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Leo Trotzki 19301200 Erfolge des Sozialismus und Gefahren des Abenteurertums

Leo Trotzki: Erfolge des Sozialismus und Gefahren des Abenteurertums

[Nach Die Aktion, 21. Jahrgang, Heft 1/2 (April 1931) Spalte 1-16]

Über die welthistorische Bedeutung der wirtschaftlichen Versuche und Erfolge in der UdSSR uns auf diesen Seiten zu wiederholen, ist nicht notwendig. Nichts enthüllt heute die erschreckende Verkommenheit der internationalen Sozialdemokratie mehr als ihre offen zugegebenen Bemühungen, die UdSSR auf den Weg des Kapitalismus zurückzuführen und ihre aktive politische Solidarität mit den imperialistischen Verschwörern und bürgerlichen Schädlingen. Nichts charakterisiert so die Niedertracht und Gemeinheit der regierenden Klassen der bürgerlichen Gesellschaft, die Sozialdemokratie inbegriffen, wie ihre gemeinsamen „Proteste" gegen die Zwangsarbeit in der UdSSR, während in der gleichen Zeit der Kommis der erblichen Sklavenhalter, MacDonald, unter Beihilfe der Zweiten Internationale das Dreihundertmillionenvolk Indiens würgt und dessen Befreiung aus der Kolonialsklaverei verhindert. Kann man auch nur einen Moment das Mäusespiel der „koalierten" oder der „oppositionellen" Sozialdemokratie mit jener gigantischen Arbeit vergleichen, die ein Volk vollbringt, das durch die Oktoberrevolution zu neuem Leben erweckt wurde?

Aber gerade deshalb sind wir, Marxisten, verpflichtet, die Arbeiterklasse der Welt mit besonderer Kraft und Beharrlichkeit vor jenen Gefahren zu warnen, die sich über der Diktatur des Proletariats zusammenballen infolge der falschen Politik, die eine kopflos gewordene Führerschaft verfolgt.

1. „Einholen und überholen"

Offizielle Führer, Presse, Wirtschaftler, alle gestehen ein, dass die Arbeit zur Durchführung des Fünfjahresplanes als Vierjahresplan mit ganz besonderer Anspannung geschieht. Die administrativen Methoden des „Wetteifers" beweisen, dass das Tempo in den meisten Fällen auf Kosten der menschlichen Muskeln und Nerven erreicht wird. Wir zweifeln keinen Augenblick daran, dass eine bestimmte Arbeiterschicht, besonders der Kommunisten, unverfälschten Enthusiasmus in die Arbeit hinein trägt, wie auch, dass eine breitere Arbeitermasse in einzelnen Momenten und Perioden, in einzelnen Betrieben von diesem Enthusiasmus mit erfasst wird. Doch müsste man nichts von der menschlichen Psychologie und sogar Physiologie verstehen, um die Möglichkeit zuzugeben, der Arbeits-„Enthusiasmus" der Massen könne sich auf eine Reihe von Jahren erstrecken. In der Tat wird die Arbeit jetzt mit den gleichen Methoden durchgeführt wie seinerzeit der Bürgerkrieg. Unser Können und unsere Ausrüstung waren bekanntlich während des Krieges bei weitem nicht auf der Höhe. Die Lücken wurden von der Masse durch ihre zahlenmäßige Stärke, durch ihren Elan, ihren Enthusiasmus ausgefüllt. Auch im Kriege war dieser Enthusiasmus nicht allgemein, besonders nicht in der Bauernschaft. Drückeberger und Deserteure spielten damals die gleiche Rolle wie heute die Schwänzenden und „Falter". Aber in gewissen Perioden, unter unmittelbarem Druck der Weißen, wurden nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Bauern von echt revolutionärem Elan erfasst. Damit haben wir gesiegt.

Der Bürgerkrieg dauerte drei Jahre. Am Ende erreichte die Spannung die letzte Grenze. Auf einen zweiten polnischen Feldzug verzichteten wir ungeachtet der schweren Bedingungen des Rigaer Friedens. In den Bauern- und Arbeitermassen begann eine tiefe Reaktion gegen die Anspannung und die Entbehrungen der drei Jahre Bürgerkrieg. In der Bauernschaft kam es zu Aufständen, die auch auf einen Teil der Flotte und der Armee übergriffen. In der Arbeiterschaft begannen Streiks und Aufsässigkeiten, sogenannte Wolynki. In der Partei gewann die „Arbeiteropposition" große Ausbreitung. Ihre Kraft lag natürlich nicht in den halb syndikalistischen Naivitäten ihrer Führer – der Streit ging damals überhaupt nicht um Gewerkschaften, wie die dummen offiziellen Lehrbücher lehren –, sondern im Protest der Massen gegen weitere Anspannung, in der Forderung – Zeit zu geben sich umzusehen, zu recken, auszuruhen.

In der berühmten Diskussion von 1920/1921 war das wichtigste und auf die Massen wirksamste Argument gegen die damaligen „Trotzkisten" die Formel: „Sie wollen die Arbeit des wirtschaftlichen Aufbaus mit den gleichen Methoden führen, mit denen man den Krieg geführt hat"*.

In der Atmosphäre der Reaktion gegen die Periode des Bürgerkriegs und des Kriegskommunismus entstand eben die Wirtschaftsphilosophie der Mehrheit der heutigen Stalinschen Fraktion: „Je langsamer du fährst, je weiter kommst du." Anbetung der individuellen Bauernwirtschaft, Verhöhnung der Planmethoden, Verteidigung des Minimaltempos, Spucken auf die Weltrevolution – alles das war der Kern des Stalinismus in den Jahren 1923 bis 1928. Aber der Halt und die Hoffnung, der starke Mittelbauer, verwandelte sich kraft der Dinge in einen Kulaken und packte die Diktatur des Proletariats, deren Industriebasis sich als entsetzlich rückständig erwies, bei der Gurgel. Die Periode des selbstzufriedenen Oblomowismus machte einer Periode panikartiger Betriebsamkeit Platz. Es wurde die Parole aufgestellt: „Einholen und überholen in kürzester Frist!" Stalin-Krschischanowskis minimalistischer Fünfjahresplan, prinzipiell vom 15. Parteitag gutgeheißen, wurde von einem neuen Fünfjahresplan abgelöst, dessen Grundelemente restlos der Plattform der Opposition entlehnt waren. Dies bestimmte den Charakter der Deklaration des Genossen Rakowski und anderer zum 16. Parteitag. Ihr habt einen Plan vorgelegt, der zum ernstesten Schritt auf dem einzig richtigen Wege werden kann, und wir sind bereit, euch loyalste Unterstützung zu erweisen, ohne dabei irgendetwas zurückzunehmen und ohne auf unser Recht zu verzichten, in allen strittigen Fragen unsere Ansichten zu verteidigen.

Als die Opposition zuerst die Notwendigkeit der Ausarbeitung eines Fünfjahresplanes an sich und später die bestimmten Tempos verteidigte (die Wirklichkeit hat zur Genüge bewiesen, dass die von uns vorgeschlagenen Tempos durchaus nicht phantastisch waren, wie damals ausnahmslos alle Mitglieder des heutigen Politbüros schrien) – kurz, als die Opposition um eine beschleunigte Industrialisierung und Kollektivierung kämpfte gegen den Kurs von 1923 bis 1928, betrachtete sie den Fünfjahresplan nicht als Dogma, sondern als eine Arbeitshypothese. Die kollektive Nachprüfung des Planes musste im Arbeitsprozess erfolgen, wobei Elemente dieser Nachprüfung nicht nur die Zahlen der sozialistischen Buchhaltung, sondern auch die Muskeln und Nerven der Arbeiter und das politische Befinden der Bauern wären. Dies alles müsste die Partei abtasten, nachprüfen, summieren, verallgemeinern.

In Wirklichkeit vollzog sich die Wendung der Wirtschaft in die Richtung der Industrialisierung und Kollektivierung unter der Peitsche administrativer Panik. Sie herrscht auch heute. Es genügt, die ersten Seiten aller heutigen Sowjetzeitungen anzusehen – durchweg eine Nachahmung der Parolen, Formeln und Aufrufe des Bürgerkriegs: Front, Mobilisierung, Durchbrüche, Kavallerie usw., manchmal unter Beigabe von Sportsnobismus: Start, Finish usw. Wie muss das ernste Arbeiter aufreizen, und wie muss das alle anwidern! Während wir unter den entsetzlichen Bedingungen des Bürgerkrieges, nach Schwankungen, als eine provisorische Maßnahme den Orden der Roten Fahnen einführten (Lenin war anfangs überhaupt dagegen, willigte erst später, aber eben als in eine vorübergehende Maßnahme ein), sind jetzt, im 13. Jahre der Revolution, vier oder wer weiß wie viel Orden eingeführt. Aber bedeutend wichtiger ist die Einführung der ununterbrochenen Arbeitswoche, die Bindung der Arbeiter an die Betriebe, die außerordentliche Steigerung der Arbeitsintensität. Wenn die Durchführung dieser außerordentlichen Maßnahmen sich als möglich erwies, so nur deshalb, weil sie im Bewusstsein der Vorhut einen provisorischen Charakter haben, untrennbar verbunden mit der Idee des Fünfjahresplanes. Wie im Bürgerkriege die Arbeiter und Bauern ihre letzten Kräfte hergaben, um den Feind zu zermalmen und sich das Recht auf Arbeit und Erholung zu sichern, so hoffen auch jetzt die fortgeschrittenen Elemente der Arbeiterklasse aufrichtig darauf, im Laufe der nächsten zwei Jahre die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder „einzuholen und zu überholen" und sich damit vor ökonomischen und militärischen Gefahren zu schützen. Theoretisch, politisch und psychologisch verwandelte sich die Aufgabe des Fünfjahresplans für die Massen in die Aufgabe der Errichtung einer gepanzerten Mauer um den Sozialismus in einem Lande. Darin finden die Arbeiter die einzige Rechtfertigung für die schreckliche Anspannung, in der sie der Parteiapparat hält. Zum 12. Jahrestage schrieb Stalin in Bezug auf die Perspektiven des Fünfjahresplanes: „Wir wollen noch sehen, welche Länder dann zu den rückständigen und welche zu den fortgeschrittenen zu rechnen sein werden." Solche und noch kategorischere Erklärungen wurden unzählig oft nachgedruckt und wiederholt. Sie bilden das Grundmotiv der gesamten politischen Arbeit im Zusammenhang mit dem Fünfjahresplan. In der ganzen Fragestellung ist ein Element teils bewussten, teils unbewussten Betruges der Massen durch die Bürokratie enthalten, als würde die Durchführung des Fünfjahresplanes die UdSSR der kapitalistischen Welt voranstellen. Meint doch Varga (der Kautsky des Apparats), die Theorie des Sozialismus in einem Lande sei zwar unsinnig, aber zur Anfeuerung der Arbeiter notwendig: ein Pfaffenbetrug als Erlösung.

Für sein Referat zum 16. Parteitag hatte sich Stalin neben anderen Zahlen auch den statistischen Beweis dafür bestellt, dass am Ende des Fünfjahresplanes die UdSSR die kapitalistische Welt „einholen und überholen" werde. Spuren dieser Bestellung finden sich in Stalins Rede. Als er an den zentralen Punkt über das Kräfteverhältnis der Sowjet- zur Weltwirtschaft kam, beschränkte sich der Referent plötzlich auf den folgenden Satz: „In Hinsicht des Niveaus und der Entwicklung unserer Industrie sind wir hinter den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern verteufelt zurückgeblieben." Und fügte sogleich hinzu: „Nur die weitere Beschleunigung des Tempos der Entwicklung unserer Industrie wird uns die Möglichkeit geben, in technisch-ökonomischer Beziehung die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder einzuholen und zu überholen." Ob hier die Rede vom Fünfjahresplan oder von einer langen Reihe von Fünfjahresplänen ist – bleibt unbekannt.

In seiner theoretischen Primitivität ist Stalin einfach vor der für ihn unerwarteten Auskunft erschrocken, und anstatt der Partei exakte Angaben über unsere Rückständigkeit und den wahren Umfang der Aufgabe: „einholen und überholen" zu zeigen, beschränkt er sich auf die kleine eingeschmuggelte Phrase von der „verteufelten Rückständigkeit" (um gegebenenfalls sich auf sie zu seiner eigenen Rechtfertigung berufen zu können: darauf läuft ja seine ganze Kunst hinaus). Die Massenagitation jedoch wird im alten Geiste weitergeführt. Die Sache geht nicht nur um die Sowjetunion allein. Die offiziellen Organe aller Parteien der Komintern werden nicht müde zu wiederholen, dass die Union zu Ende des Fünfjahresplanes einen Platz in der vordersten Reihe der Industrieländer einnehmen werde. Wäre das richtig, die Aufgabe des Sozialismus wäre damit im Weltmaßstabe gelöst. Würde die Sowjetunion mit ihrer Bevölkerung von 160 Millionen, mit ihren unermesslichen Flächen und Reichtümern die fortgeschrittenen Länder einholen, sie nähme schon während des nächsten Fünfjahresplanes – d. h. in drei bis vier Jahren – der kapitalistischen Welt gegenüber eine unermesslich vorherrschendere Stellung ein als heute die Vereinigten Staaten. Das Proletariat der ganzen Welt würde sich durch Erfahrung überzeugen können, dass der Sozialismus während einiger Jahre in einem der rückständigsten Länder ein unvergleichlich höheres Lebensniveau des Volkes geschaffen hat als in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern. Die Bourgeoisie könnte nicht einen Tag mehr dem Ansturm der werktätigen Massen widerstehen. Dieser Weg der Liquidierung des Kapitalismus wäre der einfachste, der ökonomischste, der „humanste" und sicherste …, wenn er richtig wäre. In Wirklichkeit ist er nur ein Phantasieprodukt.

2. Einige vergleichende Koeffizienten

Die Durchführung des Fünfjahresplanes begann im Jahre 1928/29 von einem Niveau aus, das dem des Russland vor dem Kriege sehr nahe war, d. h. von einem Niveau der Rückständigkeit, Armut, Barbarei. Im Laufe der Jahre 1924 bis 1930 wurden größte Erfolge erreicht. Nichtdestoweniger steht die Sowjetunion in Bezug auf ihre Produktivkräfte auch heute noch, im dritten Jahre des Fünfjahresplanes, dem zaristischen Russland unvergleichlich näher als den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Hier einige Tatsachen und Zahlen. Vier Fünftel der gesamten selbständig berufstätigen Bevölkerung sind bei uns in der Landwirtschaft beschäftigt. In den Vereinigten Staaten entfallen auf 1 in der Landwirtschaft Beschäftigten 2,7 in der Industrie Beschäftigte.

Die industrielle Arbeit ist bei uns um das Fünffache produktiver als die landwirtschaftliche. In Amerika ist die landwirtschaftliche Arbeit doppelt so produktiv wie bei uns, die industrielle 3½ mal produktiver. Infolgedessen ist die reine Produktion pro Kopf der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten etwa zehnmal höher als bei uns.

In den Vereinigten Staaten beträgt die Kraft der primären mechanischen Anlagen in der Industrie 35,8 Millionen Pferdekräfte. In der UdSSR – 4,6 Millionen, d. h. fast um das Achtfache weniger. Rechnet man für eine Pferdekraft zehn Menschenkräfte, dann kann man sagen, dass in den Vereinigten Staaten für jeden Einwohner in der Industrie drei Stahlsklaven arbeiten, während in der UdSSR auf drei Einwohner ein Stahlsklave in der Industrie arbeitet. Rechnet man die mechanischen Motoren nicht nur in der Industrie, sondern auch im Transport und in der Landwirtschaft, so ergibt sich ein für uns noch unvergleichlich ungünstigeres Verhältnis. Die mechanischen Motoren ermessen indes die Macht des Menschen über die Natur am genauesten. Am Ende des Fünfjahresplanes wird die Sowjetunion, im Falle der Verwirklichung des gesteckten Programms der Elektrifizierung, über ein Viertel der amerikanischen Elektrokraft verfügen, über ein Sechstel, korrigiert man es durch die Bevölkerungszahl, über einen noch geringeren Bruchteil korrigiert man es durch das Territorium; wobei dieser Koeffizient von der Annahme ausgeht, der Sowjetplan werde restlos durchgeführt, während die Vereinigten Staaten inzwischen nicht um einen Schritt vorwärtskommen.

Im Jahre 1928 erzeugten die Vereinigten Staaten 38 Millionen Tonnen Gusseisen, Deutschland 12 Millionen, die Sowjetunion 3 Millionen Tonnen. Stahl: die Vereinigten Staaten 52 Millionen, Deutschland 14 Millionen, die Sowjetunion 4 Millionen Tonnen. Im ersten Jahr des Fünfjahresplanes glichen wir der Menge des gelieferten Metalls nach den Vereinigten Staaten von 1880: vor genau einem halben Jahrhundert betrug die Produktion der Eisenschmelzerei in den Vereinigten Staaten 4,3 Millionen Tonnen Metall, bei einer Bevölkerung, die etwa ein Drittel der heutigen Bevölkerung der UdSSR ausmachte. Im Jahre 1929 produzierte die UdSSR ca. 5 Millionen Tonnen schwarzen Metalls. Das heißt; die Versorgung jeden Bürgers der Sowjetrepublik mit Metall ist heute etwa um dreimal geringer, als sie vor einem halben Jahrhundert ein Bürger der Vereinigten Staaten genoss

Die heutige Produktion an Schwereisen – in den Vereinigten Staaten ist um 28% höher als die gesamte Produktion der Landwirtschaft; bei uns ist sie fast um das achtzehnfache geringer als die der Landwirtschaft. Am Ende des Fünfjahresplanes muss dieses Verhältnis 1:8 betragen. Die Bedeutung der Schwerindustrie für die Industrialisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft bedarf keiner Erläuterungen. Am Ende des Fünfjahresplanes wird in der UdSSR auf den Kopf der Bevölkerung achtmal weniger Kohle kommen als in den Vereinigten Staaten. Die Sowjetproduktion an Naphta beträgt 7% der Weltproduktion; die Vereinigten Staaten produzieren über 68%, d. h. zehnmal mehr.

Ein günstigeres Verhältnis lässt sich auf dem Gebiet der Baumwollindustrie feststellen, aber auch hier ist der Rückstand ungeheuerlich: den Vereinigten Staaten gehören 22,3% der gesamten in der Welt vorhandenen Webstühle, England 34,8%, der Sowjetunion – 4,2%. Der Rückstand wird noch verblüffender, vergleicht man die Zahl der Webstühle mit der der Bevölkerung. Das Eisenbahnnetz der Sowjetunion wird sich während des Fünfjahresplanes um 18.000 bis 20.000 Kilometer erweitern und auf diese Weise 80.000 Kilometer gegen etwa 400.000 Kilometer in Amerika erreichen. Auf 100 Quadratkilometer Fläche in den Vereinigten Staaten kommen 51,5 Kilometer Eisenbahnen, in Belgien 370 Kilometer, im europäischen Teil der UdSSR 13,7, im asiatischen 1 Kilometer.

Noch ungünstiger sind die Zahlen der Handelsflotte. Auf England entfallen fast 30% der Welthandelsflotte, auf die Vereinigten Staaten 22,5%, auf die Sowjetunion – 0,5%. Von den im Jahre 1927 in der Welt vorhandenen Automobilen kamen auf die Vereinigten Staaten fast 80%, der Teil der Sowjetunion äußerte sich nicht einmal in Zehnteln eines Prozentes. Am Ende des Fünfjahresplanes sind 158.000 Automobile im Lande vorgesehen. Das heißt ein Wagen auf mehr als Tausend Köpfe der Bevölkerung (zur Zeit entfällt ein Automobil auf 7000 Menschen). Nach Ossinskis Worten werden wir am Ende des Fünfjahresplanes „nur Polen etwas überholen" (vorausgesetzt, dass dieses bei seinem heutigen Stande verbleibt). Die Goldvorräte der wichtigsten Länder: in den Vereinigten Staaten 36,2% des Weltgoldes, in Frankreich 11%, in zehn der wichtigsten kapitalistischen Ländern zusammen 83%. In der gesamten übrigen Welt – einschließlich der UdSSR – weniger als 17%. Auf dem Gebiete des Zeitungs- und Verlagswesens sind im Vergleich mit dem vorrevolutionären Stand ernsteste Erfolge erzielt worden. Doch gerade hier ist der Rückstand besonders groß. Die Verbrauchsnorm an Papier ist bei uns annähernd 3,5 kg pro Kopf, während sie sogar in den allerrückständigsten europäischen Ländern bedeutend höher ist: 6 bis 7 kg in Jugoslawien, Bulgarien, Spanien, Ungarn, Polen usw. In den Vereinigten Staaten wird pro Kopf 80 kg: Papier, d. h. 23 mal mehr als in der UdSSR verbraucht. Überhaupt übersteigt der Papierverbrauch pro Kopf in den vorgeschrittenen kapitalistischen Ländern um einiges Zehnfache nicht nur die heute bei uns herrschende Verbrauchsnorm, sondern auch die am Ende des Fünfjahresplanes vorgesehene Norm. Folglich ist die Aufgabe auch in diesem leichter erreichbareren und gleichzeitig nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und kulturell besonders wichtigen Industriezweig gar nicht so einfach zu lösen, wie es die Schreier und Prahler darstellen.

3. „In den Sozialismus eingetreten"

Eine falsche Theorie bedeutet unvermeidlich Betrug in der Politik. Aus der Lehre des Sozialismus in einem Lande ergibt sich nicht nur eine verzerrte allgemeine Perspektive, sondern auch das verbrecherische Schönfärben der heutigen Sowjetwirklichkeit. Das zweite Jahr des Fünfjahresplanes wird in allen Reden und Artikeln dadurch charakterisiert, dass „die Volkswirtschaft des Landes in die Periode des Sozialismus eingetreten ist". Der Sozialismus wird als in den Fundamenten bereits verwirklicht proklamiert. Man sollte meinen, als sozialistisch, wenn auch nur in den Fundamenten, könnte bloß eine solche Produktion gelten, die betrieben wird zur unmittelbaren Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse. Indessen ergab bei uns trotz dem furchtbaren Warenhunger im Lande die Schwerindustrie im letzten Jahre einen Zuwachs von 28,1%, die leichte dagegen – nur von 13,1%, womit sie das vorgesehene Programm noch nicht erfüllte. Erkennt man sogar die verwirklichten Proportionen als ideal richtig an – wovon nicht die Rede sein kann –, dann ergibt sich trotzdem, dass die Bevölkerung der UdSSR im Interesse einer gewissen „primitiven sozialistischen Anhäufung"1 den Riemen immer enger und enger ziehen muss. Gerade das aber bedeutet ja, dass der Sozialismus auf einem tiefen Produktionsniveau unmöglich ist, und dass nur die vorbereitenden Schritte zu ihm möglich sind. Ist es nicht ungeheuerlich: das Land kommt nicht aus dem Warenhunger heraus, bei jedem Schritt stockt die Versorgung, den Kindern fehlt die Milch – die offiziellen Philister aber proklamieren: „Das Land ist in die Periode des Sozialismus eingetreten." Kann man den Sozialismus bösartiger kompromittieren?

Trotz allen wirtschaftlichen Erfolgen in Industrie und Landwirtschaft bildet die Getreidebeschaffung heute eine nicht so sehr ökonomische Operation wie eine „politische Kampagne", mit anderen Worten, sie wird mittels staatlichen Zwanges durchgeführt. In den Jahren des Epigonentums wurde das Wort „Smytschka" auf alle Art und Weise gekaut, nur nicht in der einzig richtigen: Smytschka bedeutet die Schaffung solcher ökonomischer. Verhältnisse zwischen Stadt und Land, bei denen das Dorf mit wachsendem Gewinn und mit Lust seine Produkte gegen Industrieerzeugnisse austauscht. Mithin ist ein Erfolg der Smytschka identisch mit dem Nachlassen der „politischen" Methoden der Getreidebeschaffung, d. h. des Zwanges. Dies ist nicht anders zu erreichen als durch Schließen der „Schere" der Stadt- und Landpreise. Stalin aber hatte im 13. Jahr nach dem Oktober die Schere als ein „bürgerliches Vorurteil" erklärt. Mit anderen Worten, er gestand, dass sie sich öffnet statt sich zu schließen. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass sogar das Wort „Smytschka" heute aus dem offiziellen Vokabular verschwunden ist.

Ein Beamter der Getreidebeschaffung erklärt den langsamen Fortschritt in der Getreidebeschaffung mit dem ungenügenden Druck der Ortsorgane auf den Kulaken und bringt folgende Erwägung: „Das Rechenmanöver des Kulaken ist gar nicht kompliziert. Hat er drei Tonnen zu liefern, dann beträgt seine Strafe 400 Rubel. Er braucht auf dem Spekulationsmarkte nur eine halbe Tonne zu verkaufen, um mit Überschuss die Strafe herauszubekommen, und er behält 2,5 Tonnen Getreide für sich." Diese verblüffende Kalkulation bedeutet, dass der Getreidepreis auf dem Spekulationsmarkte mindestens sechsmal so hoch ist wie der staatliche, vielleicht aber acht- oder zehnmal so hoch, denn wir wissen nicht, was mit „Überschuss" gemeint ist. So durchbohrte die von Stalin als ein bürgerliches Vorurteil erklärte Schere die „Prawda" und zeigte ihre zwei scharfen Spitzen. Berichte über den Fortgang der Getreidebeschaffung werden in der „Prawda" tagein tagaus unter der Leninschen Überschrift: „Kampf um Brot ist Kampf um Sozialismus" gedruckt. Als aber Lenin diesen Satz sprach, war er weit von dem Gedanken entfernt, das Land sei in die Periode des Sozialismus „eingetreten". Die Tatsache, dass man um Brot, um das nackte Brot, kämpfen, ja kämpfen muss!, bedeutet eben, dass das Land vom sozialistischen Regime noch sehr weit entfernt ist.

Man darf nicht ungestraft die Grundlagen der Theorie mit Füßen treten. Man darf sich nicht auf Gesellschaftsformen der Produktionsverhältnisse – und zwar auf unreife, keimende, in der Landwirtschaft äußerst unbeständige und widerspruchsvolle Formen – beschränken und sich dabei von dem Grundfaktor der menschlichen Entwicklung: von den Produktivkräften, ablenken. Die Gesellschaftsformen erhalten einen wesentlich anderen sozialen Inhalt – oder können ihn bekommen – je nach dem Stand der Technik. Die sowjetistischen Gesellschaftsformen auf amerikanischer Produktionsbasis das ist bereits Sozialismus, mindestens sein erstes Stadium. Die Sowjetformen, basierend auf der russischen Technik, bedeuten nur die ersten Schritte im Kampf um den Sozialismus.

Betrachtet man das heutige Sowjetleben, das Alltagsleben der werktätigen Massen, das Kulturniveau, das heißt auch den Grad des Analphabetismus – und lügt man, schwindelt man dabei nicht und macht sich und anderen keine Flausen vor, gibt sich der Ausschweifung der bürokratischen Demagogie nicht hin –, dann muss man ehrlicherweise zugeben, dass die Verhältnisse des Alltagslebens, Sitten und Gebräuche der überwiegenden Mehrzahl der Bevölkerung des Landes zu 95% Erbe des bürgerlich-zaristischen Russlands sind und kaum 5% Elemente des Sozialismus enthalten. Dies widerspricht aber keinesfalls den Tatsachen der Diktatur des Proletariats, des Sowjetregimes und der größten Erfolge in der Wirtschaft. Das alles sind Gerüste um das zukünftige Gebäude, oder richtiger um einen Winkel des zukünftigen Gebäudes. Den Bauarbeitern, die mit Ziegeln und Zement das Gerüst hinaufklettern – oft halb hungrig und nicht selten abstürzend –, sagen, sie könnten sich bereits im Gebäude niederlassen, sie seien „in den Sozialismus eingetreten!", heißt die Bauleute und den Sozialismus verhöhnen.

4. Vier oder fünf Jahre?

Wir haben den leichtfertigen Übergang vom nicht-nachgeprüften Fünfjahresplan zum Vierjahresplan entschieden bekämpft. Was sagen darüber die Tatsachen? Für das zweite Jahr ist die offizielle Ziffer des Wachstums der Industrieproduktion 24%. Der für das zweite Jahr des Fünfjahresplans vorgesehene Zuwachs (21,5%) ist somit um 2,7% überholt, bleibt aber hinter dem Vierjahrplan um fast 6% zurück. Zieht man in Betracht, dass in Bezug auf Qualität und Selbstkosten ein bedeutender Rückstand existiert, und dass der buchmäßige Koeffizient 24,2% unter der Peitsche entstanden ist, dann wird es ganz klar, dass das zweite Jahr faktisch bestenfalls im Tempo des Fünfjahresplanes, keinesfalls aber im Tempo der vier Jahre verlaufen ist. Auf dem Gebiet des Kapitalaufbaues erwies sich die Aufgabe des Jahres 1929/30 beinahe zu 20% als nicht gelöst, wobei der größte Rückstand beim Bau neuer metallerzeugender Giganten, Koksofenanlagen, grundlegender Chemie- und. Elektroanlagen zu verzeichnen ist, d. h. auf dem Gebiete, das die Basis der gesamten Industrialisierung darstellt. Dabei sind statt der im Plane vorgesehenen Senkung der Aufbaukosten um 14% nur 4% erreicht worden. Was diese mit allen Mitteln der Buchhalterei errechneten 4% besagen, ist ohne Kommentar verständlich: es ist schon gut, dass die Aufbaukosten nicht gestiegen sind. Der kombinierte Rückstandskoeffizient wird, im Vergleich zum Plan, folglich nicht 20%, sondern bedeutend höher als 30% sein. Dieses Erbe erhält das dritte Jahr auf dem Gebiete des kapitalen Aufbaues.

Durchbrüche" des Planes kann man nicht auf Kosten der Leichtindustrie ausfüllen, wie man es bis zu einem gewissen Grade in den ersten zwei Jahren getan hat, denn das größte Zurückbleiben hinter dem Plan hatte sich gerade auf dem Gebiet der Erzeugung von Fertigfabrikaten gezeigt. Nach dem Fünfjahresplan sollte die Leichtindustrie im Jahre 1929/30 um 18% steigen, nach dem Vierjahrplan um 23%. In Wirklichkeit erhöht sie sich nur um 11% (nach anderen Angaben um 13%). Indes verlangt gerade der Warenhunger äußerste Kräfteanspannung, besonders auf dem Gebiete der Leichtindustrie.

Als eine der Aufgaben des Sonderquartals, das zwischen das zweite und das dritte Jahr eingeschoben wurde, hatte man „die allseitige Festigung des Geldverkehrs und des gesamten Finanzsystems" proklamiert. Damit wird zum ersten Mal offiziell zugegeben, dass das Finanzsystem zerrüttet ist infolge der empirischen und planlosen Leitung während der ersten zwei Jahre des Fünfjahresplanes. Die Geldinflation bedeutet nichts anderes, als dass die ersten zwei Jahre eine ungedeckte Anleihe bei der Zukunft aufgenommen haben, und dass die nächsten Jahre diese Anleihe werden zahlen müssen. Der Appell zur Festigung des Geldverkehrs beweist, dass man, obwohl „wir die Periode des Sozialismus beschritten haben", gezwungen ist, den Tscherwonez nicht zu liquidieren, sondern, im Gegenteil, ihm auf die Beine zu helfen. Der theoretische Sinn wird dabei völlig auf den Kopf gestellt.

Der krankhafte Zustand des Tscherwonez ist das Ergebnis aller Irrtümer und Fehlrechnungen, aller Schwankungen, Disproportionen, Lücken, Überspannungen und Kopfschwindel der zentristischen Wirtschaftsleitung. Der kranke Tscherwonez geht als Erbschaft der ersten zwei Jahre des Fünfjahresplanes in das dritte über. Die Inflationsträgheit zu überwinden, ist durchaus nicht einfach. Das beweist schon der Gang der Durchführung des Finanzplanes im ersten Monat des Sonderquartals. Hauptsächlich aber darf man nicht vergessen, dass der Erfolg bei Aufrichtung des Tscherwonez (die unbedingt notwendig ist) mehr oder minder die Deflationskrise für die Industrie und die Gesamtwirtschaft in sich birgt. Ungedeckte und vor allem verschleierte Anleihen bei der Zukunft bleiben niemals straffrei.

Was die allgemeine Produktionssteigerung der im Plan vorgesehenen Industrie in den zwei verflossenen Jahren betrifft, so beträgt sie etwa 52% gegen 47,5% nach dem Fünfjahresplane, d. h. sie zeigt buchmäßig eine Steigerung um nur 4,5%. Wenn man den Rückstand in der Qualität abzieht, so kann man mit voller Sicherheit sagen, dass in den ersten zwei Jahren im besten Falle eine Annäherung an den Entwurf des grundlegenden Fünfjahresplanes erreicht worden ist, und auch dies nur „im Großen und Ganzen", d. h. wenn man von einer Reihe innerer Disproportionen absieht.

Die von uns oben gegebene Charakteristik der belasteten Erbschaft der ersten zwei Jahre des Fünfjahresplanes schmälern in keiner Weise die Bedeutung der erreichten Erfolge. Sie sind riesig, und ihr historischer Sinn ist um so bedeutungsvoller, als sie erreicht wurden trotz den ständigen Fehlern der Leitung. Gleichzeitig rechtfertigen die faktischen Errungenschaften den leichtsinnigen Sprung vom Fünfjahresplan auf vier Jahre nicht nur nicht, sondern geben auch keine Garantie für die Durchführung des gefassten Planes in fünf Jahren, denn die Buße für die Disproportionen und „Durchbrüche" der ersten zwei Jahre steht noch in den letzten drei Jahren bevor. Diese Buße wird um so schwerer sein, je weniger die Leitung fähig ist, vorauszusehen oder auf warnende Stimmen zu hören.

Den Fünfjahresplan während seines Verlaufes nachzuprüfen, die einen Zweige zu steigern, die anderen aufzuhalten – nicht auf Grund abstrakter, notwendigerweise bedingter, ungenauer Aufgaben, sondern auf Grund gewissenhafter Berechnung der Erfahrung –, das ist die Kernaufgabe der Wirtschaftsleitung. Aber gerade diese Aufgabe setzt das Vorhandensein der Partei-, Gewerkschafts- und Sowjetdemokratie voraus. Die Regulierung des sozialistischen Aufbaues verhindert das lächerliche und gleichzeitig ungeheuerliche Prinzip der Unfehlbarkeit der „General"leitung, die in der Tat eine Generalunzulänglichkeit und Generalgefahr darstellt. Die „Prawda" selbst ist gezwungen, am 27. Oktober 1930 festzustellen:

Wir haben Schwierigkeiten bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Industriewaren für den weitesten Bedarf."

Wir leiden vorläufig noch großen Mangel an Metall, Kohle, Elektroenergie und Baumaterialien zur vollständigen Sicherung des eingeschlagenen Tempos des sozialistischen Aufbaues."

Bei weitem unbefriedigend sind Sicherungen der Beförderung von Industrie- und Landwirtschaftsprodukten seitens unseres Transportwesens." „Die Volkswirtschaft leidet scharfen Mangel an Arbeitskräften und qualifizierten Kaders von Spezialisten." Folgt nicht daraus, dass die Umstellung auf vier Jahre ein offensichtlich abenteuerlicher Schritt war? Für die „Prawda" nicht. „Die Nichtdurchführung des kapitalen Aufbaues im Jahre 1929/30 trotz Fehlens objektiver Ursachen", schreibt die „Prawda", „gab der Kulakenagentur in der Partei – den rechten Opportunisten – Anlass, wieder das Gekreisch zu erheben, das von der Partei eingeschlagene Tempo übersteige die Kräfte" (3. November 1930). Auf diese Weise bereiten die Stalinisten am besten den Weg für die Rechten, indem sie die Meinungsverschiedenheiten mit diesen auf das Dilemma zurückführen: vier oder fünf Jahre? Diese Frage jedoch kann nicht „prinzipiell", sondern nur empirisch gelöst werden. Diese Meinungsverschiedenheit – von zwölf Monaten – enthält noch keine zwei Linien. Dafür aber gibt uns eine solche bürokratische Fragestellung einen vorzüglichen Gradmesser der Meinungsverschiedenheiten zwischen den Rechten und den Zentristen in der Bewertung der Zentristen selbst. Sie verhalten sich zueinander wie 4:5, also insgesamt 20% Meinungsverschiedenheit. Und was, wenn die Erfahrung zeigt, dass vier Jahre keinesfalls ausreichen? Werden dann die Rechten recht haben. Ist es so? Zwischen dem zweiten und dritten Jahr ist unterdessen das sogenannte Sonderquartal eingeschoben worden (Oktober-November-Dezember 1930). Das dritte Jahr des Fünfjahresplanes zählt jetzt offiziell vom 1. Januar 1931, so dass das Sonderquartal nicht gerechnet wird. Die Meinungsverschiedenheit mit den Rechten sank somit von 20% auf 15%. Wer benötigt diese unwürdigen Kniffe? Das „Prestige", aber doch keinesfalls der Sozialismus.

Die Durchbrüche, die man bereits gezwungen war, durch ein Sonderquartal zuzustopfen, entstanden nach der Meinung der „Prawda" „trotz Fehlen objektiver Ursachen". Eine sehr tröstliche Erklärung, doch ersetzt sie weder die nicht erbauten Fabriken, noch die nicht fertiggestellten Waren. Das Unglück besteht eben darin, dass solche subjektiven Faktoren, wie „Ungeschicklichkeit", „Mangel an Initiative" und anderes nur in bestimmten Grenzen der subjektiven, d. h. apparatbürokratischen, Beeinflussung unterliegen und sich hinter diesen Grenzen in objektive Hindernisse verwandeln, denn sie werden letzten Endes vom Grade der Technik und der Kultur bestimmt. Schließlich werden selbst solche „Durchbrüche", die tatsächlich von subjektiven Ursachen hervorgerufen sind, zum Beispiel durch die Kurzsichtigkeit der „General"leitung zu objektiven Tatsachen, indem sie die weiteren Möglichkeiten einschränken. Ist für den Opportunismus passive Anpassung an die objektiven Bedingungen charakteristisch („Chwostismus"), so ist für seinen brüderlichen Antipoden, das Abenteurertum, ebenso das bravourhaft verächtliche Verhältnis zu den objektiven Faktoren charakteristisch. Parole der Sowjetpresse ist heute: „Für den russischen Menschen gibt es. nichts Unmögliches."

Die Artikel der „Prawda" (Stalin selbst schweigt sich vorsichtig aus) besagen, Voraussicht, Kollektivberechnung, gewandte Wirtschaftsregulierung werden auch fernerhin durch die „General"knute ersetzt werden. Die „Prawda" gibt in einer Reihe von Fällen zu, dass „Durchbrüche nicht so sehr auf der Basis technologischen Umbaues des gesamten Produktionsprozesses als auf der Basis revolutionären Druckes der Massen liquidiert wurden" (1. November). Der Sinn dieses Geständnisses ist vollkommen klar.

Gewiss, würde es sich tatsächlich darum handeln, im Laufe der zwei bis drei nächsten Jahre die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder zu überholen und damit die Unerschütterlichkeit der sozialistischen Wirtschaft zu sichern, dann wäre der vorübergehende, wenn auch schwere Druck auf die Muskeln und Nerven der Werktätigen nicht nur zu verstehen, sondern auch zu rechtfertigen. Wir haben jedoch oben gesehen, wie zweideutig, falsch, demagogisch, den Arbeitern die Aufgabe selbst vorgesetzt wird. Das ununterbrochene Trommeln auf den Nerven droht deshalb eine Reaktion in den Massen hervorzurufen, eine viel bedrohlichere als jene, die sich am Ende des Bürgerkrieges gezeigt hat. Diese Gefahr ist um so akuter, als nicht nur die Aufgabe „einholen und überholen" bei der glücklichsten Durchführung des Fünfjahresplanes nicht gelöst werden wird, sondern auch der Fünfjahresplan selbst bei der ungeheuerlichsten Anspannung nicht in vier Jahren durchführbar ist. Mehr noch, das administrative Abenteurertum der Leitung macht die Durchführung des Wirtschaftsplanes auch in fünf Jahren immer weniger wahrscheinlich. Das stumpfsinnige, blinde Beharren auf dem Buchstaben des Planes im Namen des „General"prestiges macht eine ganze Reihe von Krisen unvermeidlich, die die wirtschaftliche Entwicklung aufhalten und sich in eine offene politische Krise verwandeln können.

5. UdSSR und der Weltmarkt

Also die summarischen Ergebnisse der Industriesteigerung, ihrem Schwunge nach ganz außergewöhnlich, geben das reale Bild der Lage nicht, denn sie charakterisieren nicht jene ungünstigen ökonomischen und politischen Bedingungen, unter denen das dritte Jahr des Fünfjahresplanes (1. Oktober 1930) begann. Eine konkretere ökonomische Analyse beweist, dass die summarische Statistik der Erfolge eine Reihe tiefer Widersprüche verdeckt: a) zwischen Stadt und Land (Preisschere, Ernährungs- und Rohstoffmangel; Mangel an Industriewaren im Dorfe); b) zwischen schwerer und leichter Industrie (an Rohstoffen unversorgte Betriebe und Warenhunger); c) zwischen nomineller und realer Kaufkraft des Tscherwonez (Inflation); d) zwischen der Partei und der Arbeiterklasse; e) zwischen Apparat und Partei; f) innerhalb des Apparates. Aber außer diesen sozusagen „häuslichen" Widersprüchen gibt es einen, der durch die Logik der Dinge immer größere Bedeutung gewinnt: das ist der Widerspruch zwischen der Sowjetwirtschaft und dem Außenmarkt. Die reaktionäre Utopie einer abgeschlossenen sozialistischen Wirtschaft, die sich auf der inneren Basis unter dem Schutze des Außenhandelsmonopols harmonisch entwickelt, bildete den Ausgangspunkt der ganzen Planberechnung. Indem sie der Behörde willig entgegenkamen und mit deren Vorurteilen ihre eigenen Schädlingsabsichten verbanden, verfassten die Fachmänner des Gosplans den ersten Entwurf des Fünfjahresplanes nicht nur an Hand der erlöschenden Kurve des Industrietempos, sondern auch an Hand der erlöschenden Kurve des Außenhandels: es wurde vorausgesetzt, dass im Laufe der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre die UdSSR den Import völlig einstellen werde. Da andererseits der gleiche Plan das Steigen des Ernteertrages vormerkte, und folglich auch der Exportmöglichkeiten, so blieb es ganz unbekannt, welche Bestimmung der Getreide- und der andere Überfluss des Landes haben sollte. Er sollte doch wohl nicht in den Ozean geworfen werden? Bevor jedoch der erste Entwurf des Fünfjahresplanes unter dem Druck der Opposition einer prinzipiellen Nachprüfung unterworfen wurde, schlug der Gang der Entwicklung selbst eine Reihe von Breschen in Theorie und Praxis der isolierten Wirtschaft. Der Weltmarkt bildet für die Wirtschaft jedes Landes, des kapitalistischen wie des sozialistischen, riesige, praktisch unerschöpfliche Reserven. Das Wachstum der Sowjet-Industrie erzeugt einerseits technische und kulturelle Bedürfnisse, andererseits immer neue Widersprüche und zwingt damit in immer größerem Maße, sich an die Reserven des Außenhandels zu wenden. Gleichzeitig damit ruft die Entwicklung der Industrie unproportionell allein schon kraft der Naturbedingungen, in einzelnen Zweigen akutes Bedürfnis nach Export hervor (z. B. von Naphta, Wald) noch lange bevor die Industrie in ihrer Gesamtheit die elementaren Bedürfnisse des eigenen Landes zu befriedigen begonnen hat. Der Wiederaufbau des ökonomischen Lebens in der UdSSR führt somit aus verschiedenen Richtungen nicht zur wirtschaftlichen Isolierung des Landes, sondern im Gegenteil, zur Steigerung seiner Verbindungen mit der Weltwirtschaft, folglich auch zur Abhängigkeit von dieser. Der Charakter dieser Abhängigkeit wird bestimmt einerseits vom spezifischen Gewicht der Sowjetwirtschaft in der Weltwirtschaft, und unmittelbarer – von dem Verhältnis zwischen dem inneren Herstellungspreis und dem Herstellungspreis in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern.

Das Auftreten der Sowjetwirtschaft auf dem Weltmarkte geschah auf diese Weise nicht nach der planmäßigen Voraussicht, mit breiten Perspektiven, sondern, umgekehrt, entgegen aller Voraussicht, unter dem Druck der bitteren Notwendigkeit, als sich herausstellte, dass der Import von Maschinen und notwendigen Rohstoffarten und Hilfsmaterialien jenen „engen Platz" bildet, nach dem sich die Pläne aller Industriezweige zu richten haben. Den Import ausdehnen kann man nicht anders als durch die Steigerung des Exports. Der Sowjetstaat exportiert, weil er nicht anders kann und verkauft zu Preisen, wie sie die heutige Weltwirtschaft bedingt. Damit stellt sich die Sowjetwirtschaft nicht nur in immer steigendem Maße unter die Kontrolle des Weltmarktes, sondern wird auch einbezogen – selbstredend in abweichender Form – in die Wirkungssphäre der Konjunkturschwankungen der kapitalistischen Welt. Der bei weitem nicht im vorgesehenem Maße erfüllte Exportplan für das Jahr 1929-1930 hat in Bezug auf die finanziellen Resultate unter der Weltkrise empfindlich gelitten. So findet eine der vielen Differenzen zwischen der linken Opposition und den Zentristen ihre Lösung. Bereits im Kampfe um die Notwendigkeit der Aufstellung eines Fünfjahresplanes hatten wir seinerzeit den Gedanken hervorgehoben, dass der Fünfjahresplan nur die erste Etappe sei und dass man von ihr aus so schnell wie möglich zu einem perspektivischen Acht- oder Zehnjahresplan werde übergehen müssen, um die mittlere Periode der Erneuerung der Ausrüstung zu erfassen und damit auch sich der Weltkonjunktur anzupassen. Eine einigermaßen dauerhafte Stabilisierung des Nachkriegskapitalismus – sagten die Vertreter der Opposition – wird unvermeidlich zur Rekonstruktion der vom Kriege unterbrochenen handels-industriellen Zyklen führen, und wir werden gezwungen sein, unsere Pläne nicht auf der vermeintlichen Unabhängigkeit von der Weltkonjunktur, sondern auf einer vernünftigen Anpassung an diese aufzubauen, d. h. so, um möglichst viel durch einen Aufstieg zu gewinnen und möglichst wenig durch eine Krise zu verlieren. Es ist überflüssig, hier all jene national-sozialistischen Banalitäten in Erinnerung zu bringen, die die offiziellen Führer, in erster Linie Stalin und Bucharin, dieser Voraussicht, die jetzt Tatsache wird, entgegenhielten. Der heutige Export gewinnt um so mehr chaotischen Charakter, je weniger die Wirtschaftsführer die primitivste Logik der Dinge vorausgesehen haben.

Aus der kurzen Geschichte des Sowjetaußenhandels und aus den Schwierigkeiten, auf die der forcierte, aber seinem Umfange nach noch immer sehr unbedeutende Export des letzten Jahres stößt, ergeben sich einfache aber äußerst wichtige Schlussfolgerungen für die Zukunft. Je erfolgreicher sich die Sowjetwirtschaft im Weiteren entwickeln wird, um so mehr wird sich das Gebiet der ökonomischen Außenbeziehungen verbreitern müssen. Das umgekehrte Theorem ist noch wichtiger: nur bei der Möglichkeit, Export und Import zu verbreitern, wird die Sowjetwirtschaft rechtzeitig imstande sein, die partiellen Krisen zu überwinden, die partiellen Disproportionen abzuschwächen, das dynamische Gleichgewicht verschiedener Gebiete auszubalancieren und auf diese Weise hohe Tempos der Entwicklung zu sichern. Gerade hier nähern wir uns den wichtigsten und letzten Endes entscheidenden Problemen und Schwierigkeiten. Die Möglichkeit, die Reserven des Weltmarktes für die Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft auszunutzen, wird, wie bereits gesagt, unmittelbar bestimmt von dem Verhältnis des Inlands- und des Weltherstellungspreises pro Wareneinheit einer bestimmten standardisierten Qualität. Das bürokratische Jagen nach dem Tempo hat jedoch bisher nicht nur die Erreichung irgendwelcher Erfolge auf diesem entscheidenden Gebiete verhindert, sondern auch die richtige Fragestellung selbst.

In seinem Referat auf dem 16. Parteitag sagte Stalin, die Qualität unserer Produktion sei „manchmal" (mit solchen Ausreden stopfen die Bürokraten alle Löcher zu) „scheußlich". Das ist eine vollkommene Parallele zur „verteufelten" Rückständigkeit. Statt genauer Angaben bietet man uns Redensarten, die zwar kräftig klingen, tatsächlich aber feige die Wirklichkeit maskieren: „verteufelte" Rückständigkeit, „scheußliche" Qualität. Indes würden zwei Zahlen, zwei Durchschnitts-Vergleichskoeffizienten, der Partei und der Arbeiterklasse eine unvergleichlich wertvollere Orientierung bieten als Berge billiger Zeitungsstatistik, mit der die heutigen Weisen ihre zehnstündigen Referate vollstopfen, bemüht auch in dieser Hinsicht durch die Quantität die Mängel der Qualität zu ersetzen.

Verkauf von Sowjetprodukten selbst zu Preisen unter den Selbstkosten – im Interesse des Imports – ist in gewissen Grenzen unvermeidlich und vom allgemein wirtschaftlichen Standpunkte vollständig gerechtfertigt. Aber nur in gewissen Grenzen. Das Steigen des Exportes wird auch in Zukunft um so größeren Hindernissen begegnen, je bedeutender die Differenz ist zwischen den inneren Herstellungskosten und denen der übrigen Welt. Mit besonderer Grellheit und praktischer Schärfe tritt hier das Problem des qualitativ-quantitativen Vergleichskoeffizienten von Inlands- und Weltindustrie hervor. Das Schicksal der Sowjetwirtschaft wird ökonomisch im Knoten des Außenhandels gelöst, wie politisch in dem Knoten, der die WKP mit der Komintern verknüpft. Dass die kapitalistische Weltpresse das Wachsen des Sowjetexports als Dumping darstellt, der die Niederreißung der Grundlagen der Zivilisation zum Zweck hat, und dass die kompradorische russisch-emigrantische Bourgeoisie und ihre „Demokratie" diese Parole aufgegriffen haben, ist ebenso in der Ordnung wie die Tatsache, dass die emigrantisch-kompradorische Presse in der Form von Feuilletons im Interesse Rumäniens, Polens und größerer Haifische Enthüllungen der Geheimnisse der Staatsverteidigung der UdSSR druckt. Nicht die Gemeinheit ist in der Frage der Dumping erstaunlich, sondern die Dummheit, die übrigens auch nicht erstaunlich ist: wo sollte die kompradorische Bourgeoisie Vernunft angenommen haben? Das Sowjet-„Dumping" als Bedrohung der Weltwirtschaft schildernd, geben die Liberalen und Demokraten damit zu, dass die Sowjetindustrie eine solche Macht erreicht hat, die es ihr erlaubt, den Weltmarkt zu erschüttern. Zum Unglück ist es nicht so.

Es genügt zu sagen, dass der Sowjetexport in seinem heutigen bedeutend gewachsenen Umfange nur anderthalb Prozent des Weltexports beträgt. So morsch der Kapitalismus auch ist, damit ist er nicht zu stürzen. Der Sowjetregierung die Absicht zuschreiben, mit Hilfe der anderthalb Prozent Export die Weltrevolution hervorzurufen, können nur ausgesprochene Esel, die dadurch jedoch nicht aufhören Kanaillen zu sein. Was man das Eindringen der Sowjetunion in die Weltwirtschaft nennt, bedeutet in unvergleichlich größerem Maße das Eindringen des Weltmarktes in die Sowjetwirtschaft. Dieser Prozess wird wachsen und sich in immer höherem Grade in einen ökonomischen Zweikampf der beiden Systeme verwandeln. Als welch Kinderei zeigt sich im Lichte dieser Perspektive die hausbackene Philosophie, nach der der Aufbau des Sozialismus durch den Sieg über die Bourgeoisie des eigenen Landes gesichert ist, wonach, dann das Verhältnis zur Außenwelt sich in dem Kampfe gegen militärische Interventionen erschöpft.

Schon zu Beginn der Weltkrise schlug die Opposition vor, eine internationale proletarische Kampagne zu eröffnen für eine Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der UdSSR. Trotzdem Krise und Arbeitslosigkeit diese Kampagne dringend machten, wurde sie mit blödsinnigen Motivierungen abgelehnt, in Wirklichkeit deshalb, weil die Initiative von der Opposition ausging. In Verbindung mit der Welthetze gegen den Sowjetdumping sind die Sektionen der Komintern nunmehr doch gezwungen, die zur Verteidigung der ökonomischen Zusammenarbeit von uns seiner Zeit vorgeschlagene Kampagne aufzunehmen. Aber welch klägliche, eklektische Kampagne ohne klaren Gedanken und Perspektive, eine Kampagne chaotischer Verteidigung statt eines planmäßigen Angriffs. So sehen wir auch an diesem Beispiel, dass sich hinter dem bürokratischen Geschrei der Chwostismus verbirgt, die stets gleiche Unfähigkeit, auch nur in einer Frage die politische Initiative zu ergreifen.

6. Fünfjahresplan in vier Jahren? [Einschub von Anfang 1931]

Das Sonderquartal hat sehr hohe Tempos in der Entwicklung der Industrie gezeigt. Aber gleichzeitig zeigte es, dass die Umwandlung des Fünfjahresplans in einen Vierjahrplan ein leichtfertiges Abenteuer war, das den Kernplan gefährdet.

Das Wirtschaftsjahr begann bei uns im Gegensatz zum Kalenderjahr nicht am 1. Januar, sondern am 1. Oktober. Das war bedingt durch die Notwendigkeit, die wirtschaftlichen Berechnungen und Operationen dem landwirtschaftlichen Zyklus anzupassen. In wessen Namen wurde nun dieser Brauch, der, wie gesagt, ernsten Erwägungen entsprach, plötzlich umgestoßen? Im Namen des Triumphs des bürokratischen Prestiges. Da schon das letzte Quartal des zweiten Jahres des Fünfjahresplans die Unmöglichkeit ergeben hatte, den Plan in vier Jahren zu verwirklichen, so wurde beschlossen, ein Sonderquartal einzulegen, das heißt, den vier Jahren drei Extramonate zuzugeben. Man mutmaßte, in dieser Zeit könnte es mit Hilfe eines verdoppelten Druckes auf Muskeln und Nerven der Arbeiter gelingen, dem Fetisch der Unfehlbarkeit der Leitung Hilfe zu leisten. Da aber das Sonderquartal keine besonderen Wunderkräfte offenbarte (es wird ja dadurch nicht wärmer, dass man die Null am Thermometer verschiebt), so stellte sich am Ende des Quartals heraus, was vorauszusehen war und was wir vorausgesagt haben: trotz der Arbeit unter den drei Knuten: der Partei, der Sowjets und der Gewerkschaften war das Übertempo nicht zu verwirklichen.

Die Roheisenindustrie im Süden und im Zentrum erfüllte den Plan des Sonderquartals zu 84 Prozent. Die Eisenindustrie insgesamt blieb um etwa 20 Prozent hinter dem Plan zurück („Prawda" vom 16. Januar 1931). Das Donezbecken lieferte 10 Millionen Tonnen Kohle statt der programmgemäßen 16 Millionen Tonnen, d. h. nicht mehr als 62 Prozent. Die 'Superphosphatfabriken lösten die Produktionsaufgabe gleichfalls nur zu 62 Prozent. In den anderen Industriezweigen ist das Zurückbleiben hinter dem Programm nicht ganz so groß (vollständige Berichte besitzen wir nicht), immerhin ist der sogenannte „Durchbruch" des Planes sehr bedeutend, insbesondere und hauptsächlich im Kapitalaufbau. Schlimmer jedoch verhält es sich bei den Qualitätsausweisen. Von der Kohlenindustrie sagt die Zeitung „Sa Industrialisaziu".: „Die Ausweise über Qualität offenbaren einen tieferen Durchbruch als die über Quantität." (8. Januar). Von dem Kriworoger Eisenerz schreibt das gleiche Blatt: „Die Qualitätsausweise haben sich verschlechtert" (7. Januar). Verschlechtert! Wir wissen aber, dass sie schon vorher auf einem sehr tiefen Niveau standen. Bezüglich der sonstigen Metalle und des Goldes stellt diese Zeitung fest: „Statt Senkung der Gestehungskosten – Steigerung." Gleichartige Urteile könnte man eine lange Reihe "anführen.

Was die Verschlechterung der Kohlenqualität für das Transportwesen bedeutet, darüber sagt unser Korrespondent: Verringerung der durchlaufenen Wegstrecken, Beschädigung der Lokomotiven, Anwachsen der Unfälle, überhaupt Desorganisation des Transports ist die automatische Antwort auf die Verschlechterung der Qualität des Heizmaterials. Gleichzeitig schlägt die Desorganisierung des Eisenbahntransports, der, was wir hier gleich feststellen wollen, während des Sonderquartals besonders zurückgeblieben ist, schwer auf alle übrigen Wirtschaftszweige. Die Sportmethode, durch die die Leitung Umsicht, sachliche und elastische Planierung ersetzt, bedeutet eine immer größere Anhäufung von Rückständen nicht selten in verschleierter und darum um so gefährlicherer Form, die mit besonders scharfen Krisenausbrüchen droht.

Das Tempo des Sonderquartals ist an sich sehr hoch und bildet eine glänzende Demonstration der unermesslichen Vorteile, die in der Planwirtschaft enthalten sind. Bei einer richtigen Leitung, die den realen ökonomischen Prozessen Rechnung trägt und die notwendigen Änderungen im Plan im Verlaufe des Prozesses seiner Erfüllung vornimmt, könnten die Arbeiter ein berechtigtes Gefühl des Stolzes über die erreichten Erfolge empfinden. Jetzt jedoch wird direkt das entgegengesetzte Resultat erreicht: Wirtschaftler und Arbeiter sehen dauernd nur die Undurchführbarkeit der Pläne, dürfen aber nichts laut aussprechen, arbeiten unter Druck und fühlen sich im Geheimen verletzt; ehrliche und sachliche Administratoren wagen nicht, dem Arbeiter in die Augen zu blicken. Alle sind unzufrieden. Die Berichterstattung wird den Aufgaben künstlich angepasst, die Qualität der Erzeugnisse wird der Berichterstattung angepasst – alle Wirtschaftsprozesse werden in einen Dunst von Unwahrhaftigkeit gehüllt. So wird die Krise vorbereitet. In wessen Namen? Im Namen des bürokratischen Prestiges, das endgültig den Platz des bewussten und kritischen Vertrauens der Partei zur Leitung eingenommen hat. Man muss gleich sagen, dass dieser Götze – das Prestige – nicht nur verteufelt anspruchsvoll und zynisch ist, sondern auch reichlich dumm: er trägt keine Bedenken, zum Beispiel offen zuzugeben, dass die Pläne durch Schädlinge ausgearbeitet wurden, – wobei weder Krschischanowski noch Kuibyschew noch Molotow noch Stalin sich fähig zeigten, diese Schädlingsarbeit an ihren ökonomischen Anzeichen zu erkennen. Andrerseits will dieser gleiche Götze keinesfalls eingestehen, dass die Vierjahresfrist, entsprungen der Vermengung von Schädlingstendenzen und analphabetischem Abenteurertum, falsch ist.

Wir wollen nochmals daran erinnern, dass der Troubadour des Prestiges, Jaroslawski, als wir von Anfang an vor dem leichtfertigen, unmotivierten und unvorbereiteten Schritt warnten, in allen Sprachen verlauten ließ, unsere Warnung sei nur ein neuer Beweis für das Konterrevolutionäre des „Trotzkismus".

Folgerungen:

1. Offen zugeben, dass die Umstellung des Fünfjahresplanes auf vier Jahre ein falscher Schritt war.

2. Die Erfahrung der ersten zwei Jahre und des laufenden Quartals zum Gegenstand allseitigen und freien Studiums und der Diskussion in der Partei machen.

3. Kriterien der Diskussion: a) optimales (vernünftigstes) Tempo, d. h. solches, das nicht nur die Durchführung des heutigen Befehls sichert, sondern auch das dynamische Gleichgewicht des schnellen Wachstums während einer weiteren Reihe von Jahren; b) systematische Erhöhung des realen Arbeitslohnes; c) Schließen der Schere der Industrie- und Landwirtschaftspreise, d. h. Sicherung der Smytschka mit der Bauernschaft.

4. Keinesfalls die Kolchosen mit dem Sozialismus identifizieren. Aufmerksam die unvermeidlichen Differenzierungsprozesse sowohl innerhalb der Kolchosen wie auch zwischen ihnen verfolgen.

5. Das Problem der Gesundung des Geldsystems offen und planmäßig aufstellen, andernfalls droht die panische, bürokratische Deflation mit nicht kleineren Gefahren als die Inflation.

6. Das Problem des Außenhandels mit der Perspektive wachsender Verbindungen mit der Weltwirtschaft, als Knoten-Problem aufstellen.

7. Ein System vergleichender Koeffizienten der Sowjetproduktion und der der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder ausarbeiten, nicht nur als Wegweiser für praktische Aufgaben von Export und Import, sondern auch als einzig richtiges Kriterium für die Aufgabe „einholen und überholen".

8. Aufhören, sich in der Wirtschaft von Erwägungen des bürokratischen Prestiges leiten zu lassen. Nicht beschönigen, nicht verschweigen, nicht täuschen. Die heutige Übergangswirtschaft in der Sowjetunion, die ihrem Niveau nach der zaristisch-bürgerlichen Wirtschaft näher steht, als dem fortgeschrittenen Kapitalismus, nicht als Sozialismus bezeichnen.

9. Sich lossagen von der falschen nationalen und internationalen Perspektive der Wirtschaftsentwicklung, die sich unvermeidlich aus der Theorie des Sozialismus in einem Lande ergibt.

10. Ein für alle Mal ein Ende machen mit dem praktisch katastrophalen und für eine revolutionäre Partei demütigenden und durch und durch dummen römisch-katholischen Dogma von der „General-Unfehlbarkeit".

11. Die Partei durch Zerbrechen der Diktatur des bürokratischen Apparates erneuern.

12. Den Stalinismus verurteilen. Zurückkehren zur Theorie von Marx und zur revolutionären Methodologie von Lenin.

* In Wirklichkeit gab es bei dem tiefen Niveau der Produktivkräfte, oder richtiger der völligen Armut, – außer der neuen ökonomischen Politik, d. h. ohne die Einführung persönlicher Interessiertheit am Markte – keine anderen Methoden und konnte es keine anderen geben als die des Kriegskommunismus. Der Streit – um die Sache herum – währte bis zum Übergang zur Nep. Der Übergang zur Nep beseitigte das Streitobjekt. Nur Sinowjew und zum Teil Tomski fuhren fort, das Abc der Gewerkschaftsfragen wiederzukäuen, ohne überhaupt begriffen zu haben, um was der Streit gegangen war.

1 Gemeinst ist offenbar „ursprüngliche sozialistische Akkumulation“

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