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Leo Trotzki 19301215 Monatte überschreitet den Rubikon

Leo Trotzki: Monatte überschreitet den Rubikon

[Nach Marxismus und Gewerkschaft. Essen 1976, S. 59-65]

Es ist jetzt lächerlich und abwegig, von gemeinsamen Aktionen mit der Syndikalistischen Liga oder dem Komitee für die Unabhängigkeit der Gewerkschaften zu reden. Monatte hat den Rubikon überschritten. Er hat sich mit Dumoulin gegen den Kommunismus und gegen die proletarische Revolution überhaupt gestellt. Denn Dumoulin gehört zum Lager der besonders gefährlichen und hinterhältigen Gegner der proletarischen Revolution. Er hat das in der Praxis in der widerwärtigsten Weise bewiesen. Lange Zeit ist er um den linken Flügel herum gestrichen, nur um im entscheidenden Moment zu Jouhaux, das heißt zum unterwürfigsten und korruptesten Agenten des Kapitals überzulaufen.

Die Aufgabe eines ehrlichen Revolutionärs besteht vor allem in Frankreich, wo es unzählige unbestrafte Verrätereien gibt, darin, die Arbeiter an die Erfahrungen der Vergangenheit zu erinnern, die Jugend unversöhnlich zu stimmen oder unermüdlich die Geschichte des Verrats der II. Internationale und des französischen Syndikalismus zu erklären, die schändliche Rolle zu entlarven, die nicht nur Jouhaux und seine Kumpane spielten, sondern vor allem die französischen Syndikalisten der „Linken“, wie Merrheim und Dumoulin.

Wer auch immer diese elementare Aufgabe der neuen Generation gegenüber nicht durchführt, beraubt sich selbst für immer des Rechts auf revolutionäres Vertrauen. Kann man zum Beispiel auch nur einen Schatten Achtung vor den zahnlosen französischen Anarchisten behalten, wenn sie den alten Possenreißer Sebastian Faure wieder als Antimilitaristen hochspielen, der während des Friedens seine pazifistischen Phrasen vertrieb, und der sich zu Beginn des Krieges Malvy, d.h. der französischen Börse, in die Arme warf? Wer versucht, diese Tatsache in die Toga des Vergessens zu kleiden, wer politischen Verrätern Amnestie gewährt, kann von uns nur als ein unverbesserlicher Feind angesehen werden.

Monatte hat den Rubikon überschritten. Von dem unsicheren Verbündeten ist er zuerst der zögernde Feind geworden, um später zum direkten Feind zu werden. Wir müssen das den Arbeitern laut und deutlich und rücksichtslos sagen.

Naiven Leuten und ebenso einigen Schurken, die eine naive Miene aufsetzen, mag unser Urteil übertrieben und „ungerecht“ erscheinen. Denn Monatte vereinigt sich mit Dumoulin einzig zur Wiedererrichtung der Einheit der „Gewerkschafts“bewegung! Einzig! Die Gewerkschaften, müsst Ihr sehen, sind keine Partei, keine Sekte. Die Gewerkschaften müssen die ganze Arbeiterklasse umfassen, mit all ihren Tendenzen; man kann deshalb auf gewerkschaftlicher Ebene an Dumoulins Seite arbeiten, ohne die Verantwortung weder für seine Vergangenheit noch für seine Zukunft zu übernehmen. Überlegungen dieser Art bilden eine Kette billiger Haarspaltereien, mit denen die französischen Syndikalisten und Sozialisten gerne betrügen, wenn sie eine faule Sache abdecken wollen.

Wenn in Frankreich vereinigte Gewerkschaften existieren würden, hätten die Revolutionäre sicherlich nicht die Organisation wegen der Anwesenheit von Verrätern, Opportunisten und bezahlten Agenten des Imperialismus verlassen. Die Revolutionäre hätten nicht von sich aus die Initiative zur Spaltung ergriffen. Aber wenn sie in diese Gewerkschaften eingetreten oder darin geblieben wären, hätten sie all ihre Kräfte darauf gerichtet, die Verräter vor den Massen als Verräter zu entlarven, um sie auf der Grundlage der Erfahrungen der Massen zu diskreditieren, sie zu isolieren, sie des Vertrauens zu berauben, dessen sie sich erfreuen und am Ende den Massen zu helfen, sie hinauszutreiben. Das allein kann die Beteiligung von Revolutionären in reformistischen Gewerkschaften rechtfertigen.

Aber Monatte arbeitet überhaupt nicht in der Art in den Gewerkschaften, Seite an Seite mit Dumoulin, wie die Bolschewiki es häufig mit den Menschewiki tun mussten, während sie gleichzeitig einen systematischen Kampf gegen sie führten. Nein, Monatte hat sich mit Dumoulin als einem Verbündeten auf einer gemeinsamen Plattform vereinigt und gründet mit ihm eine politische Fraktion oder eine „Sekte“, die ihren Ausdruck in der Sprache des französischen Syndikalismus findet, um später einen politischen Feldzug zur Eroberung der Gewerkschaftsbewegung führen zu können. Monatte kämpft nicht gegen die Verräter in der Gewerkschaft, er hat sich Dumoulin angeschlossen und nimmt ihn unter seine Fittiche; er präsentiert ihn den Massen als einen Beschützer. Monatte sagt den Arbeitern, dass man mit Dumoulin Hand in Hand gegen die Kommunisten, gegen die roten Internationalen Gewerkschaften, gegen die Oktoberrevolution und folglich gegen die proletarische Revolution im Allgemeinen gehen kann. Das ist die unverhüllte Wahrheit, die wir laut vor den Arbeitern aussprechen müssen.

Als wir einmal Monatte als einen Zentristen definierten, der nach rechts rutscht, versuchte Chambelland, diese vollkommen richtige wissenschaftliche Einschätzung in einen feuilletonistischen Scherz zu verwandeln und versucht sogar, diese Bezeichnung „Zentristen“ auf uns zurückzuwerfen, wie ein Fußballspieler den Ball mit einer Wendung des Kopfes zurückgibt. Aber, oh Unglück, manchmal leidet der Kopf darunter. Ja, Monatte war ein Zentrist, und in seinem Zentrismus waren alle Elemente seines offensichtlichen Opportunismus von heute enthalten.

Im Zusammenhang mit der Hinrichtung der indochinesischen Revolutionäre im Frühjahr dieses Jahres entwickelte Monatte in indirekter Weise den folgenden Aktionsplan:

Ich verstehe nicht, warum unter solchen Umständen die Parteien und Organisationen, die über die notwendigen Mittel verfügen, keine Gesandten und Journalisten schicken, um vor Ort nachzuforschen. Konnten sie nicht aus dem Dutzend Abgeordneter der Kommunistischen Partei und dem Hundert der Sozialistischen Partei eine Untersuchungskommission aussuchen, die mit der Ausarbeitung einer Kampagne beauftragt sein sollte, die die Kolonialherren zum Rückzug zwingen und die Verurteilten retten kann?“ (,La Révolution Proletarienne‘, Nr. 104)

Mit den gebieterischen Ermahnungen eines Schulmeisters, gab Monatte den Kommunisten und Sozialdemokraten Ratschläge, wie sie die Kolonialisten bekämpfen sollten. Die Sozialpatrioten und Kommunisten waren vor sechs Monaten für ihn Leute aus demselben Lager, die nur Monattes Rat befolgen mussten, um die richtige Politik zu machen. Für Monatte existierte noch nicht einmal die Frage, wie die Sozialpatrioten gegen die Kolonialisten kämpfen können, wenn sie die Parteigänger der kolonialen Politik sind und diese praktisch ausführen.

Denn können Kolonien, d.h. Nationen, Stämme, Rassen regiert werden, ohne dass Rebellen und Revolutionäre erschossen werden, die sich von dem widerwärtigen kolonialen Joch befreien wollen? Herr Zyromski und seinesgleichen sind nicht dagegen, bei jeder günstigen Gelegenheit einen Studierzimmer-Protest gegen die koloniale „Grausamkeit“ abzugeben, aber das hindert sie nicht daran, der sozialkolonialistischen Partei anzugehören, die das französische Proletariat während des Krieges an einen chauvinistischen Kurs fesselte. Eines der grundsätzlichen Ziele dieser Partei war es, die Kolonien zum Profit der französischen Bourgeoisie zu erhalten und zu erweitern. Monatte hat all dies vergessen. Er argumentiert, als ob es seitdem nicht in einer ganzen Reihe von westlichen und orientalischen Ländern zu großen revolutionären Bewegungen gekommen wäre, als ob nicht unterschiedliche Tendenzen in der Aktion revidiert und durch die Erfahrung klar gemacht worden wären. Vor sechs Monaten tat Monatte so, als ob er ganz von Neuem beginne. Und während dieser Zeit machte die Geschichte wieder einen Spielball aus ihm. MacDonald, der Glaubensbruder der französischen Syndikalisten, dem Louzon kürzlich einige unvergessliche Ratschläge gab, schickt keine Befreiungskommissionen nach Indien, sondern bewaffnete Streitkräfte, und bekommt die Hindus in einer abstoßenderen Weise unter Kontrolle als irgend ein Curzon es hätte tun können. Und all die Scharlatane der britischen Gewerkschaftsbewegung billigen des Schlächters Arbeit. Ist das Zufall?

Anstatt sich unter dem Einfluss dieser neuen Lehren von der heuchlerischen „Neutralität“ und „Unabhängigkeit“ abzuwenden, hat Monatte im Gegenteil einen neuen, diesmal entscheidenden Schritt in die Arme der französischen MacDonalds und Thomas‘ gemacht. Wir haben nichts mehr mit Monatte zu diskutieren.

Der Block der „unabhängigen“ Syndikalisten mit den anerkannten Agenten der Bourgeoisie hat eine große symptomatische Bedeutung. In den Augen der Philister scheint es, als ob die Vertreter beider Lager im Namen der Einheit einen Schritt aufeinander zu gemacht hätten, einen Schritt zur Beendigung des Bruderkriegs und anderes süßes Geschwätz. Es kann nichts ekelhafteres, nichts falscheres geben als diese Phraseologie. In Wirklichkeit hat dieser Block eine ganz andere Bedeutung.

In den verschiedenen Kreisen der Arbeiterbürokratie und bei Teilen der Arbeiterklasse selbst repräsentiert Monatte jene Elemente, die versuchten, sich der Revolution zu nähern, die aber durch die Erfahrung der letzten zehn bis zwölf Jahre die Hoffnung in sie verloren haben. Seht ihr nicht, dass sich die Revolution auf solch komplizierten und vielfältigen Wegen entwickelt, dass sie zu inneren Konflikten führt, zu immer neuen Spaltungen und nach einem Schritt vorwärts, einen halben, manchmal einen ganzen Schritt zurückgeht? Die Jahre der bürgerlichen Stabilisierung, die Jahre des revolutionären Rückflutens haben Verzweiflung, Müdigkeit und opportunistische Stimmungen bei einem gewissen Teil der Arbeiterklasse angehäuft. All diese Gefühle sind erst heute in der Gruppe Monattes herangereift und haben sie schließlich dazu getrieben, von einem Lager ins andere überzugehen. Auf dem Weg trifft sich Monatte mit Sellier, der seine eigenen Gründe hatte – mit städtischen Ehren beladen – der Revolution den Rücken zu kehren. Monatte und Sellier sind zusammen weggegangen. Zu ihnen stieß kein geringerer als Dumoulin.

Dies bedeutet, dass in dem Moment, in dem Monatte von links nach rechts rückte, Dumoulin es für günstig hielt, von rechts nach links zu rücken. Wie ist das zu erklären? Weil Monatte als ein Empirist – und die Zentristen sind immer Empiristen, sonst wären sie keine Zentristen – seine Gefühle über die Stabilisierungsperiode in dem Moment ausgedrückt hat, in dem diese Periode begonnen hat, sich in eine andere, viel weniger ruhige, viel weniger stabile zu verwandeln.

Die Weltkrise hat ein gigantisches Ausmaß angenommen, und im Moment verschärft sie sich noch. Niemand kann voraussagen, wann sie aufhören wird oder welche politischen Konsequenzen sie in ihrem Verlauf bringen wird. Die Situation in Deutschland ist extrem angespannt. Die deutschen Wahlen brachten ernste Störungen hervor, nicht nur in den inneren Verhältnissen, sondern auch in den internationalen Beziehungen. Sie zeigen wieder, auf was für Grundlagen das Gebäude von Versailles ruht. Die ökonomische Krise hat die Grenzen Frankreichs überschwemmt, und wir sehen nach langer Unterbrechung schon die Anfänge von Arbeitslosigkeit. Während der Jahre der relativen Wirtschaftsblüte haben die französischen Arbeiter unter der Politik der vereinten Bürokratie gelitten. Während der Jahre der Krise können sie die Bürokratie an ihre Verrätereien und Verbrechen erinnern. Jouhaux muss sich unwohl fühlen. Er braucht notwendigerweise einen linken Flügel, vielleicht noch notwendiger als Blum. Welchem Zweck dient dann Dumoulin? Offensichtlich darf man nicht denken, dass alles festgelegt ist, wie die Noten beim Piano und alles in einem Gespräch formuliert worden ist. Das ist nicht nötig. All diese Leute kennen sich untereinander, sie wissen, wozu sie fähig sind und kennen besonders die Grenze, bis wohin sie straflos für sich und ihre Bosse nach links gehen können. (Die Tatsache, dass die vereinigte Bürokratie eine wachsame und kritische Haltung gegenüber Dumoulin behält, manchmal sogar mit einer Nuance von Feindlichkeit, macht das oben gesagte in keiner Weise ungültig. Die Reformisten müssen ihre Vorsichtsmaßnahmen treffen und ein Auge auf Dumoulin werfen, damit er sich nicht zu sehr für die Arbeit engagiert, mit der die Reformisten ihn beauftragt haben, und dass er nicht die festgelegte Grenze überschreitet.)

Dumoulin nimmt seinen Platz in den Marschreihen als der linke Flügel von Jouhaux gerade in dem Moment ein, wo Monatte, der sich konstant nach rechts bewegt hatte, sich entschloss, den Rubikon zu überschreiten. Dumoulin muss wenigstens ein wenig seinen Ruf aufbauen – mit Hilfe von Monatte und auf seine Kosten. Jouhaux kann keine Einwände haben, wenn sein eigener Mann, Dumoulin, Monatte kompromittiert. Auf diese Weise ist alles in Ordnung: Monatte hat in dem Moment mit dem linken Lager gebrochen, wo die verbündete Bürokratie die Notwendigkeit spürte, die ungedeckte linke Flanke abzudecken.

Wir analysieren diese persönliche Wendung nicht für Monatte, der einst unser Freund war und gewiss nicht für Dumoulin, den wir schon lange als unversöhnlichen Feind beurteilen. Was uns interessiert, ist die symptomatische Bedeutung dieser personellen Umgruppierungen, die viel tiefer liegende Prozesse in den Arbeitermassen selbst reflektieren.

Diese Radikalisierung, welche diese Schreihälse vor zwei Jahren proklamierten, nähert sich ohne Zweifel heute. Die Wirtschaftskrise hat Frankreich erreicht; mit Verzögerung, das ist wahr; es ist nicht unmöglich, dass die sich in einer milderen Form als in Deutschland entfaltet. Die Erfahrung allein kann das zeigen. Aber es ist unbestreitbar, dass die gelassene Passivität, in der sich die französische Arbeiterklasse in den Jahren der sogenannten „Radikalisierung“ befand, in sehr kurzer Zeit einer wachsenden Aktivität und wachsenden Militanz Platz machen wird. Dieser neuen Periode müssen sich die Revolutionäre zuwenden. Auf der Schwelle zu dieser neuen Periode sammelt Monatte die Müden, Desillusionierten, die Erschöpften und lässt sie ins Lager Jouhauxs übergehen. Um so schlimmer für Monatte, um so besser für die Revolution.

Die Periode, die sich vor uns eröffnet, wird nicht eine Periode des Wachsens der falschen Neutralität der Gewerkschaften sein, sondern im Gegenteil die Periode der Stärkung der kommunistischen Position in der Gewerkschaftsbewegung. Große Aufgaben stellen sich der Linken Opposition. Mit sicheren Erfolgen vor sich – was muss sie tun, um sie zu erringen? Nichts als sich treu bleiben. Aber darüber das nächste Mal.

Prinkipo, 15. Dezember 1930

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