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Leo Trotzki 19300402 Die Losung der Nationalversammlung in China

Leo Trotzki: Die Losung der Nationalversammlung in China

Antwort an die chinesischen Genossen

[Nach Leo Trotzki: China, Band 2, Berlin 1975, S. 242-247]

Mir scheint, unsere chinesischen Freunde bringen in die Frage über die politischen Losungen der Demokratie zu viel Metaphysik und auch ein wenig Scholastik hinein.

Die „Details" fangen mit der Bezeichnung an: Konstituierende Versammlung oder Nationalversammlung. In Russland gebrauchten wir vor der Revolution die Losung der Konstituierenden Versammlung, da so der Bruch mit der Vergangenheit schärfer zum Ausdruck kommt. Aber Sie schreiben, dass sich diese Losung schlecht ins chinesische übersetzen lässt. Wenn das so ist, muss man die Losung der Nationalversammlung nehmen. Diese Losung wird im Bewusstsein der Massen einerseits den Inhalt haben, den die revolutionäre Agitation ihr verleiht, und andererseits den, den ihr die Ereignisse geben.

Kann man für die Konstituierende Versammlung agitieren, wenn man sie für unrealisierbar hält? fragen Sie. Aber weshalb soll man in Voraus beschließen, dass sie undurchführbar ist? – antworte ich darauf. Natürlich folgen die Massen nur dann einer Losung, wenn sie diese für durchführbar halten. Wer wird sie durchführen und wie? Darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Wenn sich das Kriegsregime der Kuomintang weiter abschwächt und die Unzufriedenheit der Massen wächst – das vor allem in den Städten – kann es sein, dass ein Teil der Kuomintang zusammen mit einer „dritten Partei" versucht, irgendeine Art Nationalversammlung zu schaffen. Dabei werden sie natürlich versuchen, die Rechte der am meisten unterdrückten Klassen und Schichten so weit wie möglich zu beschneiden. Werden wir Kommunisten in eine derartig beschnittene und betrügerische Nationalversammlung eintreten? Wenn wir nicht stark genug sind, sie zu ersetzen, d. h. selbst die Macht zu ergreifen, dann werden wir natürlich eintreten. Eine derartige Etappe auf unserem Wege würde uns auf keinen Fall schwächen, sondern im Gegenteil sie könnte uns helfen, die Kräfte der proletarischen Avantgarde zu sammeln und zu erziehen. Auch innerhalb einer verfälschten Nationalversammlung, und vor allem außerhalb würden wir die Agitation für die Einberufung einer demokratischeren Versammlung fortsetzen. Im Falle einer revolutionären Massenbewegung würden wir gleichzeitig Sowjets aufbauen. Es ist durchaus möglich, dass die kleinbürgerlichen Parteien es in diesem Fall für unumgänglich halten würden, eine verhältnismäßig demokratische Nationalversammlung zu schaffen, um sie in ein Bollwerk gegen die Sowjets zu verwandeln. Würden wir an den Wahlen für eine derartige Institution teilnehmen? Natürlich würden wir das tun, und zwar dann, wenn wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht stark genug wären, sie durch höhere staatliche Formen zu ersetzen, d.h. durch Sowjets. Aber solch eine Möglichkeit bietet sich nur auf dem Höhepunkt des revolutionären Aufschwungs. Wir sind aber augenblicklich nicht einmal bei seinem Anfang angelangt.

Auch die Tatsache, dass Sowjets bestehen – wovon heute in China gar nicht die Rede sein kann – reicht an und für sich keineswegs aus, um auf die Losung der Nationalversammlung zu verzichten. Es kann sich nämlich herausstellen, – und das wird in der ersten Zeit wahrscheinlich der Fall sein – dass sich die Mehrzahl der Sowjets in Händen von versöhnlerischen oder zentristischen Parteien und Organisationen befindet. Wir werden daran interessiert sein, dass diese Parteien sich dem Volk auf der offenen Bühne der Nationalversammlung zeigen. Auf diese Weise wird die Mehrzahl der Sowjets bald auf unsere Seite übergehen. Wenn wir die Mehrheit für uns gewonnen haben, werden wir das Programm der Sowjets dem der Nationalversammlung entgegenstellen; dann werden wir die Mehrheit der Arbeiter und der Unterdrückten im Lande um das Banner der Sowjets scharen und auf diese Weise tatsächlich – und nicht nur auf dem Papier – die Möglichkeit erhalten, die Nationalversammlung, als eine parlamentarisch-demokratische Institution, durch die Sowjets, als Organ der revolutionären Klassendiktatur, zu ersetzen.

In Russland bestand die Konstituierende Versammlung nur einen einzigen Tag. Warum? Weil sie zu spät erschien, als die Macht der Sowjets bereits bestand, mit der die Versammlung in Konflikt geriet. In diesem Konflikt vertrat die Versammlung das Gestern der Revolution. Stellen wir uns aber vor, die zeitweilige bürgerliche Regierung hätte sich bereits im März oder April (1917) entschlossen, eine Nationalversammlung zu gründen. War das möglich? Natürlich war das möglich. Die Kadetten beschäftigten sich mit juristischen Verzögerungsmanövern, und zögerten damit die Einberufung der Konstituierenden Versammlung hinaus, in der Hoffnung, die revolutionäre Welle würde fallen. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre sangen nach dem Liede der Kadetten. Hätten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre etwas mehr revolutionäre Kraft besessen, so hätten sie die Nationalversammlung im Lauf von ein paar Wochen errichten können. Hätten wir Bolschewiki uns dann an den Wahlen für diese Versammlung und an der Versammlung selbst beteiligt? Selbstverständlich, denn wir hatten ja die ganze Zeit eine möglichst schnelle Einberufung der Konstituierenden Versammlung gefordert. Wäre der Gang der Revolution anders, zu Ungunsten des Proletariats, verlaufen, falls die Nationalversammlung früher einberufen würden wäre? Auf keinen Fall. Ihr erinnert Euch vielleicht, dass die russischen herrschenden Klassen, und ihnen nach auch die Versöhnler, alle wichtigen Fragen der Revolution „bis zur Konstituierenden Versammlung" verschoben, wobei sie gleichzeitig deren Einberufung auf jede Weise zu verzögern suchten. Das gab den Großgrundbesitzern und Kapitalisten die Möglichkeit , bis zu einem gewissen Grad ihre eigenen Interessen in der Agrar- und der Industriefrage zu verdecken usw. Wenn die Konstituierende Verfassung, sagen wir, schon im April 1917 einberufen worden wäre, dann hätten wir dort nachdrücklich alle sozialen Fragen aufgeworfen, die herrschenden Klassen wären genötigt worden, ihre Karten aufzudecken, die verräterische Rolle der Versöhnler wäre vollkommen klar geworden, die bolschewistische Fraktion der Konstituierenden Versammlung hätte größte Popularität erlangt und hätte es den Sowjets ermöglichen können, eine bolschewistische Mehrheit in ihren Reihen zu erreichen. Unter diesen Voraussetzungen hätte die Nationalversammlung nicht nur einen Tag, sondern wahrscheinlich einige Monate überlebt, womit sie die politische Erfahrung der werktätigen Massen ausgesprochen bereichert hätte; sie hätte den proletarischen Umsturz nicht nur nicht verzögert, sondern ihn sogar gefördert. Das allein schon hätte eine große Bedeutung gehabt. Wenn die zweite Revolution nicht im Oktober stattgefunden hätte, sondern – nehmen wir an – im Juli oder August, wäre die Armee nicht so zerrieben und geschwächt gewesen, und der Frieden mit den Hohenzollern hätte unter günstigeren Voraussetzungen abgeschlossen werden können. Aber auch wenn man annimmt,dass die proletarische Revolution dank der Konstituierenden Versammlung nicht um einen Tag näher gerückt wäre, so wäre die Schule des revolutionären Parlamentarismus für das politische Niveau der Massen nicht spurlos vorübergegangen, und das hätte unsere Aufgaben für die Zeit nach dem Oktoberumsturz erleichtert.

Ist eine derartige Variante in China möglich? Sie kann nicht ausgeschlossen werden. Wenn man glaubt und erwartet, dass die Kommunistische Partei Chinas von der heutigen Situation der Herrschaft einer zügellosen Soldateska der Bourgeoisie; der Unterdrückung und Zersplitterung der Arbeiterklasse und beim völligen Fehlen einer Bauernbewegung) auf einmal den Sprung zur Machtergreifung ausführen kann – dann glaubt man an Wunder. In der Praxis führt das zu Guerrillaabenteuern, die die Komintern heute halb fördert. Wir müssen eine solche Politik verurteilen und die revolutionären Arbeiter ganz entschieden vor ihr warnen.

Die politische Mobilisierung des Proletariats, und nach ihm die der bäuerlichen Massen, ist die erste Aufgabe, die gelöst werden muss, und zwar ausgehend von der augenblicklichen Situation. Und das ist der Zustand der kriegerischen Konterrevolution der Bourgeoisie. Die Kraft der unterdrückten Massen liegt in ihrer Menge. Diese Menge versuchen sie bei ihrem politischen Erwachen in der Politik durch das Mittel des allgemeinen Wahlrechts auszudrücken. Eine kleine Handvoll Kommunisten weiß schon heute, dass das allgemeine Wahlrecht an sich eine der Formen der bürgerlichen Herrschaft darstellt, und dass diese Herrschaft nur durch die Diktatur des Proletariats liquidiert werden kann. In diesem Geiste können wir die proletarische Avantgarde im Voraus erziehen. Aber die Millionen Werktätigen können nur auf Grund ihrer eigenen politischen Erfahrung zur Diktatur des Proletariats gelangen. Die Nationalversammlung wird für sie auf diesem Weg ein Fortschritt sein. Und aus diesem Grund treten wir für diese Losung zugleich mit vier anderen Losungen der demokratischen Revolution ein: Verteilung des Landes an die Dorfarmut; Achtstundentang; die nationale Unabhängigkeit Chinas; das Recht auf nationale Selbstbestimmung der in China lebenden Völker.

Natürlich kann man auch folgende Perspektive nicht ausschließen – theoretisch ist sie denkbar – dass das chinesische Proletariat – die Bauernmassen nach sich ziehend und sich auf Sowjets stützend – vor dem Bestehen einer Nationalversammlung auf die eine oder andere Weise an die Macht kommt. Aber das ist für die nahe Zukunft jedenfalls sehr unwahrscheinlich, denn es erfordert zuerst einmal das Bestehen einer äußerst mächtigen und zentralisierten revolutionären Partei des Proletariats. Fehlt sie, welche andere Kraft könnte dann die revolutionären Massen Eures riesigen Landes vereinigen? Das ganze Unglück besteht ja eben darin, dass es in China keine starke zentralisierte Kommunistische Partei gibt. Sie muss sich erst noch herausbilden. Daher ist der Kampf für die Demokratie auch eine notwendige Voraussetzung hierfür. Die Nationalversammlung vereinigt die vereinzelten Provinzbewegungen und -aufstände, sie verleiht ihnen politische Einheit und schafft die Grundlage für eine geschlossene Kommunistische Partei, als nationalem Führer des Proletariats und aller werktätigen Massen.

Aus diesem Grund muss man die Losung der Nationalversammlung (auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts) mit aller Kraft ausgeben und einen entschiedenen und kühnen Kampf für sie führen. Ein paar Monate früher oder später wird sich die vollständige Nutzlosigkeit der jetzigen rein negativen Haltung der Komintern und der offiziellen Führung der chinesischen Kommunistischen Partei in ihrer ganzen Krassheit zeigen. Das wird umso schneller geschehen, je entschlossener die linke kommunistische Opposition ihre Kampagne für die Losungen der Demokratie entwickelt. In diesem Fall wird das unvermeidliche Scheitern der Politik der Komintern die linke Opposition ausgesprochen stärken und ihr dabei helfen, zur entscheidenden Kraft im chinesischen Proletariat zu werden.

2. April 1930

L. Trotzki

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