem Lande, dazu noch in einem äußerst zurückgebliebenen. Aber gerade deshalb muss von der Leitung ein klares Verständnis für alle Entwicklungsfaktoren gefordert werden und rechtzeitige Einsicht dessen, was im Bereich des Möglichen liegt. Unter dieser Bedingung sind ernste Erfolge auf dem Wege des sozialistischen Aufbaus erreichbar, vor allem aber die Erhaltung der Diktatur des Proletariats bis zum Siege der Revolution in den fortgeschrittenen Ländern. Zum Unglück zeigt die zentristische Leitung eine fatale Unfähigkeit, die inneren Hilfsmittel der Diktatur richtig einzuschätzen und. deren Abhängigkeit von den bewegenden Kräften der Weltlage richtig zu verstehen.

Der erste Entwurf des Fünfjahresplanes, der im Jahre 1926 ausgearbeitet wurde, sah eine Steigerung der Industrie um 9-10 Prozent pro Jahr voraus. Unter dem Einfluss der Kritik der Opposition, die die Lehren des Lebens beleuchtete, wurde der Entwurf umgearbeitet und der Durchschnitt der Steigerung auf 20 Prozent erhöht. Jetzt aber kennt die Leitung aus Angst vor ihrer eigenen Unentschlossenheit keinen Halt mehr. Bevor noch das geplante hohe Tempo durch die Tat ernstlich nachgeprüft, bevor noch die Erfolge auch nur im Geringsten gesichert und bevor noch eine Besserung der Lage der Arbeiter erreicht wurde, hat die Stalinsche Leitung die Losung aufgestellt: „Den Fünfjahresplan in vier Jahren". Das Programm des landwirtschaftlichen Maschinenbaus sieht ein noch viel schnelleres Tempo vor. Und die Kollektivierung der kleinen Bauernwirtschaften, d. h. eine ihrem Weisen nach äußerst schwierige und langwierige Aufgabe, lässt alle anderen wirtschaftlichen Prozesse weit hinter sich. Wie es in der Geschichte wiederholt geschah, verwandelte sich die Nachhinkerei in ihr Gegenteil – in Abenteurertum. Niemals aber geschah diese Verwandlung in einem solchen Maßstabe. Niemals ging es um einen historisch so gigantischen Einsatz, wie es das Schicksal der Oktoberrevolution ist.

Man kann die Wirtschaft nicht vergewaltigen. Die Hetzjagd, die materielle Möglichkeiten überholen möchte, führt zur Schaffung eingebildeter Hilfsmittel dort, wo es keine realen Hilfsmittel gibt. Das nennt man Papiergeld-Inflation. Symptome dafür sind bereits vorhanden, und das sind Symptome einer drohenden Wirtschaftskrise. Bevor diese eine explodierende Form annimmt, äußert sie sich schwer im Alltagsleben der Massen, indem sie die Preise steigert oder deren Senkung verhindert. Das Problem der Verteilung der Volkseinnahmen zwischen den Bedürfnissen des laufenden Tages und den Bedürfnissen der Anhäufung, d.h. der erweiterten Produktion, ist die grundlegende Frage des sozialistischen Aufbaues, die mit der Frage der gegenseitigen Beziehungen zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft, wie auch der verschiedenen Schichten innerhalb der Bauernschaften selbst, eng verbunden ist. Diese Fragen lassen sich nicht a priori, d.h. bürokratisch lösen. Es geht um das tägliche Leben der Massen, und die Massen müssen selbst die Möglichkeit .haben, „Korrekturen" vorzunehmen an den abstrakten Wirtschaftsplänen. In diesem Punkte sind die Fragen der Wirtschaft mit den Fragen des Parteiregimes, der Gewerkschaften und der Sowjets, unzertrennlich verbunden.

Die grundlegenden Ursachen der Widersprüche der Entwicklung bestehen, wie schon gesagt, in der isolierten Lage der Sowjetunion, Aber der herrschende Kurs verschärft diese Widersprüche, statt sie zu mildern. Der ganze Wirtschaftsplan hat einen fundamentalen Fehler. Anstatt sich die Aufgabe zu stellen, die Diktatur des Proletariats und dessen Bündnisse mit der Bauernschaft mit Hilfe des vorteilhaftesten, innerlich bestens angepasstem wirtschaftlichen Tempos ökonomisch zu festigen, und dabei die Lebensbedürfnisse der Massen während der Vorbereitungsepoche und der Übergangsperiode, das heißt bis zur weiteren Etappe der internationalen Revolution, zu berücksichtigen, stellt sich der Wirtschaftsplan eine nicht zu verwirklichende, utopische und ökonomisch reaktionäre Aufgabe: auf der Basis unserer Zurückgebliebenheit und unserer Armut „in kürzester Frist" eine selbständige, isolierte sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Früher galt die Meinung, die Lösung dieser Aufgabe sei möglich, wenn auch im „Schneckentempo" (Bucharin). Jetzt flüchtet die Leitung vor den Folgen des dauernden Nachhinkens in einen „rasenden Galopp" (der gleiche Bucharin, aber rekonstruiert).

Im Namen der abenteuerlichen Tempos, die unterwegs wechseln, miteinander nicht übereinstimmen, nicht nachgeprüft werden, nicht selten gegeneinander gerichtet sind, wird auf die Arbeitskraft ein ungeheurer Druck ausgeübt, während der Lebensstandard der Werktätigen offensichtlich sinkt, Das Rennen der Industrialisierung führt zur Verschlechterung der Qualität der Produktion, was wiederum den Konsumenten schwer trifft und den morgigen Tag der Produktion untergräbt.

Die heutige Leitung führt das Land auf diese Weise sowohl auf der Linie der Industrie, wie der Landwirtschaft, wie der Finanzen schweren Krisen und politischen Erschütterungen entgegen.

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Soeben, während diese Zeilen geschrieben werden, erreichen uns die ersten Signale des begonnenen Rückzuges. Zuerst der Artikel von Stalin, dann das neue Zirkular des Zentralkomitees. In die Klemme der neuen Widersprüche geraten, für die er die Verantwortung trägt, warnt Stalin hochtrabend vor dem „Kopfschwindel", vor den „Erfolgen", seine Weisheit dahin resümierend, es handle sich nicht darum, das „Hausgeflügel" zu vergesellschaften. Als ob es darum gehe! Als ob der utopisch-reaktionäre Charakter der „durchgehenden Kollektivierung" nur in der vorzeitigen Kollektivierung der Hühner bestehe, nicht aber vielmehr in der zwangsweisen Schaffung großer Kollektivwirtschaften ohne Vorhandensein jener technischen Grundlage, die allein imstande ist, den Kollektivwirtschaften das Übergewicht vor den kleinen Wirtschaften zu sichern.

Das Zirkular des Zentralkomitees geht noch viel weiter als der Stalinsche Artikel. Beim Rückzug wie beim Angriff trottet die zentristische Leitung beständig den Elementarprozessen und deren Auswirkungen im Apparat hinterher. Nachdem die „Kollektivierung" – in wenigen Monaten – mehr als die Hälfte der Bauernschaft erfasst hat, entdeckt die Leitung, dass „ein bekannter (!) Hinweis Lenins verletzt" werde, betreffend den freiwilligen Charakter der Vergesellschaftung. Nebenbei beschuldigt das Zirkular die „Funktionäre" der Verletzung der vom Zentralkomitee herausgegebenen „Statuten der landwirtschaftlichen Artels". Aber erstens sind diese Statuten vor wenigen Tagen herausgegeben worden, d. h. nachdem die Kollektivbewegung bereits über 50 Prozent der Höfe erfasst hatte, und zweitens – und das ist das Wichtigste – sind die Statuten voller Widersprüche und Zweideutigkeiten, denn sie verschweigen bewusst die Differenzierung innerhalb der zu kollektivierenden Bauern, und stellen die Sache so dar, als sei nach der Liquidierung bestimmter Kulaken die übrige Bauernschaft eine einheitliche Masse. Die ganze Politik der Kollektivierung wird nach der Vogel-Strauß-Methode geübt: „Den Kopf in den Sand stecken." Das Zirkular vom 15, März beschuldigt die bedauernswerten Funktionäre aller Todsünden und stempelt sie (im Namen des Zentralkomitees) als „Tölpel", d. h. die Leitung schiebt, wie stets, „grob und illoyal" die Schuld auf die kleinen Funktionäre, die die Losung: Liquidierung der Klassen „in kürzester Frist", ernst genommen haben. Nach dem hilflosen und groben Zirkular vom 15. März gerieten die armen „Funktionäre" und mit ihnen, ach, die Partei in ihrer Gesamtheit endgültig in eine Sackgasse. Was nun? Es ist ja bereits die größere Hälfte des bäuerlichen Ozeans „vergesellschaftet". Wie groß ist das spezifische Gewicht der „Tölpelhaftigkeit" an diesem Erfolg? 5 Prozent? Oder 40 Prozent? Mit anderen Worten: ist der Charakter der Kollektivierung in seiner Gesamtheit ökonomisch oder nur administrativ begründet? Das Zirkular beantwortete diese Kernfrage nicht. Aber die Antwort ist nicht nur klar, sondern für die „Generallinie" der heutigen Leitung vernichtend.

Die Sache wird bei diesen ersten Signalen des Rückzuges nicht stehen bleiben, weder in Bezug auf die Wirtschaftspolitik, noch in Bezug auf das innere Leben der Partei. Die Blindheit der Leitung ist diesmal zu nackt hervorgetreten. Büßen dafür wird die Partei. Entkulakisierung, durchgehende Kollektivierung, administrative Verwandlung der Artels in Kommunen, alle diese noch gestern uneingeschränkt begünstigten Prozesse werden, in vollem Gange, heute gebremst. Die diplomatischen oder bürokratischen Manöver können eine sehr schroffe Wendung nehmen; aber schroffe Wendungen, die die Lebensinteressen von 25 Millionen Bauernwirtschaften betreffen, und diese während eines Jahres sinnlos nach links und nach rechts zerren, können nicht spurlos an der Partei vorbeigehen. Die zentristische Denkunfähigkeit und die bürokratischen Abenteuer werden aus diesem Experiment stark kompromittiert hervorgehen.

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Eine richtige Politik in der UdSSR ist nur in Verbindung mit einer richtigen Weltpolitik der proletarischen Avantgarde denkbar. Aber die Leitung der Komintern steht auf einem niedrigeren Niveau als die Leitung der KPdSU!

Seit dem Jahre 1923 ist die Komintern nicht herausgekommen aus tragischem Schwankungen, die ihre Organisation, untergraben und ihren Einfluss auf die Arbeitermassen schwächen. Am Schwanze der Ereignisse einher trottend und jedes Mal auf Widerstand stoßend, führte die Komintern in den letzten sieben Jahren unveränderlich eine opportunistische Politik während der revolutionären Aufstiege, und eine putschistische Politik während der revolutionären Ebben. Erst in den allerletzten Jahren, erst nachdem die chinesische Revolution durch die Leitung Stalin-Bucharin umgebracht wurde, erst nachdem es den Streikbrechern der englischen Trade-Unionisten mit Hilfe der blinden Moskauer Bürokratie gelungen war, den revolutionären Angriff der Massen abzuwehren, proklamierte die Leitung der Komintern den Anbruch der „dritten Periode", als einer Periode unmittelbarer revolutionärer Kämpfe. Seitdem, d. h. seit zwei Jahren wird das Bild der Entwicklung in der Welt systematisch entstellt und im Interesse der Theorie der „dritten Periode" verfälscht. Die auf die reale Entwicklung des Klassenkampfes sich stützende revolutionäre Politik wird durch eine Katastrophenpolitik ersetzt.

Die Jahre der Fehler der Komintern sind indessen Jahre bedeutender Stärkung für die Sozialdemokratie gewesen. Es ist eine neue Generation Arbeiter herangewachsen, die den Verrat der Sozialdemokratie im Kriege und in der Revolution nicht miterlebt hat, dagegen aber 6 bis 7 Jahre Hinundherschwankens der kommunistischen Parteien. In dem Bestreben, die Aufgabe, die Massen zu gewinnen, mit einem Schlage zu lösen, hat der VI. Kongress die Theorie des „Sozialfaschismus" adoptiert. Als ob man durch Beschwörungen mit einem mächtigen Feind fertig werden könne! Indem sie die demokratische Dienerin des Kapitals mit dessen faschistischer Leibgarde identifizierte, erwies die Komintern der Sozialdemokratie den besten Dienst. In den Ländern, wo der Faschismus eine Macht darstellt, vor allem in Italien, dann in Österreich und Deutschland, kostet es die Sozialdemokratie keine große Mühe, den Arbeitermassen nicht nur den Unterschied, sondern auch die zwischen ihr und dem Faschismus bestehende Feindschaft zu zeigen. Die Sozialdemokratie wird dadurch von der Notwendigkeit befreit, zu beweisen dass sie nicht die demokratische Dienerin des Kapitals ist. Der ganze politische Kampf wird zum größten Vorteil für die Sozialdemokratie auf eine künstlich geschaffene Ebene geschoben.

Indem sie zwischen sich und den sozialdemokratischen Massen eine Barriere errichtete, stellte die kommunistische Bürokratie in Wirklichkeit den Kampf gegen die Sozialdemokratie ein und beschränkte ihre Aufgabe auf stürmische Mobilisierungen jener Minderheit der Arbeiterschaft, auf die sich der Einfluss des Kommunismus erstreckt. Diesem Ziele dienen die endlosen „roten Tage".

Den gleichen Charakter erhält auch die Arbeit auf dem Gebiet der Gewerkschaftsbewegung. Während sie sich die ganz richtige Aufgabe stellt, die ökonomischen Konflikte auszunutzen zur Revolutionierung der Massen und zur Vorbereitung des allgemeinen Streiks und des Aufstandes, wendet die kommunistische Bürokratie, unter der Knute der Theorie der „dritten Periode", eine Abenteuertaktik an, die nur zu Niederlagen führen kann. Das Studium der realen Bedingungen der Streikbewegung wird durch Zitate aus der letzten Direktive … Manuilskis oder Molotows ersetzt. Die „Politisierung" der Streiks läuft in den meisten Fällen darauf hinaus, hinter dem Rücken der desorientierten Masse den realen Parolen fiktive Parolen zu unterschieben. Über allen Aufgaben steht für die Parteibürokratie die Aufgabe der Selbsterhaltung. Je gröber die eigenen Fehler sind, umso entschlossener überträgt sie ihre innerparteilichen Kampfmethoden auf die Gewerkschaftsbewegung und festigt vorübergehend ihre Positionen im Apparat auf Kosten der verlorenen Positionen in den Massen.

Die offizielle Presse und vor allem die Moskauer „Prawda" führt ihre Leser hinsichtlich der wirklichen Lage in der Komintern irre. Die Tatsachen aber bleiben bestehen. Heute, wo die Handels- und Industriekrise wieder äußerst schwankende kapitalistische Beziehungen – sozial wie international – schafft, stehen alle kommunistischen Parteien geschwächt da, innerlich desorganisiert, ohne Glauben an die Leitung, ohne Glauben der Massen an die Parolen der Komintern.

Das Gefährlichste jedoch ist, dass unter dem Schein der „Selbstkritik" in der Komintern wie in der KPdSU ein demoralisierendes Regime der passiven Anbetung aller Zickzacks der „Generallinie" errichtet wurde, der „Generallinie", die von einer Gruppe verantwortungsloser Beamten fabriziert wird.

Der rechte Flügel des Kommunismus, von bewusst opportunistischen Elementen geleitet (Brandler, Louis Sellier, Lovestone, Jilek, Roy usw.), der noch gestern Stalin gestützt und: geholfen hat, die Linken niederzuschlagen, gewinnt nicht wenige revolutionäre Arbeiter, die durch die gefährlichen Abenteuer der offiziellen Politik verwirrt wurden. Eine noch größere Zahl revolutionärer Arbeiter verfällt in Indifferentismus.

Der Bruch der Epigonen-Leitung mit den Leninschen Traditionen hat einen vollendeten organisatorischen Ausdruck gefunden: alle führenden Kaders, die die Kommunistische Internationale aufgebaut und in der Periode der ersten vier Kongresse repräsentiert hatten, sind nicht nur aus der Leitung entfernt, sondern in überwältigender Mehrzahl aus den Reihen des offiziellen Kommunismus ausgeschlossen worden. Schon diese Tatsache allein beweist die ganze Tiefe des Bruches mit der revolutionären Vergangenheit. Die neue „Theorie", die neue Politik und das neue Regime verlangten nach neuen Menschen. Man muss die Arbeiter offen warnen; im Augenblick der Gefahr, in der Stünde der entscheidenden Kämpfe wird der Apparat der Komintern seine revolutionäre Unfähigkeit enthüllen. Beamte, die sich verantwortungslos jeder neuen Obrigkeit anpassen, haben sich noch niemals als geeignet erwiesen für einen Sturm auf die herrschenden Klassen.

Auf den linken Flügel der Bolschewiken-Leninisten, dessen vorausschauende Kritik und Parolen sich sowohl in der inneren Entwicklung der UdSSR. wie im internationalen Maßstabe voll und ganz als richtig bestätigt haben, wird eine schändliche Hetzjagd betrieben. Aber allen Verleumdungen der offiziellen Presse zum Trotz wächst die linke Opposition geistig und zahlenmäßig in der ganzen Welt. Sie hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Die Organe der linken Opposition in Europa, Amerika und Asien stellen heute die einzige ernste marxistisch-bolschewistische Presse dar, die die Tatsachen analysiert, Schlussfolgerungen zieht, lernt, Kaders erzieht und die Wiedergeburt der Kommunistischen Internationale vorbereitet.

Die linke Opposition hat in allen Ländlern diejenigen aus ihrer Mitte hinausgeworfen, die im Zeichen der Opposition bestrebt waren, opportunistische Ansichten, kleinbürgerlichen Dilettantismus oder halbanarchistische Feindschaft für das Land der proletarischen Diktatur zu verbergen, Entgegen der Verleumdung der offiziellen Presse hat die internationale linke Opposition ihre unerschütterliche Treue zur Oktoberrevolution und zum Sowjetstaat bewahrt.

Die falschen Freunde, die sich die Sowjetbürokratie mit Hilfe von Konzessionen und Entgegenkommen gewonnen hat, alle diese Purcell, Fimmen und Barbusse der verschiedenen Länder, sind vielleicht für Jubiläumsfeste gut, nicht aber für den revolutionären Kampf. Die Opposition stellt eine geistige Auslese dar, gestählt durch Verfolgungen und Repressalien. In den schwierigen Stunden wird sie auf Vorposten stehen.

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Die russischen Menschewiki, Sozialrevolutionäre und die anderen Gruppen, die zusammen mit der Bourgeoisie in die Versenkung geraten sind, spitzen die Ohren in der Hoffnung, durch die Krise aus dem Nichts aufzuerstehen. Die „demokratischen" Helfershelfer der ausbeutenden Klassen bilden sich ein, der Sturz der Sowjetmacht, den sie so sehnsüchtig erwarten, werde ihnen neues Leben bringen. In Wirklichkeit würde der Zusammenbruch der Diktatur des Proletariats einen langjährigen Bürgerkrieg bedeuten, ohnmächtige Versuche bonapartistischer Diktaturen in den verschiedenen Teilen des Landes nach chinesisch-Denikinschem Muster, sowie unvermeidlichen Rückgang der ökonomischen und kulturellen Entwicklung auf Jahre hinaus. Der Ausweg aus diesem Chaos könnte nicht aus der Richtung der Demokratie kommen, die für Russland angesichts seiner Struktur und Geschichte von allen politischen Formen die unwahrscheinlichste ist, sondern aus der Richtung der kolonialen Versklavung oder – aus einer neuen Oktoberrevolution.

Die internationale Sozialdemokratie ist nicht fähig und nicht gewillt, das mächtige ökonomische und kulturelle Ausmaß der Oktoberrevolution zu sehen, die auf allen Gebieten eine solche schöpferische Kraft gezeigt hat, wie kein anderes Regime der Geschichte. Alle heutigen Gefahren, die letzten Endes in dem großen Verrat der internationalen Sozialdemokratie wurzeln, die ihren Platz freiwillig dem Kapital abgetreten hat, alle heutigen Fehler der Stalinschen Leitung können die Tatsache nicht für eine Stunde verhüllen, dass es Dank dem proletarischen Charakter des Staates gelang, solche Tempos der wirtschaftlichen Entwicklung zu erreichen, die der Kapitalismus niemals gekannt hat. Allein schon die Möglichkeit der heutigen Erfahrung mit der Planwirtschaft und der Kollektivierung, mit all ihren Widersprüchen und Fehlern, stellt eine gigantische Eroberung für die gesamte Menschheit dar. Kann man denn diese Fehler der heutigen Leitung auch nur einen Augenblick lang mit solchen „Fehlern" vergleichen, wie etwa die patriotische Beteiligung der Sozialdemokratie am imperialistischen Schlachten oder wie das heutige widerliche Treiben der Müller und Macdonald, die auf dem Bauche herumkriechen, um für die Verjüngung des Kapitalismus ein neues Rezept zu finden?

Die Errungenschaften der Oktoberrevolution beweisen, welche unermesslichen Möglichkeiten sich vor Europa und der gesamten Menschheit eröffnet haben würden, wenn die Sozialdemokratie Deutschlands, Englands und jener anderen Länder, in denen sie sogar formell die Mehrheit hätte werden können, wenn sie es nur „gewollt", d. h. wenn sie ein proletarisches Programm entfaltet haben würde, wenn diese Sozialdemokratie die sozialistische Umgestaltung der Beziehungen auf der Basis der solidarischen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion auf die Tagesordnung gestellt hätte. Davon aber kann keine Rede sein, denn die Sozialdemokratie ist die „demokratische" Grundlage des kapitalistischen Konservatismus, die vorletzte Hilfsquelle der auf Ausbeutung beruhenden Gesellschaft. Ihre letzte Hilfsquelle ist der Faschismus.

Die sozialdemokratische „Kritik" am Sowjetregime hat den gleichen Sinn wie die Knarre eines Nachtwächters: sie sorgt für die Ruhe der Besitzenden und bewacht deren Schlaf. Die Sozialdemokratie nutzt die von ihr selbst bereiteten elementaren Schwierigkeiten der Sowjetunion wie die ergänzenden Schwierigkeiten, die die heutige Leitung erzeugt, aus, nutzt sie aus zum offenen Kampfe gegen die Diktatur des Proletariats. Wenn die Sozialdemokratie in Bezug auf die kapitalistische Welt die Abgabe des Wächters erfüllt, so ist ihre Aufgabe in Bezug auf die Sowjetunion die des Restaurators. Der Kampf um „Demokratie" und „Freiheiten" bedeutet im Ringe des von der Sozialdemokratie geschützten Weltimperialismus den Kampf um die Wiederherstellung des Kapitalismus. Nur diese Frage ist von Bedeutung. Sie zeigt: je schärfer die Krise werden wird, umso erbarmungsloser muss unser Kampf gegen alle demokratischen Agenten der Restauration sein. Gleichzeitig wird es je weiter, umso klarer, dass der Kommunismus den siegreichen Kampf gegen die Sozialdemokratie nur auf den Wegen der Opposition führen kann.

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Die Partei ist das höchste Werkzeug der Politik. In der Partei summieren sich die Möglichkeiten der Revolution und deren Zukunft. Aber von da aus drohen heute auch die Gefahren. Das Abenteurertum der Bürokratie bleibt vor der Frage nach dem Schicksal der Partei nicht stehen. Neben der durchgehenden Kollektivierung laufen die durchgehenden Aufnahmen der Fabriken und Betriebe in die Partei. Das bedeutet nichts anderes als die Auflösung der Partei in der Klasse, d. h. die Abschaffung der Partei. Der bürokratische Apparat erhält damit einen noch selbstgenügsameren Charakter. Seine Schwankungen begegnen weder einer Kritik, noch Korrekturen, noch einem Widerstand, falls nicht das Leben sie mit neuen Schlägen quittiert. Der erste warnende Stoß ist bereits erfolgt. Alles spricht dafür, dass der nächste Stoß viel ernster sein wird als alle vorangegangenen. Das Land fühlt es tief, wenn auch dunkel. Natürlich die verschiedenen Klassen auf verschiedene Art. Die Partei ist von einer dumpfen Sorge erfüllt. Aber die Ordnung in der Partei verbietet es nicht nur, Befürchtungen laut auszusprechen, sondern auch eine Frage zu stellen. In seinem neuesten Stadium besteht das Regime der „Selbstkritik" in der Pflicht eines jeden und aller, nicht nur die Richtigkeit, sondern auch die „Genialität" der Leitung anzuerkennen und jene zu verfolgen, die die Leitung zu verfolgen befiehlt,

Jetzt ist nun völlig klar, dass der „Sieg" der Stalinschen Bürokratie über die Opposition gleichzeitig ein Sieg über die Partei war. Dieser Prozess entwickelte sich parallel mit der Umwandlung einer ganzen Schicht von Revolutionären, mit dem Wachstum der Bürokratie und des Kleinbürgertums in der UdSSR, mit der Stärkung der kapitalistischen Reaktion und der Sozialdemokratie in der ganzen Welt, mit der Niederschlagung der revolutionären Bewegungen, mit der Schwächung der Positionen des Kommunismus und mit der Stärkung der opportunistischen Tendenzen im Kommunismus.

Als er in die Getreidebaukrise von 1927/28 geraten war, machte der Stalinsche Apparat eine schroffe Frontwendung und begann den Kampf gegen den Teil jener kleinbürgerlichen Kräfte, mit deren Hilfe er die Kampagne gegen den linken Flügel geführt hatte. Die Opposition hat, ohne einen Augenblick zu schwanken, diese Wendung, akzeptiert. Sie erklärte ihre völlige Bereitschaft, jeden Schritt der Leitung in die Richtung der revolutionären Politik und der Gesundung des Parteiregimes zu unterstützen.

Jetzt ist es aber unzweifelhaft, dass die linke Wendung des Jahres 1928, die zu einem scharfen Zickzack geführt hat. keinen neuen Kurs brachte. Sie hat ihn nicht bringen können, da sie nicht begleitet war von einer geistigen Erneuerung der Partei. Es blieben: die alte armselige eklektische Wassersuppe statt einer Theorie; dieselben mechanischen Methoden, nur bis zum äußersten gesteigert.

Das Programm der administrativen Liquidierung der Klassen stellt auf politischem Gebiet eine ebenso tötende Tatsache dar, wie auf theoretischem Gebiet das skandalöse Referat Stalins in der Konferenz der Agrar-Marxisten. Es ist unmöglich, dass es in der Partei Lenins nicht Tausende und Abertausende von Menschen geben sollte, bei denen die Stalinsche Politik und die Stalinsche Theorie nicht Sorge, Protest und Empörung hervorrufen. Jedoch offene Proteste wurden nicht laut. Niemand wagte zu widersprechen. Aber die steigbügelhaltenden Zeitungsschreiber neuester Prägung begannen sofort, die „Ideen" des von keinem Wissen getrübten Referats als die letzte Offenbarung des historischen Gedankens zu proklamieren.

Die Stalinsche Parteispitze übernahm das Kommando in unverhülltester Form. Und gerade darum wurde der Höhepunkt ihres Siegesdie Kapitulation der rechten „Führer"der Anfang vom Ende ihrer Herrschaft in der Partei. Die Krönung der unfehlbaren Leitung wurde in dem Augenblick notwendig, als die Leitung der Perspektive ihres Bankrotts zu fühlen begann. Die Partei führt ein immer gespensterhaftes Dasein. Mit ihren Kongressen verfährt Stalin noch empörender als der Zar mit der Duma. Innerhalb des formalen Rahmens der KPdSU gibt es aber gleichzeitig viele Zehntausende von revolutionären Proletariern, die die schöpferische Kraft für die Erneuerung der Partei sein können und sein werden. Mit diesem Kern verbinden wir das Schicksal unserer Fraktion.

Die Situation, in die die Kader der Opposition gebracht wurden, ist beispiellos in der Geschichte der revolutionären Bewegung. Die schweren materiellen Bedingungen der Verbannung werden durch das System der völligen politischen Isolierung vervollständigt. Das komplizierte System der staatlichen und der privaten Maßnahmen ist darauf gerichtet, dem Verbanten das Rückgrat zu brechen. Gleichzeitig bringt die offizielle Presse dem in einem finsteren Verbannungsort lebenden Oppositionellen die ungetrübte Kunde von dem Gang der Kollektivierung, Industrialisierung und der ununterbrochenen Siege der kommunistischen Partei in der ganzen Welt. Einzelne, schwächere Elemente halten diesen Druck nicht aus. Und doch trägt die Mehrzahl der Kapitulationen einen bewusst heuchlerischen Charakter: müde und demoralisiert unterschreiben sie etwas, woran sie nicht glauben. Zum 16. Parteitag wird durch geheime Machenschaften hinter den Kulissen wieder eine Serie von Kapitulationen vorbereitet. Inszenierungen dieser Art sind der widerlichste Ausdruck revolutionärer Auflösung und politischer Verkommenheit. Pathetisches Verweisen auf die Notwendigkeit, in die Partei „zurückzukehren", entlarvt nur den Zynismus in Bezug auf die Partei. Kann man ihr denn mit Lug und Trug dienen? Eben darum verwandelt sie die „autoritativsten" Kapitulanten sofort in politische Leichen, wenn auch nicht in begrabene, während die ausgeschlossene und verfolgte Opposition ein aktiver Faktor im Leben der Sowjetrepublik und der kommunistischen Internationale bleibt.

Und dies ist nicht verwunderlich. Die seit dem Jahre 1923 herausgegebenen zahllosen Bücher und Broschüren gegen die Opposition, Sammelwerke von Zitaten für Kongresse und Konferenzen, Lesebücher gegen den „Trotzkismus" usw. bilden heute die überzeugendsten Beweise für die Richtigkeit der Ansichten der Opposition. Unsere Plattform wird bis auf den heutigen Tag verheimlicht. Man hat eine Todesangst vor ihr und polemisiert gegen sie nur verstohlen. Gleichzeitig jedoch dreht sich das gesamte geistige Leben der Partei heute wie gestern um die Plattform der Opposition wie um eine eigene Achse.

Die Erklärung des Gen. Rakowski, unterstützt von den Kernkaders der Opposition, war die Anwendung der Politik der Einheitsfront in Bezug auf die offizielle Partei. Die zentristische Spitze hat darauf mit verschärften Repressalien geantwortet. Die aufrichtige Bereitwilligkeitserklärung der Opposition, die organisatorische Schärfe des Kampfes um die marxistische Linie zu mildern, beantwortete der Apparat mit der Erschießung Bljumkins. Wir müssen dies der Partei und der Arbeiterklasse offen sagen, Wir müssen den Sinn unseres Anerbietens erklären, müssen die Schuldigen seines Misserfolges bei Namen nennen, und nicht nur unseren unerschütterlichen Willen, für unsere Ansichten weiter zu kämpfen, kundtun, sondern in der Tat den Zusammenschluss der bolschewistisch-leninistischen Fraktion mit verdoppelten, verzehnfachten Kräften durchführen. Nur darin kann heute die Treue zur Oktoberrevolution bestehen.

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Ein französisches Sprichwort sagt, dass man in manchen Fällen zurückgehen müsse, um einen Anlauf für einen besseren Sprung zu machen. In dieser Lage befindet sich heute die Leitung des Sowjetstaats und die Leitung der Komintern. Die eine wie die andere hat ihr eigenes Abenteurertum in eine Sackgasse hineingetrieben. Den Schutz ihres „Prestiges" über die Interessen der Weltrevolution stellend, zieht die zentristische Bürokratie die Schlinge um den Hals der Partei immer fester und fester zu. Die nächsten taktischen Aufgaben sind: Die Positionen des Abenteurertums sind zu räumen. Der Rückzug ist auf jeden Fall unvermeidlich. Man muss ihn so schnell und so geordnet wie nur möglich vollziehen. Die „durchgehende" Kollektivierung ist einzustellen und durch eine vorsichtige Auswahl auf der Grundlage der wirklichen Freiwilligkeit zu ersetzen.

Das Kollektiv-Wirtschaftssystem ist in Übereinstimmung zu bringen mit den realen Hilfsquellen.

Die Politik der administrativen „Entkulakisierung" ist einzustellen.

Die ausbeuterischen Tendenzen des Kulaken sind für eine lange Reihe von Jahren in Schranken zu halten.

Das leitende Prinzip hinsichtlich der Kulakenwirtschaften muss die eiserne Kontrahierung* sein.

Das Wettrennen der Industrialisierung ist einzustellen.

Die Frage des Tempos ist im Lichte er Erfahrung unter dem Gesichtswinkel einer notwendigen Steigerung des Lebensniveaus der Arbeitermassen zu prüfen.

Der Qualität der Produktion ist die höchste Aufmerksamkeit zu widmen, was für den Konsumenten wie für, den Produzenten in gleicher Weise lebenswichtig ist.

Mit Hilfe einer strengen Finanzdisziplin ist der Inflation Halt zu gebieten durch entsprechende Einschränkung untragbarer Pläne.

Auf das „Ideal" einer isolierten Wirtschaft ist zu verzichten. Ein neuer Wirtschaftsplan ist auszuarbeiten, der auf eine möglichst breite Wechselwirkung mit dem Weltmarkte beruht.

Gestützt auf die in einer' Reihe von Ländern wachsenden Arbeitslosigkeit ist eine ernste internationale Kampagne auf der Grundlage bestimmter Wirtschaftsvorschläge zu entwickeln, zu Gunsten der ökonomischen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion.

Die Arbeitermassen, insbesondere die Arbeitslosen, sind unter dieser Parole zu einem Kampf gegen die sozialdemokratische Regierung in Deutschland und gegen die Labourregierung in England zu organisieren.

Die Komintern ist nicht länger als ein Hilfsapparat für den Kampf gegen die Gefahr einer Intervention zu betrachten. Es geht nicht um episodische Demonstrationen gegen den Krieg, sondern um den Kampf gegen den Imperialismus – um die internationale Revolution.

In den kapitalistischen Ländern ist auf der Basis realer wirtschaftlicher und politischer Prozesse im Lande ein wirklicher Kampf um die Gewinnung der Massen zu entfalten. Es ist Schluss zu machen, mit der Verfälschung der Tatsache, die darin besteht, dass man ökonomische Konflikte und kleinere Demonstrationen (in Worten) in fiktive revolutionäre Kämpfe umdeutet.

Es darf nicht mehr gewagt werden, die Statistik zum Ruhme vorgefasster Schemen zu verfälschen. Mit Schimpf und Schande auszurotten sind Prahlerei, Belügen und Betrügen der Massen!

Die Scholastik der 3. Periode ist zu verwerfen. Zu verwerfen die Abenteuerpolitik der „roten Tage". Die Theorie des „Sozialfaschismus", die der Sozialdemokratie die besten Dienste leistet, ist zu verurteilen.

Es ist zurückzukehren zu der Leninschen Politik der Einheitsfront.

Der schwindende Einfluss auf die Jugend ist das bedrohlichste Zeichen der zunehmenden Lostrennung der KI von den Massen. Noch nie hat harter, trockener, eigennütziger und heuchlerischer Bürokratismus den Weg zu den Herzen der jungen Generation gefunden.

Es ist eine taktvolle und feinfühlige Leitung seitens der Partei erforderlich, aber kein bürokratisches Kommando.

Man muss der proletarischen Jugend die Möglichkeit geben, Initiative zu beweisen, selbst zu denken, zu urteilen, Fehler zu begehen und sie gut zu machen, andernfalls entsteht in der Nachfolgeschaft der revolutionären Generationen ein gefährlicher Bruch.

Man muss den Kurs der KI im Osten von Grund aus ändern. Die Organisierung der bäuerlichen Partisanenbewegung in China bei gleichzeitigem Niedergang der Arbeiterbewegung in den Industriezentren, bedeutet Katastrophenzüchterei, d. h. den sichersten Weg zum Untergang der KP Chinas.

Das Spiel mit dem Feuer des Abenteurertums ist einzustellen.

Die chinesische KP ist mit den Parolen revolutionärer Demokratie zu bewaffnen zwecks Mobilisierung der breitesten Massen in Stadt und Land.

Die Schwäche des indischen Proletariats wird (unter den Bedingungen der sich immer tiefer entwickelnden revolutionären Krise in dem großen Kolonialland) durch die lange Herrschaft der reaktionären Theorie und Praxis der „Arbeiter- und Bauernpartei" (Stalin) bestimmt.

Ein ängstlicher und halber Verzicht auf diese Theorie genügt nicht, man muss sie erbarmungslos verurteilen, als die schlimmste Art politischen Verrats, der die Kräfte des Proletariats in Japan, Indien, Indonesien und den anderen Ländern des Ostens für lange Zeit untergraben hat.

Mit gleicher Kraft ist die Parole „der demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern" abzulehnen als die reaktionäre Verschleierung einer Politik im Geiste der Kuomintang, d. h. der bürgerlichen Hegemonie und Diktatur in der nationalen Revolution.

Das vom VI. Kongress der KI. angenommene Programm ist durch und durch eklektisch. Es gibt ein falsches Bild von der Weltsituation. Es ist auf die Verquickung von Internationalismus und nationalem Sozialismus aufgebaut. Es ist die menschewistische Charakteristik der kolonialen Revolutionen und der Rolle der liberalen Bourgeoisie in diesen Revolutionen. Es ist ohnmächtig und fruchtlos in Bezug auf die Übergangsforderungen Es unterstützt die falsche Parole der demokratischen Diktatur". Es ist die Verbindung der Bucharinschen Scholastik mit dem Stalinschen Empirismus und die theoretische Heiligsprechung aller Schwankungen des Zentrismus.

Man muss ein Programm schaffen, das der Theorie von Marx und der revolutionären Schule von Lenin würdig ist.

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Ohne Kampf und Krisen kann man aus den heutigen Widersprüchen nicht herauskommen. Eine günstige Veränderung des Kräfteverhältnisses im Weltmaßstabe, d. h. ernste Erfolge der internationalen Revolution, wären selbstverständlich imstande, einen wichtigen, ja vielleicht entscheidenden Faktor in die inneren Sowjet-Angelegenheiten hinein zu tragen. Man darf aber die Politik nicht auf die Erwartung eines rettenden Wunders „in kürzester Frist“. einrichten.

Allerdings wird es in der nächsten Periode an Krisen und revolutionären Situationen in der Welt und besonders in Europa und Asien keinen Mangel geben. Das aber entscheidet die Frage noch nicht. Wenn uns die Niederlagen der Nachkriegsjahre etwas gelehrt haben, so das: ohne feste, auf sich selbst vertrauende und das Vertrauen der Massen besitzende Partei ist der Sieg undenkbar. Aber gerade in diesem entscheidenden Punkte ist das Resultat der nachleninschen Periode ein großes Minus.

Es ist deshalb notwendig, im Voraus damit zu rechnen, dass die innere und die internationale Situation eine Periode anhaltender und akuter Schwierigkeiten ankündet, die einen politischen Ausdruck finden werden, Unterdrückte Forderungen, nach innen gekehrte Zweifel, eine dumpfe Unzufriedenheit der Massen werden sich einen Weg nach außen bahnen. Die Frage ist nur, ob sie elementar durchbrechen und eine charakterlose, unvorbereitete Partei vorfinden werden oder ob die Partei die innere Kraft aufbringt, um wieder die Partei zu sein, und auf eine neue Art (im gewissen Sinne auf die alte Art) ihre Rolle in Bezug auf die werktätigen Massen zu übernehmen. In dieser Alternative liegt der Schlüssel zu der gesamten Zukunft.

Den notwendigen Rückzug und dann die strategische Umgestaltung des Rüstzeugs zu vollenden, ohne allzu großen Schaden zu erleiden, vor allem ohne dabei die Gesamtperspektive zu verlieren, das vermag nur eine Partei, die sich ihrer Ziele und ihrer Macht klar bewusst ist. Dazu ist die kollektive Kritik an den gesamten Erfahrungen der Partei in der nachleninschen Periode notwendig. Die verlogene und heuchlerische „Selbstkritik" muss durch eine ehrliche Parteidemokratie ersetzt werden. Die Generalüberprüfung der Generallinie, nicht der Durchführung, sondern der Leitung – damit muss begonnen werden.

Ausschließlich die linke Opposition ist unter den heutigen Bedingungen fähig, all das furchtlos aufzudecken und zu erklären, was jetzt als Folge der gesamten vorangegangenen Entwicklung im Lande und in der Partei geschieht. Ohne Verständnis dafür kann von irgendeiner Generallinie überhaupt keine Rede sein. Mehr denn je braucht jetzt die Partei die linke kommunistische Opposition. Man muss die Verbrechen des Stalinschen Apparates korrigieren und der linken Opposition den ihr von Rechts wegen gehörenden Platz in der Partei zurückgeben.

Dies wollen wir dem XVI. Parteitag erneut sagen. Die Aufgabe der Opposition kann zurzeit folgendermaßen formuliert werden: Verzehnfachung der Kräfte, um, über alle Hindernisse hinweg der Partei zu helfen, über die ihr bevorstehende tiefe Krise hinwegzukommen, bevor die Krise der Revolution sich in ihrem ganzen Umfange entwickeln wird.

Wie die kleinen unversöhnlichen Gruppen und sogar die alleinstehenden Revolutionäre, die „Abgespaltenen" aus den Jahren des imperialistischen Schlachtens, die Verkörperung des proletarischen Internationalismus darstellten, so ist auch die kleine und verfolgte linke Opposition heute die Trägerin des revolutionären Parteigeistes. Weder die Verfolgungen der Herrschenden, noch der Verrat der Müden und Leergelaufenen, werden uns schwankend machen oder vom richtigen Weg ablenken. Gegen Bürokratismus! Gegen Opportunismus! Gegen Abenteurertum! Für die Oktoberrevolution!

Für die Auferstehung der WKP und KI auf den Grundlagen des Leninismus!

Für die internationale proletarische Revolution!

23. März 1930.

L. Trotzki.

* Das bedeutet einen Vertrag mit den Staatsorganen, der den Kulaken verpflichtet, bestimmte Produkte zu bestimmten Preisen zu liefern.

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